Abessinienkrieg
völkerrechtswidriger Angriffs- und Eroberungskrieg des faschistischen Königreichs Italien gegen das Kaiserreich Äthiopien / aus Wikipedia, der freien encyclopedia
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Der Abessinienkrieg war ein völkerrechtswidriger Angriffs- und Eroberungskrieg des faschistischen Königreichs Italien gegen das Kaiserreich Abessinien (Äthiopien) in Ostafrika. Der am 3. Oktober 1935 begonnene bewaffnete Konflikt war der letzte und größte koloniale Eroberungsfeldzug der Geschichte. Gleichzeitig handelte es sich um den ersten Krieg zwischen souveränen Staaten des Völkerbundes, den ein faschistisches Regime zur Gewinnung neuen „Lebensraums“ (spazio vitale) führte. Damit löste Italien die schwerste internationale Krise seit dem Ende des Ersten Weltkrieges aus.
Abessinienkrieg | |||||||||||||||||
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Teil von: Italienisch-Äthiopische Kriege | |||||||||||||||||
Truppen des faschistischen Italiens in Abessiniens Hauptstadt Addis Abeba | |||||||||||||||||
Datum | 3. Oktober 1935 bis 27. November 1941 | ||||||||||||||||
Ort | Abessinien (Äthiopien) | ||||||||||||||||
Ausgang | Sieg Italiens im regulären Krieg bis 1936/37; Pattsituation im Guerillakrieg bis 1940; Niederlage Italiens im Ostafrikafeldzug bis 1941 | ||||||||||||||||
Folgen | Italienische de jure Annexion Abessiniens | ||||||||||||||||
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Invasion Abessiniens – Weihnachtsoffensive – Ganale Doria – 1. Tembien – Amba Aradam – 2. Tembien – Shire – Mai Ceu – Ogaden – Addis Abeba
Der italienische Überfall startete ohne Kriegserklärung mit einer Zangenoffensive: im Norden von der Kolonie Eritrea aus und im Süden aus Italienisch-Somaliland. Die abessinischen Streitkräfte leisteten erbitterten Widerstand, konnten das Vordringen der zahlenmäßig, technisch und organisatorisch überlegenen italienischen Invasionsarmee aber letzten Endes nicht stoppen. Nach dem Fall der Hauptstadt Addis Abeba erklärte Italien am 9. Mai 1936 den Krieg für beendet und gliederte Abessinien formal in die neugebildete Kolonie Italienisch-Ostafrika ein. Tatsächlich kontrollierten die Italiener zu diesem Zeitpunkt nur ein Drittel des abessinischen Territoriums; Kämpfe mit Resten der kaiserlichen Armee dauerten noch bis zum 19. Februar 1937 an. Anschließend führte der abessinische Widerstand einen Guerillakrieg, der mit dem italienischen Kriegseintritt in den Zweiten Weltkrieg am 10. Juni 1940 in den Ostafrikafeldzug überging und mit dem vollständigen Sieg der alliierten-abessinischen Befreiungstruppen am 27. November 1941 endete.
In der Militärgeschichte markierte der Abessinienkrieg den Durchbruch einer neuen, besonders brutalen Form der Kriegsführung. Italien setzte im großen Stil chemische Massenvernichtungswaffen ein und führte den bis dahin massivsten Luftkrieg der Geschichte. In dessen Rahmen wurden auch gezielt die Zivilbevölkerung sowie Feldlazarette des Roten Kreuzes angegriffen. Im italienischen Besatzungsgebiet errichtete Vizekönig Rodolfo Graziani (1936–1937) eine Terrorherrschaft, während der die Eliten des alten Kaiserreiches von den Faschisten systematisch ermordet wurden. In der Forschung wird in diesem Zusammenhang auch vom „ersten faschistischen Vernichtungskrieg“ gesprochen, der mit der Anfangsphase des späteren deutschen Besatzungsterrors in Polen verglichen wird. Auch nach Grazianis Abberufung ging die italienische Besatzungsmacht weiterhin mit chemischen Kampfstoffen brutal gegen „Rebellen“ vor, außerdem wurde unter Vizekönig Amedeo von Savoyen-Aosta (1937–1941) ein rassistisches Apartheidsystem ausgebaut. Insgesamt kamen infolge der italienischen Invasion von 1935 bis 1941 etwa 330.000 bis 760.000 Abessinier ums Leben, die Verluste der Italiener betrugen etwa 25.000 bis 30.000 Tote. Damit zählt der Abessinienkrieg neben dem Algerienkrieg zu den blutigsten militärischen Konflikten, die jemals in Afrika dokumentiert wurden.
Nach 1945 bemühte sich Äthiopien um ein an die Nürnberger und Tokioter Prozesse angelehntes internationales Tribunal für italienische Kriegsverbrecher, scheiterte damit jedoch nicht nur am Widerstand Italiens, sondern insbesondere an dem der westlichen Alliierten. Somit wurde kein italienischer Täter jemals für in Äthiopien begangene Kriegsverbrechen belangt. Den systematischen Einsatz von Giftgas gestand Italiens Regierung erst 1996 offiziell ein, und 1997 entschuldigte sich Italiens Staatspräsident Oscar Luigi Scalfaro in Äthiopien für das von 1935 bis 1941 verursachte Unrecht. Das heutige Äthiopien gedenkt mit zwei Nationalfeiertagen der faschistischen Fremdherrschaft: dem „Märtyrer-Tag“ am 19. Februar und dem „Befreiungstag“ am 5. Mai.
In der deutschsprachigen Forschung hat sich für den italienischen Überfall auf das äthiopische Kaiserreich ab 1935 die Bezeichnung „Abessinienkrieg“ durchgesetzt, wobei seltener auch vom „Äthiopienkrieg“ gesprochen wird. In der italienischen Literatur wird er als der „Zweite Italienisch-Äthiopische Krieg“ behandelt, wobei als „Erster Italienisch-Äthiopischer Krieg“ der zwischen Italien und Äthiopien ausgetragene Konflikt von 1895/96 gilt.[4] In der englischsprachigen Forschung werden die Bezeichnungen „Ethiopian war“ oder „War in Abyssinia“ verwendet,[5] die bei ins Deutsche übersetzten Werken ebenfalls mit „Äthiopienkrieg“ wiedergegeben werden.[6]
Situation des Kaiserreiches Abessinien
Zur Zeit der italienischen Invasion galt das Kaiserreich Abessinien (Äthiopien) als „ältestes genuin afrikanisches Reich“. Sein altes Kernland in Nordäthiopien hatte sich aus der antiken Hochkultur des Reiches von Aksum entwickelt, dessen Bewohner bereits im 4. Jahrhundert zum Christentum konvertiert waren. Das von Wüsten und Trockensavannen abgeschirmte Hochland Abessiniens wurde politisch und kulturell von zwei staatstragenden Völkern dominiert: den Amharen und den Tigray. Seine heutigen Grenzen erhielt Äthiopien erst im Rahmen einer großangelegten Expansion, die vor allem unter Kaiser Menelik II. (1886–1913) stattfand. Die in seiner langen Regierungszeit erfolgten Eroberungen brachten Menelik II. den Ruf eines „schwarzen Imperialisten“ ein und ließen unzählige Völker und Stämme unter abessinische Herrschaft geraten, bis sich die christlichen Ethnien des nördlichen Hochlandes schließlich als Minderheit im eigenen Staat wiederfanden. Parallel dazu errichtete der Negus Negesti („König der Könige“) den modernen Kaiserstaat mit dem Amharischen als lingua franca, der 1886 gegründeten Hauptstadt Addis Abeba, der „Bank of Ethiopia“ mit einer nationalen Währung und weiteren Reformen.[7]
Im Zeitalter des europäischen Imperialismus geriet auch die historische Eigenentwicklung des großäthiopischen Kaiserreiches in Gefahr. Jedoch gelang es der Armee von Menelik II. in der Schlacht von Adua 1896, den ersten italienischen Eroberungsversuch abzuwehren. Der Sieg über Italien sicherte die Unabhängigkeit des Reiches und sorgte dafür, dass Abessinien als einzigem afrikanischen Staat neben Liberia eine koloniale Fremdherrschaft erspart blieb. Das Schicksal des Landes wurde weiterhin von der amharischen und tigrinischen Oberschicht sowie der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche bestimmt. Die eroberten, überwiegend muslimischen Stämme des Südens und Westens wurden von den christlichen Ethnien des Nordens versklavt, 1914 lebte schätzungsweise ein Drittel der gesamten Bevölkerung als Sklaven.[7] Zusammenfassend gilt das Äthiopien des frühen 20. Jahrhunderts als ein großflächiger Vielvölkerstaat mit feudalähnlicher Gesellschaftsstruktur, als rückständiges Land mit einer schmalen ökonomischen Basis, einem vormodernen Bildungssystem, einem schlechten Verkehrssystem und einer Militärorganisation, die auf einem feudalen Fuß- und Reiteraufgebot fußte. Zudem herrschte ein konfliktreiches Nebeneinander zwischen dem dominierenden Norden und den übrigen Reichsteilen, zwischen der Zentralregierung in Addis Abeba und den Völkern in der Peripherie.[8]
Der seit 1916 als Regent wirkende Ras Tafari Makonnen setzte den Kurs der autoritären Modernisierung fort. Er wirkte nominell unter Kaiserin Zauditu, einer Tochter Meneliks, stieg jedoch während seiner 14-jährigen Regentschaft zum starken Mann der Monarchie auf. Als Vorbild für seine radikalen Reformen diente ihm Japans Weg in die Moderne. Innenpolitisch modernisierte Ras Tafari die Verwaltung, die Regierung und das Bildungssystem, wobei er eine gut ausgebildete Führungselite heranzog. Auch ließ er die Infrastruktur ausbauen und trat ab 1918 entschlossen gegen den Sklavenhandel auf. Im März 1924 hob seine Regierung die Sklaverei offiziell auf. Mit dem Verbot verschwand die Sklaverei in Äthiopien nicht sofort, jedoch entschärfte es ein großes Imageproblem, das dem Ansehen Abessiniens in der Welt bislang schwer geschadet hatte. Außenpolitisch betrieb der fließend Französisch sprechende Regent von Anfang an eine Anlehnung an die Westmächte, die darauf abzielte, Abessinien aus seiner Isolation zu lösen. Belohnt wurde dieser Kurs 1923, als das Kaiserreich als einziges afrikanisches Land voll berechtigt in den Völkerbund aufgenommen wurde und seine Unabhängigkeit endgültig international anerkannt war.[9]
Nach Zauditus Tod 1930 zum neuen Kaiser gekrönt, nahm Ras Tafari den Thronnamen Haile Selassie I. („Macht der Dreifaltigkeit“) an und regierte Abessinien fortan allein. Dabei setzte er alles daran, die kaiserliche Zentralmacht gegenüber den konkurrierenden Provinzgewalten zu stärken. Abgestützt wurde dieser Prozess durch die Verfassung vom 16. Juli 1931. Angelehnt an Japans Konstitution von 1889, handelte es sich um die erste geschriebene Verfassung des Kaiserreichs Abessinien überhaupt. In nie da gewesener Weise stärkte sie das Entscheidungsvorrecht des Kaisers und konzentrierte alle Macht in seinen Händen, womit er nun einem absolutistischen Monarchen glich. Die Thronfolge wurde auf Haile Selassies Familie beschränkt und Abessinien damit in eine Erbmonarchie verwandelt. Die beiden Kammern des neu geschaffenen Parlamentes besaßen keine wirkliche Bedeutung. Zwar stärkte die Verfassung von 1931 die staatliche Einheit, doch das Reich verwandelte sich endgültig in eine Autokratie.[10] In den letzten drei Jahren vor dem italienischen Überfall legte Haile Selassie I. ein besonderes Augenmerk auf den Bau von Telefonleitungen, und 1931 wurde die erste abessinische Radiostation eingerichtet. Gleichzeitig öffnete die Regierung Abessinien für den Weltmarkt und intensivierte die Handelsbeziehungen zum Ausland.[11]
Italienischer Kolonialismus und Faschismus
Mit dem Machtantritt von Benito Mussolinis Faschisten 1922 erhielt der italienische Kolonialismus einen enormen Antrieb. In ihrer als politische Religion praktizierten Agenda forderten die Faschisten einen totalitären Staat und vertraten einen sozialdarwinistisch begründeten Rassismus, einen ausgeprägten Militarismus, eine Verherrlichung des Krieges sowie das Ideal, die Macht und den Ruhm des antiken Römischen Reiches wiederherzustellen. Damit wurde der italienische Angriff auf das äthiopische Kaiserreich nur zu einer Frage der Zeit. Abessinien hatte Italien 1896 in Adua militärisch gedemütigt und stand als Symbol für die permanente Frustration der kolonialen Ambitionen Italiens. Außerdem war Äthiopien noch unabhängig und stand somit für eine Eroberung offen.[12] Dabei sollte die Eroberung Äthiopiens nur einen ersten Schritt in einem weit größeren imperialen Expansionsprogramm darstellen. Das ursprüngliche faschistische Ziel einer italienischen Vormachtstellung im Mittelmeer (mare nostrum) wurde seit den 1930er Jahren zunehmend von einem geplanten „Vorstoß an die Ozeane“ ersetzt.[13]
Die italienischen Faschisten führten bereits in den 1920er Jahren sogenannte „Pazifizierungskriege“ gegen die abtrünnigen Kolonien Tripolitanien und Cyrenaika in Nordafrika (Zweiter Italienisch-Libyscher Krieg) sowie gegen Italienisch-Somaliland in Ostafrika (Kolonialkrieg in Italienisch-Somaliland). Insbesondere der Krieg in Libyen wurde dabei zu einem Testfeld für neue Kriegsmethoden und Waffen sowie zu einer „Schule der Gewalt“. So wurden in Libyen bereits 1923 erstmals chemische Kampfstoffe aus der Luft abgeworfen, außerdem gehörten willkürliche Massenhinrichtungen zu den Repressionsmaßnahmen. Insgesamt fielen dem Kolonialkrieg etwa 100.000 der rund 800.000 Libyer zum Opfer, davon etwa 40.000 in italienischen Konzentrationslagern während des Genozids in der Cyrenaika.[14] Im März 1932, nur wenige Wochen nach Abschluss der Militäroperationen in Libyen, unternahm Kolonialminister Emilio De Bono eine mit Mussolini abgestimmte Reise nach Eritrea, um die dortige Situation für einen künftigen Krieg gegen Abessinien zu erörtern. Trotz seines kritischen Fazits, dass eine „bewaffnete Intervention“ eine lange Vorbereitungszeit erfordern und Unsummen verschlingen würde, gelangte De Bono in den kommenden Wochen nach seiner Rückkehr in Italien zur Ansicht, dass Italien seine „koloniale Zukunft“ in Ostafrika suchen müsse. Im Sommer 1932 beauftragte De Bono den Kommandeur der italienischen Truppen in Eritrea mit der Ausarbeitung einer militärischen Angriffsplanung gegen Abessinien. Im Herbst 1932 verfügte De Bono zum zehnjährigen Jubiläum der faschistischen Machtübernahme über genügend Anschauungsmaterial und strategische Vorstudien, um bei Mussolini grünes Licht für einen umfassenden Militärschlag gegen das Kaiserreich Abessinien zu erwirken.[15]
Kriegsvorbereitungen
Als Siegermacht des Ersten Weltkrieges konnte Italien in den 1920er Jahren die Entwicklung seiner militärischen Schlagkraft ungehindert vorantreiben. Besonders intensivierte Italien, dessen Chemiewaffen-Arsenal sich im Ersten Weltkrieg noch bescheiden ausgenommen hatte, seine Anstrengungen auf diesem Gebiet seit der Machtübertragung an die Faschisten. Am 10. Juli 1923 wurde ein direkt dem Kriegsministerium unterstellter „Chemischer Militärdienst“ (Servizio chimico militare) ins Leben gerufen, der alle, selbst zivile Forschungs- und Entwicklungsprojekte in diesem Bereich kontrollierte und koordinierte. Dieser Organisation gehörten schon bald ein Stab von rund 200 Offizieren und zahlreiche Wissenschaftler an, die in speziellen Forschungsabteilungen arbeiteten. Ganz im Unterschied zur Weimarer Republik, der die Herstellung und Einfuhr von chemischen Kampfstoffen durch den Friedensvertrag von Versailles strikt untersagt war, lief die chemische Aufrüstung Italiens keineswegs im Geheimen ab. Im Mai 1935 nahm Benito Mussolini auf dem Flugplatz Centocelle bei Rom an groß in Szene gesetzten Manövern teil, die ganz im Zeichen der chemischen Kriegsführung standen. Während dieser Übung demonstrierten Spezialstreitkräfte das Werfen von Gashandgranaten, Methoden zur Geländevergiftung, das Überwinden von Senfgas-Sperren durch gasgeschützte Truppen und die Entgiftung von verseuchtem Gelände. Auf dem Feld der chemischen Kampfstoffe hatten die italienischen Streitkräfte innerhalb weniger Jahre einen bemerkenswert hohen Stand erreicht. Mitte der 1930er Jahre galten sie in diesem Bereich weltweit als erstrangige Macht.[16]
Italienische Militärs planten bereits Anfang 1934, entgegen allen von Italien unterzeichneten internationalen Verträgen, den Einsatz von chemischen Kampfstoffen in einem Kriegsfall mit Äthiopien. Ende Dezember 1934 war es Mussolini, der die italienische Armee in einem Memorandum auf einen Giftgaseinsatz vorbereitete. Im April 1935 wurde der Aufbau von insgesamt 18 Depots für chemische Kampfstoffe in den italienischen Kolonien Eritrea und Somalia befohlen. Bereits im Februar hatte der italienische Luftwaffengeneral und Unterstaatssekretär im Luftfahrtministerium Giuseppe Valle (1886–1975) den Befehl erteilt, 250 Flugzeuge für den Abwurf von Giftgasbomben einsatzbereit zu machen. Im Sommer 1935 begann der Aufbau einer chemischen Kampfmitteltruppe für Ostafrika. Insgesamt wurden über 1700 Mann des Servizio chimico militare unter dem Kommando von General Aurelio Ricchetti für den Abessinienkrieg mobil gemacht.[17][18]
In den 1930er Jahren leitete auch Abessinien Schritte zu einer Modernisierung des Heeres ein, das hinsichtlich Organisation und Bewaffnung mehr oder weniger auf dem Stand der Schlacht von Adua stehengeblieben war. Zur Hauptsache bestand es aus einem dezentral organisierten, von Provinzfürsten befehligten Reiter- und Fußaufgebot. Es setzte sich aus traditionell bewaffneten Kriegern zusammen, die wenig mit den modern ausgerüsteten Soldaten europäischer Landstreitkräfte gemein hatten. Daneben existierte als Kern eines stehenden Heeres eine Kaiserliche Garde von einigen Tausend Mann, die einzige gut ausgebildete und einigermaßen modern bewaffnete Einheit. Um die Ausbildung der Truppen zu professionalisieren, wurden belgische Instruktoren ins Land geholt und 1934 eine Militärakademie für Offiziersanwärter gegründet. Freilich besaß Abessinien keine eigenen Produktionsstätten für modernes Kriegsgerät. Deshalb erwarb die kaiserliche Regierung auf dem internationalen Waffenmarkt Gewehre, Maschinengewehre, Flugabwehrkanonen, Munition und einige veraltete Kampfflugzeuge. Trotzdem konnte von einer forcierten Aufrüstung nicht die Rede sein. Dafür waren die materiellen Ressourcen des Landes viel zu schmal.[19]
Von Juli 1934 bis September 1935 traf das faschistische Italien diplomatische und ökonomische Vorbereitungen für den Krieg. Mussolini versuchte, die Zustimmung Großbritanniens und Frankreichs zu bekommen, und profitierte von jedem kleinen Grenzzwischenfall, um in Italien ein Klima nationalistischer Erregung herzustellen und mehr Soldaten zu mobilisieren. Die Wirtschaft wurde im Hinblick auf den Krieg durch eine Reihe von Maßnahmen neu organisiert: Am 31. Juli 1935 wurden strategisch wichtige Rohstoffe wie Kohle, Kupfer, Zinn und Nickel staatlich monopolisiert. Es wurde das „Allgemeine Kommissariat für die Kriegsproduktion“ eingerichtet, in dessen Zuständigkeit nun 876 Fabriken und 580.000 italienische Arbeiter fielen.[20] Am 6. Juli 1935 erklärte Mussolini gegenüber seinen Soldaten in der Stadt Eboli: „Wir pfeifen auf alle Neger der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft und deren eventuelle Verteidiger. Es wird nicht mehr lange dauern, und die fünf Erdteile werden das Haupt vor dem faschistischen Willen beugen müssen.“[21] Und am 31. Juli, knapp zwei Monate vor dem Überfall auf Abessinien, begründete Mussolini in der Parteizeitung Il Popolo d’Italia den geplanten Krieg gegen das ostafrikanische Kaiserreich unter anderem mit der Notwendigkeit, „Lebensraum“ für das italienische Volk zu gewinnen.[22]
1935 zählte die äthiopische Armee etwa 200.000 Mann, einige hundert Maschinengewehre, wenige Artilleriegeschütze und eine Handvoll Flugzeuge. Auf italienischer Seite unterstanden dem Kolonialminister und Obersten Befehlshaber, General Emilio De Bono, im Herbst 1935 insgesamt 170.000 italienische Soldaten, 65.000 afrikanische Kolonialtruppen (Askaris) und an die 38.000 Arbeiter. Unter seinem Nachfolger, Marschall Pietro Badoglio, kämpften und arbeiteten im März 1936 rund 330.000 italienische Soldaten, 87.000 Askaris und an die 100.000 italienische Arbeiter. Die logistischen Mittel umfassten 90.000 Lasttiere und 14.000 motorisierte Fahrzeuge verschiedener Kategorien vom Personenwagen bis zum Lastkraftwagen. Die Invasionsarmee des faschistischen Italien erhielt außerdem über den Seetransport 250 Panzer, 350 Flugzeuge und 1.100 Artilleriegeschütze. Der tägliche italienische Benzinverbrauch übertraf den gesamten Treibstoffverbrauch Italiens im Ersten Weltkrieg. Die italienische Kriegsmarine, die hauptsächlich für den Transport von Menschen und Bau- sowie Kriegsmaterial verantwortlich war, beförderte während des Krieges etwa 900.000 Menschen und mehrere Hunderttausend Tonnen Material.[23]
Italienischer Vormarsch und Stellungskrieg
Ohne eine Kriegserklärung abzugeben, passierten die italienischen Verbände in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1935 den Fluss Mareb, der den Grenzverlauf zwischen Eritrea und Abessinien markierte. Ebenfalls am 3. Oktober begann die italienische Luftwaffe mit der Bombardierung der Operationsziele Adigrat und Adua. Kaiser Haile Selassie, der sich in der Hauptstadt Addis Abeba befand, hatte noch versucht, durch den Rückzug der Armee um 30 Kilometer eine Pufferzone zu schaffen, um eine militärische Eskalation zu vermeiden. Doch nach der Überschreitung der Grenze proklamierte der Negus seinerseits offiziell die Generalmobilmachung im Reich. Die drei italienischen Armeekorps zu je 30.000 Mann setzten sich zur gleichen Zeit in Bewegung, aber von verschiedenen Ausgangspunkten aus. Während das I. Armeekorps unter General Ruggero Santini vom eritreischen Senafe nach Adigrat vorrückte, zog das II. von General Alessandro Pirzio Biroli befehligte Armeekorps nach Adua und das eritreische Armeekorps von General Pietro Maravigna, das aus Askaris und italienischen Schwarzhemden zusammengesetzt war, bewegte sich in Richtung Inticho (Enticciò).[24]
Auf abessinischer Seite übertrug Kaiser Haile Selassie das Oberkommando der Nordtruppen an Ras Kassa, einen der wichtigsten Würdenträger des Reiches. Unter dessen Oberbefehl fochten die Einheiten der Rase Immirù, Sejum und Mulughieta einen vorerst erfolglosen Abwehrkampf. Fast ungehindert durch die zuvor größtenteils zurückgezogenen abessinischen Kräfte, gelangen den Italienern in den ersten Tagen Erfolge von hoher Symbolkraft. Am 5. Oktober hissten Truppen von General Santini die italienische Trikolore auf dem Fort von Adigrat, das nach der Niederlage im Ersten Italienisch-Äthiopischen Krieg 1896 aufgegeben worden war. Am 6. Oktober wurde Adua eingenommen, dessen Eroberung eines der wichtigsten Ziele der italienischen Offensive darstellte. Eine Woche später fiel Axum, die Wiege der abessinischen Kultur.[25] Die erste Phase des Krieges wurde im Norden unter De Bono am 8. November 1935 mit der Einnahme der Ortschaft Mekelle (Macallè) abgeschlossen. Dieser Schritt war in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Mit Mekelle war der Regierungssitz von Ost-Tigrè erobert worden, außerdem führten wichtige Karawanenverbindungen aus Dessiè und vom Asciangi-See ins Städtchen.[26]
- Alte Bildaufnahme des Amba Alagi Berges
- Abessinisches Gebirge in West-Tigray
Im Verhältnis zu den verfügbaren Kräften von 110.000 Mann hatte De Bono auf der Nordfront mit drei weit auseinander liegenden Angriffskeilen eine ziemlich ausgedehnte Frontlinie eröffnet. Nach den großen Geländegewinnen der ersten Kriegswochen sah er die vordringlichste Aufgabe darin, die eroberten Stellungen zu befestigen, die Verbindungen zwischen den Angriffskeilen zu sichern, Widerstandsnester auszulöschen und den Nachschub heranzuführen. Aus der Befürchtung heraus, durch einen weiteren Vormarsch gefährliche Umgehungsangriffe in den Rücken der eigenen Verbände zu provozieren, verlangsamte er Anfang November das Tempo des Angriffs und stoppte ihn Mitte November bei Mekelle ganz. Diese militärisch überlegte Vorgehensweise erregte den Unwillen Mussolinis, der sie als eigenmächtiges und unautorisiertes Abrücken von der Strategie des Offensivkrieges wertete. Am 11. November ordnete der Diktator an, De Bonos Einheiten sollten weitere 50 Kilometer bis zu dem Berg Amba Alagi vorrücken, also die Front auf insgesamt 500 Kilometer ausdehnen. Der alte General, der eine weitere Verlängerung der Operationslinie für einen militärischen „Fehler“ hielt, sträubte sich. Zwar gab Mussolini seinem faschistischen Weggefährten schließlich inhaltlich recht und hieß den vorläufigen Stillstand auf der Linie von Mekelle gut, De Bonos widersetzendes Auftreten hielt Mussolini aber für inakzeptabel, und deshalb ersetzte er ihn – noch zum Marschall befördert – am 14. November durch den amtierenden Generalstabschef Pietro Badoglio.[27]
Die zweite Phase des Krieges währte von Mitte November bis Mitte Dezember 1935. Sie stand ganz im Zeichen eines Stellungskrieges. Dem neuen Oberbefehlshaber Badoglio war seine Ernennung am 15. November im Palazzo Venezia mitgeteilt worden. Begleitet von seinen beiden Söhnen, die als Piloten der Luftwaffe dienten, traf Badoglio vom Hafen in Neapel aus am 26. November in Massaua ein. Von dort aus begab er sich nach Adigrat, wo sich der Sitz des italienischen Oberkommandos befand. Nach einer Inspektionsreise, die er zu Beginn der Feindseligkeiten auf dem Kriegsschauplatz unternommen hatte, war der Generalstabschef bereits über die Lage in Ostafrika im Bilde. Er schätzte sie nicht viel anders ein als sein Vorgänger. Vorerst ordnete auch er keine neuen Offensiven an. Nachdem die ersten Kriegswochen das Invasionsheer an der Nordfront 200 Kilometer in feindliches Gebiet geführt hatten und der Aufmarsch der abessinischen Armee inzwischen abgeschlossen war, setzte Pietro Badoglio alles daran, die eroberten Gebiete gegen alle Eventualitäten zu sichern und die vorgeschobene Operationslinie bei Mekelle zu halten. Die kämpfende Truppe sollte nicht länger in der Luft schweben, begründete er seine Maßnahmen gegenüber dem Diktator.[28]
Im Rahmen des Zweifrontenkrieges fiel den an der Südfront agierenden Verbänden in den Operationsplänen währenddessen die Aufgabe zu, feindliche Kräfte zu binden und damit die Erfolgschancen für den Hauptstoß im Norden zu verbessern. Dennoch setzte der im Wüstenkrieg erfahrene General Rodolfo Graziani von Beginn an alles auf die Offensive. Der ehrgeizige Offizier wollte sich nicht tatenlos damit abfinden, dass er als Kommandeur eines Nebenkriegsschauplatzes ausersehen worden war. Deshalb griffen seine Verbände auf der ganzen Frontbreite von 1.100 Kilometern an. Schon in den ersten Tagen besetzten sie Dolo und Oddo. Am 5. November wurde Gorrahei eingenommen. Dann trafen sie auf den Widerstand der abessinischen Südarmee. Unterstützt von starken Regenfällen, die die Erdstraßen aufweichten und für schweres Kriegsgerät unpassierbar machten, gelang es den Truppen von Ras Desta Damtù und Degiac Nasibù, den Vormarsch der feindlichen Verbände in das wüstenhafte Hochland des Ogaden zu stoppen.[29]
Abessinische Weihnachtsoffensive und Badoglios „Entgrenzte Kriegsgewalt“
Badoglio hatte den Oberbefehl von De Bono in einer strategisch schwierigen Lage übernommen. Seine Streitkräfte waren in zwei Teile aufgespalten, einen bei Adua und einen bei Mekelle. Obwohl nur 100 Kilometer voneinander entfernt, gab es keine direkte Kommunikation zwischen den beiden Truppenteilen. Die Einheiten bei Adua mussten über zwei Saumpfade versorgt werden, die von den Äthiopiern abgeschnitten werden konnten, und die Flanken der Truppen bei Mekelle waren weit offen. Während sich Badoglio nun auf die Flankensicherung konzentrierte, ließ er das Zentrum von nur vier Schwarzhemden-Divisionen bewacht. In dieser Situation begann Mitte Dezember die dritte Kriegsphase, die bis weit in den Januar 1936 hinein dauerte. Inmitten des Stellungskrieges, der auf italienischer Seite der Vorbereitung einer kriegsentscheidenden Großoffensive diente, gingen Truppen des kaiserlichen Nordheeres unter dem Kommando von Ras Kassa unerwartet zu Entlastungsangriffen über. Im Zentrum wurden die Schwarzhemden zurückgedrängt, und Badoglio musste zusätzliche eritreische Einheiten zur Verstärkung heranziehen.[30]
Die italienischen Streitkräfte mussten einige ihrer Vorposten räumen, von ihnen kontrollierte Pässe aufgeben und sich aus bereits besetzten Ortschaften wieder zurückziehen. Besonders die von Ras Immirù befehligten Verbände stießen mit bis zu 40.000 abessinischen Soldaten an der rechten Flanke der Italiener weit in bereits verloren geglaubtes Gelände in der Provinz Tigray vor und kamen bis in die Nähe von Axum. Die Division „Gran Sasso“ musste sich bis nach Axum zurückziehen, während den Einheiten von Ras Immirù bei Dembeguinà sogar ein kleiner Sieg in einer Feldschlacht gelang. Immer stärker zeigte sich, dass die Italiener die Operationslinien bei ihrem schnellen Vormarsch überdehnt hatten und sie das rückwärtige Heeresgebiet noch keineswegs kontrollierten. Mit dem Einsetzen der abessinischen Gegenoffensive verstärkte sich auch die Partisanentätigkeit hinter den italienischen Linien. Überall drohten Hinterhalte. Am rechten Frontabschnitt wussten die italienischen Soldaten oft nicht, aus welcher Richtung die Abessinier angreifen würden. Diese konnten zeitweise beachtliche Erfolge erzielen und brachten die Invasoren an verschiedenen Frontabschnitten in arge Bedrängnis, was bei den Invasoren Erinnerungen an die Niederlage von Adua weckte.[30]
In dieser entscheidenden Phase kam es zur „Entgrenzung der Krieges“. Um den äthiopischen Vormarsch zu stoppen, entschied sich Oberbefehlshaber Pietro Badoglio für einen chemischen Krieg großen Stils. Als Einheiten von Ras Immirù gerade dabei waren, den Takazze-Fluss zu überqueren, warfen am 22. Dezember Kampfflugzeuge erstmals Yperit-Bomben über menschliche Ziele ab. Dieser Einsatz war ohne offizielle Ermächtigung aus Rom erfolgt. Erst am 28. Dezember autorisierte Mussolini Badoglio offiziell dazu, den Abwurf von Giftgas jeder Art „auch im großen Umfang“ (anche su larga scala) anzuordnen. Bereits einige Tage zuvor hatte der Diktator General Rodolfo Graziani an der Südfront zum Einsatz von stark toxischen Substanzen ermächtigt. Dort flogen am 24. Dezember drei Caproni-Bomber den ersten Giftgasangriff. Bombardiert wurde eine vielköpfige, bei der Ortschaft Areri weidende Vieh- und Kamelherde. Von nun an wurde die chemische Massenvernichtungswaffe in die meisten italienischen Operationen integriert. Bis zum Fall von Addis Abeba kam es an beiden Fronten zu einem massiven und systematischen Einsatz von Giftgas. Obwohl sie den Konflikt letztlich nicht entschieden, leiteten die Yperit-Angriffe der Luftwaffe die Kriegswende ein. Sie brachten die abessinische Weihnachtsoffensive zum Stehen und halfen mit, den Weg in Richtung Süden freizubombardieren.[31]
Nachdem die abessinische Weihnachtsoffensive mit brutalsten Mitteln gestoppt worden war, begann Mitte Januar 1936 die vierte Phase des Krieges; sie dauerte bis zur Einnahme von Addis Abeba am 5. Mai. Eine stark brutalisierte Kriegsführung, zu der neben dem Ausbringen von chemischen Kampfstoffen auch das Abbrennen ganzer Landstriche, das Niedermetzeln der Viehherden und zahlreiche Massaker gehörten, prägte den Konflikt nun.[32] Nachdem er seinen Nachschub gesichert und von Mussolini drei zusätzliche Divisionen erhalten hatte, war Badoglio bereit für seine Offensive. Ihm gegenüber standen drei äthiopische Armeen. Auf der rechten Flanke bei Adua stand Ras Immirù mit 40.000 Mann, im Zentrum Ras Kassa und Ras Sejum mit 30.000 Mann und auf der linken Flanke Ras Mulughieta mit 80.000 Mann.[33] Zwischen Januar und Mai 1936 kam es zu massiven Zusammenstößen zwischen den Kriegsgegnern. An der Nordfront fanden die Erste Tembienschlacht, die Schlacht von Endertà (Inderta), die Zweite Tembienschlacht, die Schlacht bei Scirè und der Entscheidungskampf am Asciangi-See bei Mai Ceu (Maychew) statt. Bei letzterem wurde die Kaiserliche Garde aufgerieben.[34]
Obwohl der Krieg an der Nordfront entschieden wurde, kam es auch im Süden und Südosten zu schweren Kämpfen. Anders als bei den abessinischen Befehlshabern im Norden, die zur traditionellen Führungsschicht des Kaiserreiches gehörten, standen General Graziani hier Kommandeure der jüngeren Generation gegenüber: Ras Desta Damtu im Süden und Dejazmach Nasibu Za-Emanuel als Gouverneur von Harrar im Südosten. Nach der Einnahme Neghellis starteten Grazianis italienische Truppen die große Offensive im Ogaden-Gebiet und eroberten die Stadt Harrar. In allen diesen Schlachten und Manövern bewährte sich auf italienischer Seite ein Zusammenspiel der Luftwaffe mit den motorisierten Bodentruppen und der leichten Infanterie. Die Italiener profitierten zudem von der relativ guten Organisation und Logistik. Der Nachschub erfolgte zu großen Teilen über die ausgebesserten und in Tag- und Nachtarbeit eilig erstellten Verbindungswege sowie über Luftbrücken.[35]
Völkerbund und internationale Reaktionen
Der Abessinienkrieg löste die schwerste internationale Krise seit Ende des Ersten Weltkrieges aus und stellte den Völkerbund vor die größte Bewährungsprobe seit seiner Gründung. In dem militärischen Konflikt standen sich zwei Mitgliedsstaaten gegenüber. Zum ersten Mal seit der japanischen Besetzung der Mandschurei 1931 sah sich der Völkerbund mit einem Rechtsbrecher konfrontiert, der sich über die Prinzipien der „zivilisierten Welt“ hinwegsetzte und das System kollektiver Sicherheit von Grund auf in Frage stellte. Nach Artikel 16 seiner Satzung bildete die Aggression einen Kriegsakt gegen die Völkergemeinschaft als Ganzes. Die äthiopische Regierung ließ nichts unversucht, um die italienischen Gewaltakte beim Völkerbund anzuzeigen und durch ihn verurteilen zu lassen. Dieses Vorgehen stellte für das militärisch unterlegene Land die einzig aussichtsreiche Strategie dar. Bereits wenige Wochen nach Ual-Ual bat Äthiopien den Völkerbund um Vermittlung und bemühte sich mehrere Monate lang um eine gewaltfreie Beilegung des Konflikts, an der Italien jedoch nie wirkliches Interesse zeigte.[36]
Schon am 7. Oktober 1935 verurteilte die Völkerbundversammlung Italien als Aggressor und wies dem Land dadurch die Schuld am Ausbruch der Feindseligkeiten zu. Ein paar Tage später verhängte sie mit 50 Stimmen bei drei Enthaltungen, die von Italiens Nachbarstaaten Österreich, Ungarn und Albanien abgegeben wurden, auch Wirtschafts- und Finanzsanktionen. Sie traten am 18. November in Kraft, fielen allerdings gemessen an den möglichen Strafmaßnahmen so milde aus, dass sie Italien in seiner Kriegsführung nicht behinderten. Weder das Embargo auf Waffen, Munition und Kriegsgerät noch die Kreditsperre hatte eine starke Wirkung, und vom Handelsembargo waren ausgerechnet kriegswichtige Güter wie Öl, Eisen, Stahl und Kohle ausgenommen. Zudem konnte Italien alle benötigten Rohstoffe und Güter leicht bei Staaten erwerben, die nicht dem Völkerbund angehörten. Eine Sperrung des Suezkanals für italienische Kriegsschiffe oder eine Militärintervention zog in Genf niemand ernsthaft in Betracht.[37]
Während der gesamten Dauer der Feindseligkeiten kam es zu mehreren Initiativen Abessiniens vor dem Völkerbund. In seinem Telegramm vom 30. Dezember 1935 protestierte Kaiser Haile Selassie I. erstmals scharf gegen die italienischen Giftgaseinsätze. Der Kaiser brandmarkte sie als „inhumanes Vorgehen“ und erhob die Beschuldigung, dass diese im Verein mit anderen Kriegsverbrechen auf die „systematische Vernichtung der Zivilbevölkerung“ zielten. Damit war der Ton vorgegeben, den fast alle diplomatischen Interventionen der kaiserlichen Regierung wie einen roten Faden durchzogen. Am Genfer Sitz des Völkerbundes brachte die abessinische Regierung über Wochen zwei konkrete Forderungen: Erstens bat sie um finanzielle Unterstützung, um auf dem Weltmarkt Waffen und Rüstungsgüter kaufen zu können. Zweitens forderte sie eine Ausdehnung der Sanktionen auf kriegswichtige Güter wie Öl, Eisen und Stahl.[38]
In scharfem Kontrast zur Position der britischen und französischen Demokratien stand die Position des nationalsozialistischen Deutschland. Hitler hatte eine mit dem faschistischen Italien verwandte Ideologie übernommen. Mussolini war jedoch nicht bereit, eine deutsche Annexion Österreichs zu tolerieren, welche NS-Deutschland zum direkten Nachbarn Italiens am Brennerpass gemacht hätte. Der deutsche Diktator, der zur Expansion nach Österreich entschlossen war, kam zur Schlussfolgerung, dass Mussolini, sollte er in Abessinien siegreich sein, in einer ausreichend starken Position wäre, um Deutschlands Ambitionen entgegenzutreten. Solange seine Armee aber in einen afrikanischen Krieg verwickelt war, wäre er dazu nicht in der Lage. Hitler war daher bedacht darauf, den abessinischen Widerstand zu stärken, und antwortete deshalb wohlwollend auf Hilfsanfragen Abessiniens an die Deutschen. Damit war das Deutsche Reich praktisch das einzige Land, das Abessinien unterstützte. Ohne Wissen Mussolinis wurde Haile Selassies Armee von deutscher Seite mit drei Flugzeugen, über sechzig Kanonen, 10.000 Mausergewehren und 10 Millionen Patronen versorgt.[39]
Die Ausrufung des italienischen Imperiums am 9. Mai 1936, mit der der italienische König Viktor Emanuel III. den Titel „Kaiser von Abessinien“ annahm, stellte eine diplomatische Zweckmäßigkeit dar, um vor der Welt die de jure Eroberung Abessiniens zu verkünden. Tatsächlich kontrollierten die Italiener zu diesem Zeitpunkt nur ein Drittel des abessinischen Territoriums, das aber die meisten großen Städte und einige wichtige Verkehrsachsen umfasste. Weiterhin standen riesige Gebiete in Zentral-, West- und Südäthiopien ganz unter abessinischer Kontrolle. Die in diesen Zonen verbliebenen abessinischen Truppen ergaben sich nicht, und auch die dortige Bevölkerung erkannte die Autorität der Besatzungsmacht nicht an. In den folgenden fünf Jahren bemühte sich Italien um eine Eroberung der restlichen Gebiete, in denen durchgehend etwa 25.000 Widerstandskämpfer unter Waffen standen. Weite Teile Nord- und Nordwest-Abessiniens entzogen sich jedoch dauerhaft der italienischen Kontrolle. Zur Eroberung und Kontrolle der abessinischen Gebiete standen Italien in den Jahren 1936, 1937 und 1938/39 jeweils 446.000, 237.000 bzw. 280.000 Soldaten zur Verfügung.[40] Der äthiopische Widerstand nach Mai 1936, dessen Anhänger sich selbst „Patrioten“ (amharisch arbagnoch) nannten, lässt sich in zwei Phasen unterteilen: Die erste dauerte bis Februar 1937 und war im Wesentlichen eine Fortsetzung des Krieges. Dominierend waren dabei einige hohe Heerführer der kaiserlichen Armee, nämlich Ras Immirù, Ras Desta Damtù und die Gebrüder Kassa, die drei Söhne des ehemaligen Oberbefehlshabers an der Nordfront. Die anschließende zweite Phase war durch einen Übergang der Widerstandsbewegung zum Guerillakrieg geprägt, der meistens von Angehörigen des niederen abessinischen Adels angeführt wurde.[41]
Fortsetzung des regulären Krieges (1936–1937)
Nachdem Haile Selassie I. ins britische Exil geflohen war, wurde in der westäthiopischen Stadt Gore eine abessinische Gegenregierung gebildet. Diese stand in loser Verbindung mit dem Kaiser und hatte vor allem zwei Aufgaben: Einerseits sollte sie eine politische Gegeninstanz schaffen, welche die italienische Besatzungsherrschaft delegitimieren würde. Andererseits wurde sie mit der Organisation und Koordination des weitergehenden abessinischen Widerstand betraut. Offiziell geleitet wurde die Regierung in Gore von Bitwoded Wolde Tzadek. Die wichtigste Autoritätsperson war jedoch Ras Immiru, der als der fähigste General der abessinischen Armee galt, und den Kaiser Haile Selassie noch vor seinem Gang ins Exil zu seinem Vizekönig in Abessinien ernannt hatte. Der Ras wurde in Gore insbesondere von der Black Lions Organisation unterstützt – einer sich aus Militärs und zivilen Intellektuellen zusammensetzenden Widerstandsgruppe. Die Aktionen der „Patrioten“ verrieten ein beträchtliches Maß an Effizienz, ungeachtet der Tatsache, dass eine zentrale Koordinierung nie gelang.[42]
Schon am 12. Mai, während Badoglio die Siegesparade in Addis Abeba abhielt, wurde eine Lastwagen-Kolonne der italienischen Luftwaffe von „Patrioten“ angegriffen und fast völlig zerstört. Zwei Tage später erfolgte eine ähnliche Aktion des Widerstands. Badoglio reagierte darauf mit der Entsendung von sechs eritreischen Bataillonen ins ländliche Umland der Hauptstadt, um „Vergeltungsmaßnahmen“ durchzuführen. Militäroperationen dieser Art wurden von Mussolini unterstützt, der Badoglio im Bezug auf die Vergeltungspolitik erklärte, dass „wir durch Exzess und nicht durch Mangel sündigen müssen“.[43] Im Juni 1936 erhielt Graziani als neuer Vizekönig von Mussolini die Order, mit einem Schlag Südwest-Äthiopien zu besetzen, um die Anerkennung des italienischen Imperiums zu beschleunigen. Das von den Italienern als „Gouvernement Galla-Sidama“ bezeichnete Territorium war das landwirtschaftlich fruchtbarste Gebiet und verfügte über bedeutende Bodenschätze. Darüber hinaus war Großbritannien am Erhalt einer Einflusszone in dieser Region interessiert.[44] Graziani stellte sich aufgrund mangelnder Truppen und der einsetzenden Regenzeit jedoch gegen eine schnelle Offensive. Er argumentierte, dass schon Addis Abeba nicht genug Truppen zur eigenen Verteidigung habe, und wegen der vom Regen beeinträchtigten Straßen sei auch die eintreffende Verstärkung nicht schnell genug vor Ort. Die Offensive gegen Südwest-Abessinien wurde daher auf Oktober nach dem Ende der Regenzeit verschoben.[45]
Von Seiten des abessinischen Widerstands erfolgten mehrere ambitionierte Versuche, um Addis Abeba während der Regenzeit 1936 zurückzuerobern. Dadurch sollte der italienische Vormarsch nach Westäthiopien aufgehalten und die Regierung von Gore gestärkt werden. Den ersten Versuch unternahmen Ras Immiru und Wolde Tzadek, die im Juni aus den Städten Ambo bzw. Waliso auf die Hauptstadt vorrückten. Das Unternehmen scheiterte jedoch am Widerstand der lokalen Oromo-Bevölkerung, die den abessinischen Truppen den Durchmarsch verweigerte. Aufgrund der vorausgegangenen Unterdrückung im Kaiserreich waren die Oromo der Gore-Regierung gegenüber feindlich gesinnt. Ras Immiru musste sich mit seinen Soldaten nach Südwest-Äthiopien zurückziehen, wo er sich schließlich in Kaffa den Italienern ergab und nach Italien verschleppt wurde. Am 28. und 29. Juli 1936 erfolgte der zweite abessinische Angriff auf Addis Abeba, diesmal aus dem Nordwesten: Die beiden Kassa Brüder Aberra (Abarra) und Asfa Wassen, die Söhne Ras Kassas, die in ihrem Hauptquartier in der Stadt Fiche über 10.000 Soldaten verfügten, belagerten mit etwa 5.000 „Patrioten“ die Hauptstadt. Ihre Einheiten drangen bis ins Stadtzentrum vor, wo sie auf heftige Gegenwehr der verschanzten Besatzer stießen, und schließlich mit Hilfe der italienischen Luftwaffe zurückgedrängt wurden. Einen Monat später leitete am 26. August ein anderer abessinischer Kommandeur, Dejazmach Balcha, die dritte erfolglose Offensive aus dem Südwesten. Doch der Kampf um Addis Abeba hatte sichtbar gemacht, wie ungesichert die italienische Herrschaft nach wie vor war.[46]
Um Überfälle dieser Art künftig zu verunmöglichen, ließ Vizekönig Graziani 1937 einen durch Maschinengewehrnester gesicherten Stacheldrahtzaun um die Hauptstadt ziehen, dessen Tore aus Sicherheitsgründen nur tagsüber geöffnet wurden.[47] Nach dem Scheitern einer direkten Einnahme Addis Abebas versuchten die „Patrioten“, die Hauptstadt vom Nachschub über die Eisenbahnlinie nach Dschibuti abzuschneiden. Diese stellte während der Regenzeit die einzige und somit lebenswichtige Versorgungsroute dar. Unter Dejazmach Fikre Mariam griffen 2.000 abessinische Kämpfer mit automatischen Schusswaffen die Eisenbahnstrecke an. Die gewagteste derartige Aktion des Widerstands erfolgte am 11. Oktober 1936, als ein gepanzerter Zug mit Kolonialminister Alessandro Lessona trotz strengster Geheimhaltung bei der Ortschaft Akaki einen halben Tag lang von „Patrioten“ unter Beschuss genommen wurde. Die Italiener setzten zur Sicherung der Versorgungslinie Panzer und über hundert Flugzeuge ein, außerdem wurden entlang der gesamten Eisenbahnstrecke alle 50 Meter Wachen aufgestellt. Dies verdeutlichte erneut, dass die italienische Besatzungsmacht Abessinien nicht unter Kontrolle hatte.[48]
Unterdessen hatte Graziani mit den als „große koloniale Polizeioperationen“ bezeichneten Offensiven gegen die verbliebenen abessinischen Heerführer begonnen. Dabei kamen erneut massive Bombardements aus der Luft sowie Giftgas zum Einsatz. Zunächst richteten sich die Italiener gegen die drei Kassa Brüder in der zentraläthiopischen Region Shewa: Wonde Wassen Kassa war am 6. September 1936 mit 1.500 bewaffneten Kriegern aus der Stadt Lalibela aufgebrochen, um sich in der Stadt Fiche mit seinen beiden Brüdern gegen die Italiener zu vereinen. Seine Einheit wurde aber von italienischen Truppen abgefangen, und am 11. Dezember 1936 wurde Wonde Wassen Kassa hingerichtet.[49] Seinen beiden Brüdern, Aberra und Asfa Wassen, wurde im Falle der Kapitulation die Begnadigung versprochen. Sie wurden jedoch von General Tracchia, der Fiche mit 14.000 Soldaten besetzte, festgenommen und am 21. Dezember 1936 hingerichtet.[50] Nach den Militäroperationen gegen die „Patrioten“ in der Shewa-Region richtete sich Grazianis Fokus auf Ras Desta Damtu, der mit einer Armee von über 10.000 Mann die italienische Eroberung Südäthiopiens verzögerte. Nach einem ausgelaufenen Ultimatum griffen die Italiener am 18. Januar 1937 Desta Damtus Einheiten mit drei Militärkolonnen und über 50 Flugzeugen in der Region Arbegona (Arbagoma) an. Dabei bekamen sowohl Luftwaffe als auch Bodentruppen freie Hand zur vollständigen Vernichtung der abessinischen Armee. Bei der Schlacht von Jebano am 2. Februar erlitten die Abessinier schwere Verluste und Desta Damtu verlor einen seiner Generäle.[51] Von 18. bis 19. Februar 1937 fand schließlich bei der Stadt Goggeti (Gojetti) die letzte offene Feldschlacht des Krieges statt. Die äthiopischen Einheiten wurden dabei von den Italienern aufgerieben. Ras Desta Damtu selbst konnte noch fliehen, wurde aber am 24. Februar von einer mit den Italienern kollaborierenden Einheit festgenommen und anschließend erschossen.[52]
Guerillakrieg in Italienisch-Ostafrika (1937–1940)
Mit dem Tod Ras Desta Damtus hatten die Italiener bis Frühjahr 1937 alle großen abessinischen Militärführer beseitigt. Außerdem hatten sie in der Zwischenzeit auch die Stadt Gore eingenommen und die provisorische abessinische Regierung vertrieben. Die Aussicht auf eine Kontrolle Abessiniens wurde jedoch mit der zur gleichen Zeit losgetretenen Terrorwelle der Faschisten beim Pogrom von Addis Abeba zunichtegemacht.[53] Am 19. Februar 1937 führten zwei junge Angehörige des abessinischen Widerstands in Addis Abeba ein Attentatsversuch auf Vizekönig Graziani durch. Nach dessen Fehlschlag reagierte die italienische Besatzungsmacht, und dabei insbesondere die faschistische Parteimiliz der Schwarzhemden, mit tagelangen Massenmorden gegen die schwarze Bevölkerung der Hauptstadt. Diesem italienischen Gewaltakt folgte einerseits eine von Februar bis Juli 1937 andauernde Terrorkampagne der Italiener gegen die Volksgruppe der Amharen. Andererseits leitete das Pogrom den Übergang zur zweiten Phase des abessinischen Widerstands ein: den Guerillakrieg mit Schwerpunkt auf das Gouvernement Amhara.[54] Die Volksgruppen in den anderen Landesteilen akzeptierten überwiegend das neue Regime Italiens, mit welchem sie die amharische Vorherrschaft abschütteln konnten. Insbesondere die Muslime begrüßten das Ende der christlichen Dominanz des äthiopischen Kaiserreiches. Nur die Volksgruppe der Oromo im südlichen Government Galla-Sidama lehnten sowohl das Kaiserreich als auch die italienische Besatzungsherrschaft ab.[55]
Die Sicherheitslage war 1937 derart angespannt, dass Vizekönig Graziani aus militärischer Notwendigkeit nicht in den von Rom gewünschten schnellen und massiven Truppenrückzug einwilligen konnte. Seit 15. August 1937 wurden italienische Truppen in den amharischen Regionen Gojjam und Begemeder von „Patrioten“ angegriffen, belagert, zerstört oder gefangen genommen. Die bekanntesten Guerillachefs waren Abebe Aregai, Haile Mariam Mammo, Dejazmach Tashoma Shankut und Fitawrari Auraris. Mit Erfolg ließen sie in den amharischen Unruheregionen Shewa, Begemder und insbesondere Gojjam italienische Einheiten und Konvois angreifen, feindliche Befestigungen belagern und Sabotageakte verüben. Auf dem Hochplateau, das sich für eine Guerillataktik ideal eignete, wimmelte es nur so von kleineren und größeren Widerstandsherden. Im September 1937 begann in Gojjam schließlich ein Volksaufstand gegen die italienische Besatzungsmacht. Dieser resultierte einerseits aus der massiven Repression in den vorausgegangenen Monaten, andererseits in von den Italienern betriebenen Landverwüstung und forcierten Entwaffnung der Bevölkerung. Die agrarisch geprägte äthiopische Gesellschaft betrachtete den Besitz von Land und Waffen als unveräußerliche Rechte, deren Abschaffung nicht zu tolerieren war. Ende 1937 hatte der Widerstand der „Patrioten“ der Region Gojjam die Italiener in ihren Befestigungen isoliert. In seinem letzten Bericht als Vizekönig musste Graziani am 21. Dezember 1937 gegenüber Mussolini einräumen, dass seit der Einnahme von Addis Abeba auf italienischer Seite mehr als 13.000 Soldaten gefallen waren – viele Tausend mehr als im „Krieg der sieben Monate“ selber.[56]
Die Kriegslage in Ostafrika erforderte nun italienische Truppenverstärkungen. Allerdings hatte Mussolini seit Anfang 1937 eine massiven Militärintervention zur Unterstützung von Francos Nationalisten im Spanischen Bürgerkrieg begonnen.[57]
Der neue Vizekönig von Italienisch-Ostafrika, Amadeus von Aosta, versuchte die Brutalität seines Vorgängers abzumildern und auf eine mehr auf Kooperation mit den lokalen Eliten setzende Kolonialpolitik zu setzen. Hingegen führte der neue Oberbefehlshaber der italienischen Streitkräfte in Ostafrika, General Ugo Cavallero, den Giftgaseinsatz in den Gouvernements Amhara und Shewa fort. Angesichts der offenen Rebellion in diesen Landesteilen mit etwa 15.000 bewaffneten Männern, sowie einigen Tausend im Gouvernement Oroma-Sidama, setzte Cavallero auf einen Rückeroberungsfeldzug gegen die Region Gojjam in Amhara. Zu diesem Zweck baute er ein das Gebiet durchziehendes Straßennetzwerk aus und errichtete 73 Militärlager entlang der Bezirksgrenzen, um Gojjam von der Außenwelt abzuschneiden. Die im Frühjahr 1938 begonnene Militäraktion forderte etwa 2.500 bis 5.000 Tote unter den Widerstandskämpfern, führte jedoch nicht zu einer Unterwerfung der Bevölkerung. Ein zweiter Feldzug wurde Nordwesten der Provinz Shewa gestartet, in deren Rahmen etwa 2.000 Rebellen getötet wurden, jedoch der Anführer der lokalen Revolte entkam. Im darauf folgenden Jahr 1939 stellte sich schließlich eine militärische Pattsituation ein, die zu einem Rückgang von Aktionen des abessinischen Widerstands führte. Die Italiener waren bei der Niederschlagung des abessinischen Guerillakriegs gescheitert, jedoch waren letztere nicht in der Lage, die gut befestigten italienischen Positionen einzunehmen. Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, auf dessen Ausbruch die Widerstandsbewegung setzte, hatten die Italiener etwa 10.000 Mann an Toten und gegen 140.000 Mann an Verwundeten zu beklagen.[58]
Internationalisierung des Krieges und Befreiung (1940–1941)
Das letzte und entscheidende Stadium erreichte der Konflikt im Zuge seiner Internationalisierung, nachdem das faschistische Italien Anfang Juni 1940 an der Seite des Deutschen Reiches in den Zweiten Weltkrieg eingetreten war. Im Juli 1940 rückten italienische Truppen von Italienisch-Ostafrika aus gegen die britische Kolonie Kenia und den anglo-ägyptischen Sudan vor, wobei sie einige grenznahe Ortschaften und Städte eroberten. Nach Frankreichs militärischem Kollaps schloss man mit dessen Kolonie Dschibuti einen Waffenstillstand, der Italien für die Dauer des Krieges umfassende Kompetenzen, unter anderem die Nutzung der Hafenanlagen in dem französischen Territorium einräumte. Im August 1940 eroberten italienische Truppen Britisch-Somaliland. Damit kontrollierte Italien für kurze Zeit das ganze Horn von Afrika. Am 13. September griff zusätzlich eine von Marschall Rodolfo Graziani kommandierte Armee von 150.000 Mann von Libyen aus die britischen Einheiten in Ägypten an. Die italienische Offensive blieb jedoch schon nach wenigen Tagen liegen. Im Dezember gingen die Briten zum Gegenangriff über und überschritten am 2. Januar die Grenze zu Libyen. Das Scheitern des italienischen „Parallelkrieges“ zwang das nationalsozialistische Deutschland zur Hilfeleistung. Seit Februar 1941 wurde in Libyen das „Deutsche Afrikakorps“ unter Generalleutnant Erwin Rommel aufgebaut. All dies läutete das Ende des souveränen Italien ein, das im Gefolge seiner militärischen Niederlagen immer mehr zu einem untergeordneten Waffenbruder Deutschlands absank, den man in Berlin nicht mehr ernst nahm.[59]
Die italienischen Offensiven in Afrika zwangen Großbritannien, das die italienische Eroberung Äthiopiens durch seine Appeasement-Politik begünstigt und die durch Waffengewalt geschaffenen Verhältnisse in Ostafrika 1938 offiziell anerkannt hatte, zu einer radikalen Änderung seiner Politik. Die Italiener bedrohten nicht nur einige britische Besitzungen und Einflussgebiete in Afrika (Sudan, Kenia, Somaliland, Ägypten), sondern auch die Seeroute nach Indien, die Achillesferse des Empire. Erst diese Bedrohungslage bewog Premier Winston Churchill, dem äthiopischen Widerstand militärische Unterstützung zukommen zu lassen. Die britische Waffenhilfe erwies sich für die Befreiung als entscheidend. Im Januar 1941 lösten die Briten fast gleichzeitig drei Angriffe auf Italienisch-Ostafrika aus. Den ersten Stoß führten anglo-indische Truppen unter General William Platt vom Sudan aus. Sie drangen nach Eritrea ein und kämpften sich bis in den Tigray vor. Die zweite Offensive, ebenfalls aus dem Sudan, wurde 500 Kilometer südlich begonnen und zielte auf die Provinz Gojjam. An ihr nahm auch Kaiser Haile Selassie I. teil, der aus dem Exil zurückgekehrt war und im sudanesischen Khartum die weiteren Entwicklungen abgewartet hatte. Zusammen mit den britischen Befehlshabern Daniel A. Sandford und Orde Wingate stand er an der Spitze der Gideon Force, einer kleinen Brigade aus britischen und äthiopischen Truppen. Zusammen mit den „Patrioten“ der Provinz Gojjam rückte die Gideon Force gegen den Blauen Nil und Addis Abeba vor. Den dritten Angriff führten Soldaten von General Alan Cunningham aus, die von Kenia aus nach Somalia einmarschierten, die Hauptstadt Mogadischu einnahmen und sich von dort aus über Harrar langsam gegen Addis Abeba vorkämpften.[60]
Mit vereinten Kräften gelang es den britischen und abessinischen Truppen, die italienischen Besatzer aus Äthiopien in schwere Bedrängnis zu bringen. Die äthiopischen „Patrioten“ spielten eine wichtige Rolle während der Befreiungskampagne. In ihrem vorangegangenen vierjährigen Kampf hatten sie viel dafür getan, um die feindliche Besatzungsmacht zu ermüden. Nun, nach dem Erhalt von militärischer Unterstützung durch die Briten, gingen sie in die Offensive. Mit britischer Luftunterstützung zogen sie durch die Gojjam-Region und hatten bedeutenden Anteil an der Eroberung der Stadt Bure (Buryé). Die Armee der „Patrioten“ rückte derart schnell vor, dass die britischen Befehlsstellen befürchteten, die Abessinier würden noch vor ihren Streitkräften die Hauptstadt erreichen und die dort lebenden europäischen Einwohner gefährden. Daher wurde die Luftunterstützung für die „Patrioten“ wieder beendet. In der Shewa-Region hatte inzwischen Ras Abebe Aragai, dessen Widerstand während der gesamten Besatzungszeit angedauert hat, die Hauptstadt Addis Abeba mit seinen Truppen umstellt. Cunninghams Truppen erreichten die Hauptstadt am 6. April 1941.[61]
Genau fünf Jahre nach der Einnahme von Addis Abeba durch Marschall Pietro Badoglio zog Kaiser Haile Selassie am 5. Mai 1941 in das befreite Zentrum seines Reiches ein. Abessinische Streitkräfte der „Patrioten“ waren auch bei der Eroberung von vielen weiteren Städten Äthiopiens in den folgenden Monaten beteiligt. Nach teilweise erbitterter Gegenwehr kapitulierten die italienischen Besatzungstruppen am 19. Mai bedingungslos. Vizekönig Amadeus von Savoyen, der sich mit seinen verbliebenen Truppen beim Berg Amba Alagi verschanzt hatte, begab sich in britische Kriegsgefangenschaft. Die letzte Schlacht des Krieges fand am 27. November 1941 in Gondar stand. An diesem Tag mussten sich auch die dortige Garnison von General Guglielmo Nasi ergeben. Äthiopien, das als erste souveräne Nation in den 1930er Jahren Opfer einer faschistischen Aggression geworden war, war 1941 somit auch das erste faschistisch besetzte Land, das mit alliierter Hilfe befreit werden konnte.[61]