Benito Mussolini
faschistischer Diktator Italiens / aus Wikipedia, der freien encyclopedia
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Benito Amilcare Andrea Mussolini anhörenⓘ/? (* 29. Juli 1883 in Dovia di Predappio, Provinz Forlì; † 28. April 1945 in Giulino di Mezzegra, Provinz Como) war ein italienischer Politiker. Er war von 1922 bis 1943 Ministerpräsident des Königreiches Italien. Als Duce del Fascismo („Führer des Faschismus“) und Capo del Governo („Chef der Regierung“) stand er ab 1925 als Diktator an der Spitze des faschistischen Regimes in Italien.
Nach Anfängen bei der sozialistischen Presse stieg Mussolini 1912 zum Chefredakteur von Avanti! auf, dem Zentralorgan des Partito Socialista Italiano (PSI). Als er dort offen nationalistische Positionen vertrat, wurde er im Herbst 1914 entlassen und aus dem PSI ausgeschlossen. Mit finanzieller Unterstützung der italienischen Regierung, einiger Industrieller und ausländischer Diplomaten gründete Mussolini bald darauf die Zeitung Il Popolo d’Italia. 1919 gehörte er zu den Gründern der radikal nationalistischen und antisozialistischen faschistischen Bewegung, als deren Duce (von lateinisch dux Führer) er sich bis 1921 etablierte.
Im Oktober 1922 berief König Viktor Emanuel III. Mussolini nach dem Marsch auf Rom an die Spitze eines Mitte-Rechts-Koalitionskabinetts. Die faschistische Partei war durch Fusion mit der nationalkonservativen Associazione Nazionalista Italiana zur rechten Sammlungsbewegung geworden. Mit einer Wahlrechtsreform sicherte Mussolini ihr 1923/24 die Mehrheit der Parlamentssitze. In der Matteotti-Krise 1924 knapp dem Sturz entgangen, legte er das Fundament der faschistischen Diktatur mit Ausschaltung des Parlaments, Verbot der antifaschistischen Presse und aller Parteien mit Ausnahme des PNF, Ersetzung der Gewerkschaften durch Korporationen, Aufbau einer politischen Polizei sowie Ernennung statt Wahl der Bürgermeister. Als Regierungschef und oft Inhaber mehrerer Ministerposten gleichzeitig erließ Mussolini Dekrete mit Gesetzeskraft und war formal nur dem Monarchen verantwortlich.
Mussolinis Außenpolitik zielte auf eine Vormachtstellung im Mittelmeerraum und auf dem Balkan, wodurch früh ein Gegensatz zu Frankreich entstand. Bis Mitte der 1930er Jahre suchte er die Verständigung mit Großbritannien. 1929 beendete Mussolini mit den Lateranverträgen den Konflikt des Nationalstaats mit dem Papsttum. Dem deutschen Einflussgewinn in Mittel- und Südosteuropa trat er zunächst entgegen. Nach dem von den Westmächten nicht gebilligten und mit Wirtschaftssanktionen beantworteten italienischen Überfall auf Äthiopien sowie der Intervention Italiens im Spanischen Bürgerkrieg näherte sich Mussolini bis 1937 Deutschland an und schloss im Mai 1939 ein Militärbündnis. Am 10. Juni 1940 trat er – in der Annahme, der Krieg werde nur wenige Monate dauern – auf deutscher Seite in den Zweiten Weltkrieg ein. Die italienischen Angriffe auf britische Positionen im östlichen Mittelmeer und in Ostafrika scheiterten jedoch ebenso wie der Angriff auf Griechenland im gleichen Jahr, wodurch Italien die Fähigkeit zu selbständiger Kriegführung („Parallelkrieg“) weitgehend verlor.
Ab Herbst 1942 spitzte sich die politische, soziale und militärische Krise des Regimes rasch zu und untergrub Mussolinis persönliche Diktatur. Im Juli 1943 wurde er von oppositionellen Faschisten und Monarchisten gestürzt, die das Bündnis mit Deutschland lösen und einer antifaschistischen Massenbewegung zuvorkommen wollten. Aus der Haft befreit, stand er bis 1945 an der Spitze der Italienischen Sozialrepublik (RSI), des faschistischen Marionettenstaates der deutschen Besatzungsmacht. In den letzten Kriegstagen wurde Mussolini von kommunistischen Partisanen festgenommen und hingerichtet.
Kindheit, Jugend und politische Anfänge
Benito Mussolini war das erstgeborene Kind der Eheleute Alessandro (1854–1910) und Rosa Mussolini (geb. Maltoni, 1858–1905). Die Familie lebte im Schulhaus von Dovia, einem dörflichen Vorort von Predappio. Mussolinis Mutter, die Tochter eines kleinen Grundbesitzers, war hier seit 1877 als Grundschullehrerin tätig. Sie hatte den Handwerker Alessandro Mussolini im Januar 1882 gegen den Widerstand ihrer Eltern geheiratet. Er verdiente seinen Lebensunterhalt für einige Jahre als Schmied, besaß nur geringe formale Schulbildung und wurde im Zuge seiner erfolglosen Arbeitssuche zum Alkoholiker. Im Gegensatz zu seiner katholischen, auch politisch konservativen Frau war Alessandro Mussolini aktiver Sozialist und genoss als Mitglied des Stadtrates und stellvertretender Bürgermeister eine gewisse Prominenz. Als einzige „Intellektuelle“ des Ortes besaß die Familie einen beachtlichen Einfluss, auch wenn sie kaum mehr begütert war als die Bauern und Landarbeiter in ihrer unmittelbaren Umgebung. Alessandro Mussolini hatte Werke von Karl Marx gelesen und verehrte in seinem politischen Denken italienische Nationalisten wie Mazzini und Garibaldi, unter Einbezug von Sozialreformern und Anarchisten wie Carlo Cafiero und Bakunin. Die Vornamen seines ältesten Sohnes wählte er mit Blick auf Benito Juárez, Amilcare Cipriani und Andrea Costa. Alessandro Mussolini zog sich bereits vor dem Tod seiner Frau aus der Politik zurück, pachtete etwas Land und betrieb in den letzten Jahren seines Lebens eine Gastwirtschaft in Forlì.
Benito Mussolini verließ im Alter von neun Jahren Dovia und wechselte, wohl arrangiert von seiner Mutter, auf eine Internatsschule der Salesianer in Faenza, die vor allem von Jungen aus Familien des städtischen Bürgertums der Romagna besucht wurde. Hier war Mussolini, der in dieser Umgebung nicht als gleichwertig akzeptiert wurde, immer wieder in handgreifliche Auseinandersetzungen mit Mitschülern verwickelt. Nachdem er bei einem Streit ein Messer gezogen hatte, wurde er nach zwei Jahren der Schule verwiesen. Auf der staatlichen Schule in Forlimpopoli, die er fortan besuchte, entwickelte er sich zum „Musterschüler“. Er beendete sie 1901 mit einem Diplom, das ihn zur Erteilung von Unterricht an Elementarschulen berechtigte. 1900 war er dem Partito Socialista Italiano (PSI) beigetreten und befreundete sich dort mit dem späteren Antifaschisten Olindo Vernocchi.
Nachdem der Versuch, mit Hilfe seines Vaters die Stelle des Gemeindesekretärs von Predappio zu erhalten, gescheitert war, trat Mussolini im Februar 1902 eine Lehrerstelle in Gualtieri an. Sein Vertrag wurde jedoch bereits im Juni gekündigt. Es ist unklar, ob dafür Auseinandersetzungen mit dem örtlichen Klerus, eine laxe Dienstauffassung Mussolinis oder die (verbürgte) Affäre mit einer verheirateten Frau verantwortlich waren.[1]
Einige Wochen später emigrierte Mussolini – wie etwa 50.000 andere Italiener im Jahr 1902 – in die Schweiz. Er arbeitete hier gelegentlich (in der Summe einige Wochen) als Bauarbeiter und Ladenhelfer, war wegen der Geldsendungen seiner Eltern aber nicht wie andere, häufig völlig mittellose Migranten auf regelmäßige Lohnarbeit angewiesen. Da er im Folgejahr der Einberufung zum Wehrdienst nicht nachkam, verurteilte ihn ein italienisches Militärgericht wegen Desertion. In der Schweiz trat er der Auslandsorganisation des PSI bei und schrieb schon nach kurzer Zeit regelmäßig für das dortige Parteiblatt L’Avvenire del Lavoratore. Auftritte vor Versammlungen italienischer Arbeitsmigranten zeigten sein Talent als politischer Redner und lenkten die Aufmerksamkeit nicht nur der Schweizer, sondern auch der französischen Polizei auf den „anarchistischen“ Agitator,[2] der mehrfach arrestiert wie auch ausgewiesen wurde.[3] Mussolini fand bald Zugang zu dem Kreis um Giacinto Menotti Serrati und Angelica Balabanoff, die ihn beide förderten. Von Balabanoff übernahm Mussolini wesentliche Elemente seines frühen politischen Weltbildes. Wie sie verstand er unter Marxismus vor allem „revolutionären“ Aktivismus.[4] Seine fortan häufige Berufung auf Marx diente in erster Linie der innerparteilichen Abgrenzung vom Reformsozialismus der Richtung Filippo Turatis.[5] Mussolinis tatsächliche Beschäftigung mit dem marxistischen Denken blieb hier und später oberflächlich und eklektisch.[6]
In der Schweiz las Mussolini auch syndikalistische Schriften, insbesondere die Georges Sorels. Dazu kam die Lektüre Henri Bergsons, Gustave Le Bons, Max Stirners und Friedrich Nietzsches. 1904 studierte er ein Semester an der Universität Lausanne beim berühmten Soziologen Vilfredo Pareto und bei dessen Assistenten Pasquale Boninsegni.[7] Argumentationen und Begriffe dieser Autoren platzierte Mussolini in seinen journalistischen Beiträgen unvermittelt neben marxistischen Kategorien, ohne deren theoretische Unvereinbarkeit zu erkennen.[8] Trotz eines Entrüstungssturms in der Schweiz über den undemokratischen Gewaltherrscher verlieh die Universität Lausanne zu ihrem 400-jährigen Jubiläum 1937 Mussolini auf Betreiben und aufgrund erfolgter eigenmächtiger Verlautbarungen Boninsegnis den Ehrendoktor.[3]
Politisch vertrat Mussolini zwischen 1904 und 1914 im Kern den Standpunkt des revolutionären Syndikalismus, ohne allerdings persönlich syndikalistischen Organisationen anzugehören.[9] Früh schon zeigte sich in seinen Schriften die „Tendenz, gesellschaftliche Prozesse durch biologische Konzeptionen zu interpretieren (Art, Beseitigung der Schwachen, Auslese, Pflanze Mensch), was die allmähliche Aufgabe des marxistisch eindeutig definierten Begriffs der Klasse zugunsten der ‚Masse‘ vorbereitet.“[10] Dazu kam ein für einen sozialistischen Autor zumindest ungewöhnlicher, an Sorel geschulter Kult des Irrationalen:
„Die sogenannten ‚seriösen‘ Menschen bilden den sozialen Ballast. Die Kultur ist das Werk der sogenannten ‚Wahnsinnigen‘.“
Gegen Ende des Jahres 1904 kehrte Mussolini nach Italien zurück. Seine Mutter starb kurz darauf. Zuvor schon war er der Einberufung zum Wehrdienst gefolgt, den er bis zum September 1906 in einem Bersaglieri-Regiment ableistete. Anschließend war er erneut als Lehrer tätig, zunächst in Tolmezzo und danach an einer katholischen Schule in Oneglia. Im November 1907 bestand er ein Examen an der Universität Bologna und qualifizierte sich damit als Französischlehrer. In Oneglia begann Mussolini, wieder für die sozialistische Presse zu schreiben. Seine Entlassung im Juli 1908 markierte das endgültige Scheitern als Lehrer; er zog daraufhin wieder zu seinem Vater nach Forlì.
Nach Fürsprache von Serrati und Balabanoff übertrug man Mussolini im Januar 1909 die Stelle des Sekretärs der sozialistischen Partei im österreichischen Trient. Zudem übernahm er die Redaktion des lokalen Parteiblatts. In Trient lernte er den Irredentisten Cesare Battisti kennen und schrieb bald regelmäßig für dessen Zeitung Il Popolo.[12] Anfang August 1909 wurde er Chefredakteur dieser Zeitung.[13] Außerdem korrespondierte er mit Giuseppe Prezzolini, dem Herausgeber der Zeitschrift La Voce, von dem er sich offenbar Protektion erhoffte.[14] Mussolini begann in Trient, einen positiven Begriff der „Nation“ zu entwickeln, was in der italienischen sozialistischen Bewegung zu dieser Zeit ausgesprochen unüblich war und ebenso wie seine Verbindung zu Prezzolini darauf hindeutet, dass seine persönlichen Ambitionen schon zu dieser Zeit über den Rahmen der sozialistischen Partei hinausgingen.[15]
Das Motiv des persönlichen Ehrgeizes gerade des jungen Mussolini wird in der Literatur oft hervorgehoben. Inzwischen gilt es als unstrittig, dass Mussolini mindestens so sehr von dem Bedürfnis, „irgendwie und irgendwo“[16] aufzusteigen, wie von politischer Überzeugung angetrieben wurde. Angelo Tasca, der ihn persönlich kannte, hat die Auffassung vertreten, dass „das letzte Ziel“ für Mussolini „stets nur Mussolini selbst [war]; ein anderes hat er nie gekannt.“[17] Bevor 1910 sein eigentlicher Aufstieg in der sozialistischen Partei begann, gab sich Mussolini der Hoffnung hin, eines Tages als „Intellektueller“ in Paris anerkannt zu werden.[15] Auf die durch das Examen von 1907 möglich gemachte prestigeträchtige Anrede professore legte er auch dann noch Wert, als er bereits an der Spitze der faschistischen Bewegung stand.[18] Der Historiker Paul O’Brien sieht im jungen Mussolini einen „ambitionierten kleinbürgerlichen Intellektuellen mit einem entschieden individualistischen Gespür für seine persönliche Geltung“,[19] der schon seit 1909 unter dem Einfluss der ebenso antiliberalen wie antisozialistischen kulturellen Avantgarde Italiens gestanden habe.[20]
Ende August 1909 wurde Mussolini im Vorfeld eines Besuches von Kaiser Franz Joseph I. von der österreichischen Polizei unter einem Vorwand verhaftet und am 13. September unter militärischem Schutz nach Rovereto[21] in Italien abgeschoben.[15]
Chefredakteur des „Avanti!“
Die Ausweisung aus Österreich machte Mussolinis Namen erstmals zum Thema politischer Debatten in Rom, da die sozialistischen Mitglieder der Abgeordnetenkammer die Angelegenheit bis zum Frühjahr 1910 mehrfach aufgriffen. Zurück in Forlì, dachte Mussolini kurzzeitig über eine Auswanderung in die Vereinigten Staaten nach, verwarf diese Pläne aber. Eine Bewerbung bei der liberalkonservativen Bologneser Zeitung Il Resto del Carlino, dem einflussreichsten Blatt seiner Heimatregion, blieb erfolglos.[22]
In Forlì begann Mussolini eine Beziehung mit der 19-jährigen Rachele Guidi, Tochter der Lebensgefährtin seines Vaters. Im Januar 1910 übernahm er die Führung der örtlichen Sektion des PSI und die Redaktion der lokalen Parteizeitung La lotta di classe. Als Redakteur und Redner machte sich Mussolini binnen weniger Monate einen Namen in der Romagna. In den Flügelkämpfen innerhalb der sozialistischen Partei „konstruierte“[23] sich Mussolini mit radikaler Polemik als revolutionärer „Extremist“. Zu diesem Zeitpunkt sah sich die reformistische Führungsgruppe des PSI, die die Partei seit 1900 weitgehend kontrolliert und die führenden Syndikalisten 1908 ausgeschlossen hatte, zunehmend angegriffen. Der von Costantino Lazzari und Serrati geführte linke Flügel, dem sich auch Mussolini anschloss, gewann an Einfluss. Die in Trient angeknüpften Beziehungen zu Prezzolini ließ Mussolini allerdings auch in dieser Phase nicht abreißen.[24]
Als die Regierung Giolitti im September 1911 der Türkei den Krieg erklärte, rief Mussolini in Forlì zum Generalstreik auf. Wie in anderen Städten Italiens kam es zu Unruhen und Versuchen, Truppentransporte zu blockieren; Mussolini wurde am 14. Oktober 1911 zusammen mit einigen anderen Sozialisten aus der Region (darunter Pietro Nenni) verhaftet und im November von einem Gericht in Forlì zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Als er im März 1912 vorzeitig entlassen wurde, war sein Name weit über die Romagna hinaus bekannt. Auf dem 13. Parteitag des PSI, der am 7. Juli 1912 in Reggio Emilia begann, sprach sich Mussolini zusammen mit den Wortführern des linken Flügels für den Ausschluss der „rechten“ Reformisten um Leonida Bissolati und Ivanoe Bonomi aus, die 1911 den Krieg gegen die Türkei unterstützt und sich im März 1912 durch den „Hofgang“ zum König diskreditiert hatten. Er schonte jedoch die „linken“ Reformisten Turatis, die in der Partei verblieben. In Reggio Emilia übernahm Costantino Lazzari den Parteivorsitz; Mussolini wurde ebenso wie Angelica Balabanoff in das Parteidirektorium gewählt.
Am 1. Dezember 1912 löste Mussolini den Reformisten Claudio Treves als Chefredakteur des Avanti! ab. Die Redaktion des Zentralorgans der sozialistischen Partei hatte 1911 ihren Sitz von Rom nach Mailand verlegt, wohin nun auch Mussolini übersiedelte. Unter Mussolinis Führung übernahmen Syndikalisten einen großen Teil der Redakteursstellen des Avanti!.[25] Mussolini erwies sich als ausgesprochen fähiger Journalist (ein Biograph nennt ihn den in dieser Zeit „wahrscheinlich besten Journalisten des Landes“[26]); es gelang ihm, die Auflage des Blattes binnen weniger Monate zu vervielfachen und bis 1914 auf über 100.000 Exemplare zu steigern.[27] Das war eine bemerkenswerte Leistung, da sich der PSI – anders als etwa die SPD – trotz seiner Wahlerfolge vor dem Ersten Weltkrieg nicht zur Massenpartei entwickelt hatte (1914 hatte die Partei in Rom rund 500 und selbst in ihrer Hochburg Mailand nur 1.300 Mitglieder) und viele Arbeiter und Bauern Analphabeten waren.[28] Seine „wachsende Irrationalität“,[29] sein undifferenzierter Gebrauch von Begriffen nicht- bzw. offen antisozialistischer Autoren („Ich habe noch keine direkte Unvereinbarkeit zwischen Bergson und dem Sozialismus festgestellt.“[30]) sorgte ebenso wie seine Verteidigung Nietzsches[31] gleichwohl bald für Kritik. In einem Brief an Prezzolini hatte Mussolini schon unmittelbar nach dem Parteitag von Reggio Emilia betont, dass er sich unter den Revolutionären „ein bisschen fremd“[32] fühle. Sein Sozialismus war und blieb eine „unsichere Pflanze“.[33] Strukturell war Mussolinis Weltbild, das sich seit 1909 verfestigte, mit Denkfiguren der „europäischen und italienischen kulturellen und intellektuellen Reaktion gegen die Vernunft“[34] verwandt, es unterschied sich in grundsätzlichen Fragen von dem anderer Vertreter der PSI-Linken.
1913 begann Mussolini mit der Publikation einer von ihm persönlich herausgegebenen Zeitschrift (Utopia), die auf ein intellektuelles Publikum zielte und sich dezidiert überparteilich gab. Im gleichen Jahr kandidierte er erstmals bei einer Parlamentswahl, unterlag in Forlì aber deutlich dem republikanischen Kandidaten.[35]
Der Parteitag von Ancona bestätigte im April 1914 die Vorherrschaft des linken Flügels in der Partei. Von der sogenannten „roten Woche“ (Settimana rossa), einer Welle von Streiks und Barrikadenkämpfen im Juni 1914, wurde Mussolini ebenso wie der Rest der Parteiführung überrascht, stellte sich im Avanti! aber mit den gewohnt radikalen Leitartikeln hinter die Arbeiter.[36]
Als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, sprach sich Mussolini im Einklang mit der Parteilinie für die bedingungslose Neutralität Italiens aus. Seine Artikel schlugen gleichwohl von Anfang an einen entschieden „antideutschen“ Ton an; Deutschland, so schrieb Mussolini, sei seit 1870 der „Bandit, der an der Straße der europäischen Zivilisation herumschleicht.“[37] Diese Parteinahme unterschied sich nicht wesentlich von der spontanen Sympathie vieler linker italienischer Intellektueller für die französische Republik, die noch durch das im Risorgimento tradierte Misstrauen gegenüber „den Deutschen“ (hier gemeint: den Österreichern) akzentuiert wurde. Dennoch lehnte Mussolini in den ersten Kriegswochen eine italienische Intervention zugunsten Frankreichs ausdrücklich ab.[38] Die Wende kündigte sich an, als er am 13. September 1914 einen interventionistischen Artikel Sergio Panunzios im Avanti! drucken ließ. Gegenüber Amadeo Bordiga erklärte Mussolini, dass er die Parteinahme für die Neutralität als „reformistisch“ ansehe.[39] Damit formulierte er erstmals den in den folgenden Monaten wiederholt bekräftigten Standpunkt, dass „Revolution“ und Intervention unauflösbar miteinander verbunden seien. Inwieweit Mussolini tatsächlich an diese Argumentation glaubte, ist umstritten. Während etwa Renzo De Felice die These vertritt, dass Mussolini seinem Selbstverständnis nach bis 1920 ein genuiner „Revolutionär“ geblieben sei,[40] betont Richard Bosworth das politische „Doppelspiel“, das Mussolini spätestens im Oktober 1914 begonnen habe.[41]
Hinter den Kulissen hatte Mussolini schon im September 1914 mehreren Mitarbeitern bürgerlicher Zeitungen versichert, dass die Sozialisten – ginge es nach ihm – eine italienische Mobilmachung nicht behindern und einen Krieg gegen Österreich-Ungarn unterstützen würden. Andeutungen darüber erschienen am 4. Oktober in Il Giornale d’Italia und am 7. Oktober in Il Resto del Carlino.[42] Der zögernde Mussolini wurde dadurch gezwungen, sich öffentlich zu erklären.[43]
Am 18. Oktober 1914 veröffentlichte er den Artikel „Von der absoluten zur aktiven und tätigen Neutralität“, in dem er die sozialistische Partei aufforderte, die „negative“ Haltung zum Krieg zu revidieren und anzuerkennen, dass „nationale Probleme auch für die Sozialisten existieren“:[44]
„Wollen wir, als Menschen und als Sozialisten, die untertänigen Zuschauer dieses großartigen Dramas sein? Oder wollen wir nicht auf irgendeine Art und in gewissem Sinne seine Protagonisten sein? Sozialisten, Italiener, merkt auf: Manchmal ist es vorgekommen, dass der Buchstabe den Geist getötet hat. Retten wir nicht den Buchstaben der Partei, wenn das bedeutet, den Geist des Sozialismus zu töten!“
Bereits am 19. Oktober trat der Vorstand des PSI in Bologna wegen dieses Artikels zusammen. Er schloss Mussolini, der sich in einer mehrstündigen Diskussion zu rechtfertigen versuchte, aus dem Parteidirektorium aus. Das war gleichbedeutend mit seiner Entfernung aus der Redaktion der Parteizeitung. Mussolini selbst hatte seinen Verbleib beim Avanti! von der Zustimmung der Parteiführung zu seinen Positionen abhängig gemacht.[46] Seine dem Parteivorstand unterbreitete Beschlussvorlage erhielt bei der Abstimmung jedoch nur eine Stimme (seine eigene); um das Gesicht zu wahren, „kündigte“ er unmittelbar danach beim Avanti!.[47] Große Mailänder Zeitungen wie der Corriere della Sera und Il Secolo boten Mussolini allerdings sofort eine Plattform.[41] Die rasche und harte, von ihm nicht zuletzt als persönliche Kränkung empfundene Reaktion der Parteiführung hatte Mussolini offenbar nicht erwartet. In den internen Diskussionen, die seinem Parteiausschluss vorausgingen, soll er aschfahl und zitternd aufgetreten sein[48] und angekündigt haben, es „euch heimzuzahlen“.[49]
Wende nach rechts
Am 15. November 1914 meldete sich Mussolini mit einer neuen, zunächst noch als sozialistisch deklarierten Tageszeitung – Il Popolo d’Italia – wieder zurück. Das Blatt griff auf der Seite der Entente-freundlichen „Interventionisten“ in die Debatte um die Haltung Italiens zum Krieg ein. Die bellizistischen Interventionisten sprachen für eine Minderheit der italienischen Gesellschaft; Unterstützung und Publikum fanden sie vor allem im liberalen Bürgertum und bei radikalen Nationalisten, während die Masse der Industrie- und Landarbeiter einer Beteiligung Italiens am Krieg von Anfang an offen ablehnend gegenüberstand. Auch der einflussreiche katholische Klerus wandte sich gegen den Krieg, da er an einer Schwächung der „katholischen Großmacht“ Österreich-Ungarn nicht interessiert war. Der fundamentale, im Frühjahr 1915 bis an die Schwelle des Bürgerkrieges ausgetragene Konflikt zwischen „Interventionisten“ und „Neutralisten“ leitete die Krise des liberalen Staates ein, dessen Regierung den Kriegseintritt gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung und des Parlaments durchsetzte, wobei sie sich geschickt der kleinen, aber lautstarken interventionistischen Minderheit bediente, unter deren „Druck“ zu handeln sie vorgab. Innenpolitisch trug der Eintritt Italiens in den Krieg Züge eines Staatsstreichs – „die ‚strahlenden Tage‘ vom Mai 1915 erscheinen in mehr als einer Hinsicht als Generalprobe für den Marsch auf Rom.“[50]
In diesen Monaten traten erstmals sogenannte fasci auf, deren Angehörige Straßendemonstrationen organisierten und mitunter gewaltsam gegen Kriegsgegner – vor allem gegen Einrichtungen und Organisationen der Arbeiterbewegung[51] – vorgingen. Bereits während der „roten Woche“ im Juni 1914 waren rechte Bürgerwehren mit Waffengewalt gegen Arbeiter vorgegangen. Die Mitglieder dieser Gruppen waren im Durchschnitt „jung, aus dem Norden, gebildet, aktivistisch und antisozialistisch“[52] und kamen aus bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Milieus. Mussolini, der am 24. November 1914 aus dem PSI ausgeschlossen worden war, beteiligte sich im Dezember 1914 am Zusammenschluss mehrerer zuvor unabhängiger fasci zu den Fasci d’azione rivoluzionaria; er bezeichnete die Anhänger dieser Gruppen bereits zu diesem frühen Zeitpunkt als fascisti. Er war jedoch noch ohne eigene politische Hausmacht – nach wie vor stand er, verglichen mit aristokratischen Wortführern des Interventionismus wie Gabriele D’Annunzio, Filippo Tommaso Marinetti, Enrico Corradini und Luigi Federzoni, am unteren Ende einer „komplexen Leiter der Patronage“.[53] Diese Patronagebeziehungen bewährten sich erstmals bei der Etablierung des Popolo d’Italia, dessen Auflage im Mai 1915 bei etwa 80.000 Exemplaren lag. In diesem Zusammenhang spielte Filippo Naldi, ein Journalist aus Bologna, der über enge Beziehungen zu Großgrundbesitzern und zur Regierung in Rom verfügte, eine wichtige Rolle.[41] In der kritischen Anfangsphase versorgte Naldi den mittellosen Mussolini nicht nur mit Geld, sondern stellte ihm auch Druckmaschinen, Papier und sogar einige Redakteure des Resto del Carlino zur Verfügung.[54] Der in dieser Phase bedeutendste finanzielle Förderer Mussolinis war Ferdinando Martini, der Minister für die Kolonien.[55] Hohe Beträge kamen von Industriellen, so von Giovanni Agnelli (Fiat) und den Gebrüdern Perrone (Ansaldo).[56] Subsidien flossen Mussolini außerdem vom französischen Geheimdienst und von der französischen Botschaft in Rom zu. Als im Herbst 1917 der Zusammenbruch des italienischen Heeres nach der Battaglia di Caporetto (der 12. Isonzo-Schlacht) bevorzustehen schien, unterstützte die römische Repräsentanz des britischen Geheimdienstes MI5 Mussolinis Blatt für mindestens ein Jahr mit einer wöchentlichen Zahlung von £ 100 (etwa 6.400 Euro nach heutigem Wert).[57] Der Zufluss dieser Gelder ermöglichte Mussolini auch einen Lebensstil, durch den er habituell zu den ihn unterstützenden Kreisen aufschließen konnte. Er speiste fortan in teuren Restaurants, erwarb ein Pferd für Ausritte und ein Auto.[58]
Die Gründer der frühen fasci waren häufig ehemalige Syndikalisten, die sich von der Unione Sindacale Italiana (USI) gelöst hatten und ihre Befürwortung einer Beteiligung Italiens am Krieg gegen die Mittelmächte mit „linken“ Argumenten begründeten. Der führende Kopf dieser Gruppe war der 1915 an der Isonzofront gefallene Filippo Corridoni, der früh für die Intervention plädiert und von einem „revolutionären Krieg“ gesprochen hatte.[59] Auch Mussolini bewegte sich bis 1915 im Umfeld Corridonis. Diese „Linksinterventionisten“ standen nicht in einer genuin sozialistischen oder syndikalistischen Theorietradition, sondern griffen zunächst vorrangig auf modifizierte Ideologiefragmente des Risorgimento – vor allem des Mazzinianismus – zurück.[60] Schon die frühen einschlägigen Beiträge Mussolinis im Popolo d’Italia waren, „trotz aller sozialrevolutionären Überbleibsel, so weit entfernt vom sozialistischen Internationalismus und Materialismus wie überhaupt möglich.“[61] In der teilweise hysterisch geführten Kampagne für die Intervention profilierte sich der Popolo d’Italia mit besonders schrillen Tönen; als es im Mai 1915 kurze Zeit so schien, als würde der „Verräter“ Giovanni Giolitti erneut Ministerpräsident werden, verlangte Mussolini, „ein paar dutzend Abgeordnete“ zu erschießen.[62] Diese Transformation, die vielen Zeitgenossen als plötzlich und unvermittelt erschien, hatte Mussolini durchaus öffentlich vorbereitet. Neuere Untersuchungen haben herausgearbeitet, dass Mussolini seine Zeitschrift Utopia bereits vor dem Oktober 1914 zu einem Forum für „imperialistische, rassistische und antidemokratische“[63] Argumentationen gemacht hatte. Ostentativ sagte er sich nun von Marx, „dem Deutschen“, und dem „stock-preußischen“ marxistischen Sozialismus los und propagierte einen „antideutschen Krieg“.[64] Am Sozialismus-Begriff hielt Mussolini zunächst noch fest, gab ihm aber einen völlig anderen Inhalt. Der Sozialismus der Zukunft werde ein „antimarxistischer“ und „nationaler“ sein.[65] Im August 1918 wurde das Wort „sozialistisch“ aus dem Untertitel des Popolo d’Italia entfernt.[66] Zu diesem Zeitpunkt war bei Mussolini endgültig ein mit sozialdarwinistischen Elementen aufgeladener[67] autoritärer Nationalismus in den Vordergrund getreten:
„Wer Vaterland sagt, sagt Disziplin; wer Disziplin sagt, gibt zu, dass es eine Hierarchie der Autoritäten, der Funktionen, der Intelligenzen gibt. Dort, wo diese Disziplin nicht frei und bewusst angenommen wird, muss sie aufgezwungen werden, auch mit Gewalt, auch – die Zensur möge mir gestatten, es zu sagen – mit jener Diktatur, zu der die Römer der ersten Republik griffen, in den kritischen Stunden ihrer Geschichte.“
Von diesem Standpunkt aus kritisierte Mussolini auch den in Politikern wie Antonio Salandra und Giolitti verkörperten konservativen Liberalismus der alten Eliten, da dieser an der „Integration der Massen in die Nation“ gescheitert sei. So hielt er etwa an der Forderung nach einer Landreform fest, da allein auf diese Weise „die Landbevölkerung für die Nation gesichert“[69] werden könne. Allein von einer „Schützengrabenaristokratie“ (trincerocrazia), einer „Aristokratie der Funktion“, sei die Bereitschaft zu solchen Maßnahmen zu erwarten.[70]
Mussolinis Gedankengänge reflektierten auf ihre Weise die tiefe Krise der traditionellen Ordnung, die spätestens 1917 von vielen Beobachtern konstatiert wurde. Von 1915 bis 1917 hatten die italienischen Regierungen – „ganz zu schweigen von den reaktionären und brutalen monarchistischen Generälen“[71] – versucht, einen „traditionellen“ Krieg zu führen. Sie hatten keinerlei Versuch unternommen, den Krieg vor den Arbeitern und Bauern, die die Masse der Soldaten stellten, zu rechtfertigen oder zu begründen.[72] Erst nach der katastrophalen Niederlage in der 12. Isonzoschlacht leitete der neue Ministerpräsident Vittorio Orlando eine propagandistische Kampagne ein, die den Krieg für diejenigen, die ihn in den Schützengräben auszutragen hatten, plausibel machen sollte. Ende 1917 stießen die Legitimationen und Mechanismen der alten Herrschaftsordnung jedoch unübersehbar an ihre Grenzen, wodurch perspektivisch eine Nachfrage für die politische Ideologie geschaffen wurde, deren Grundlagen im Umfeld des Popolo d’Italia entstanden waren.[73] Der Frühfaschismus war gleichwohl nicht die einzige politische Kraft, die in diesem Zusammenhang auftrat. Der italienische Radikalnationalismus (vgl. Associazione Nazionalista Italiana) etwa, der „Rechtsinterventionismus“ der Jahre 1914/15, durchlief bis 1919 eine relativ eigenständige Entwicklung.
Militärdienst
Von August 1915 bis August 1917 leistete Mussolini selbst Militärdienst. Mit dem 11. Bersaglieri-Regiment war er am Isonzo (bis November 1915, vgl. Isonzoschlachten), in den Karnischen Alpen (bis November 1916) und bei Doberdò im Einsatz. Während dieser Zeit publizierte er weiterhin im Popolo d’Italia. Diese Artikel wurden 1923 als „Kriegstagebuch“ neu herausgegeben und im faschistischen Italien in zahlreichen Auflagen verbreitet. Während eines Lazarettaufenthaltes im Dezember 1915 heiratete er Rachele Guidi, die Mutter seiner 1910 geborenen Tochter Edda. 1916 bzw. 1918 kamen die Söhne Vittorio und Bruno zur Welt. Obwohl „Gebildete“ im italienischen Heer sehr häufig einen Offiziersrang erhielten, brachte es Mussolini nur bis zum caporal maggiore (ein niedriger Unteroffiziersdienstgrad). Einen Kurs für Offiziersanwärter musste er nach kurzer Zeit auf Veranlassung der Armeeführung wieder verlassen. Nach allen vorliegenden Zeugnissen begegneten Soldaten der Mannschaftsränge dem Gründer des Popolo d’Italia mit Misstrauen, zum Teil auch offen feindselig. Das Angebot des Regimentskommandeurs, die Regimentsgeschichte zu schreiben und so den für den „Kriegshetzer“ besonders gefährlichen Schützengräben zu entkommen, lehnte er indes ab. Im Herbst 1916 war Mussolini allerdings so erschöpft, dass er nach Wegen zu suchen begann, aus dem Dienst auszuscheiden.[74] Am 23. Februar 1917 wurde Mussolini bei einer Übung hinter der Front schwer verwundet, als eine Mörsergranate beim Abschuss explodierte und mehrere Soldaten in seiner Nähe tötete. Bis zu seiner Entlassung aus dem Militär im August hielt er sich in einem Mailänder Lazarett auf.
Mussolini und der Frühfaschismus
Der Weltkrieg erschütterte das politische System Italiens. Das Kalkül der Regierung Salandra, die sich vom Eintritt in den Krieg vor allem eine Marginalisierung der Sozialisten und eine dauerhafte Verschiebung des politischen Kräftefeldes nach rechts – in Summe eine „hierarchische Reorganisation der Klassenbeziehungen“[75] – versprochen hatte, war nicht aufgegangen. Stattdessen hatten die lokal und regional begrenzten Konflikte der Vorkriegszeit „nationale Dimensionen angenommen und waren zu Protesten gegen den Krieg, gegen den Staat, gegen die herrschende Klasse geworden.“[76] Der italienischen Oberschicht gelang es nicht, die Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit wie in Frankreich und Deutschland zu kanalisieren und durch taktische Zugeständnisse abzufedern; der Kampf um die gesellschaftliche Hegemonie wurde direkt und unvermittelt ausgetragen und überforderte schließlich die liberalen Institutionen.[77]
Das prägende, auch für Mussolini zentrale Thema der Nachkriegszeit war der Aufstieg einer radikalen Linken und der damit verbundene Eintritt der „Massen“ in das politische Leben.[78] Anders als etwa in Deutschland war in Italien die reformistische, zur Zusammenarbeit mit den Parteien des Bürgertums bereite Strömung der Arbeiterbewegung, die innerhalb des PSI vor allem der Kreis um Filippo Turati repräsentierte, strukturell schwach. Im September 1918 hatten sich in der sozialistischen Partei die sogenannten „Maximalisten“ (massimalisti) um Serrati durchgesetzt, die sich die bolschewistische Oktoberrevolution zum Vorbild nahmen und ähnliche Positionen wie die deutsche USPD vertraten. 1919 erlebten die Partei und die Gewerkschaften einen beispiellosen Zustrom neuer Mitglieder, bei der Parlamentswahl am 16. November 1919 erhielt der PSI 32,5 % der Stimmen (156 Mandate) und wurde zur stärksten Partei. Im März 1919 erzwangen Massenstreiks die Anerkennung des Achtstundentages. In Latium und in Teilen Süditaliens begannen Landarbeiter und Kleinbauern im Sommer mit spektakulären Landbesetzungen, während es der sozialistischen Gewerkschaft Federterra zumindest in der Po-Ebene gelang, die Landarbeiter fast restlos zu organisieren und den Großgrundbesitzern Löhne und Arbeitsbedingungen zu diktieren. Dennoch war der Aufschwung des italienischen Sozialismus instabil. Die Mehrheit seiner Anhänger war bitterarm, ohne materielle und kulturelle Ressourcen und in der Regel lediglich lokal vernetzt; viele Mitglieder stießen nach dem Ende des Krieges erstmals zur Partei und zu den Gewerkschaften, ihre Bindung an das sozialistische Programm blieb lose und ungefestigt. Der lange Zeit auch in der historischen Literatur reproduzierte zeitgenössische liberale, konservative und faschistische Diskurs über die „rote Gefahr“ (vgl. biennio rosso) verschleiert, dass es der sozialistischen Partei selbst in ihrer Hochphase zu keinem Zeitpunkt gelang, im gesellschaftlichen Maßstab zur Mehrheitspartei zu werden.[79] 43 der 69 Provinzen wiesen auch im November 1919 „weiße“ Mehrheiten auf; der erst am 18. Januar 1919 gegründete katholische PPI gewann bei dieser Wahl aus dem Stand 100 Mandate, die verschiedenen liberalen Gruppen zusammen 252.[80]
Parallel zum Aufschwung der politischen Linken etablierte sich eine – anfänglich noch stark fragmentierte – „neue Rechte“,[81] die nicht einfach konservativ war, sondern die Institutionen der traditionellen Ordnung mehr oder weniger offen verwarf. Ihr gemeinsamer Nenner war ein ideologisches Amalgam aus nationalistischer Enttäuschung über den „verstümmelten Sieg“ (vittoria mutilata) im Weltkrieg und aggressiver Auseinandersetzung mit der „roten Gefahr“. Der weithin akklamierte Kopf dieser Rechten war zunächst Gabriele D’Annunzio. Mussolini war zur Jahreswende 1918/19 zwar als Chefredakteur des Popolo d’Italia in ganz Italien bekannt, verfügte aber lediglich im lokalen Rahmen Mailands über politisches Gewicht. Er griff in den ersten Nachkriegsmonaten die verbreitete Forderung nach einer konstituierenden Nationalversammlung auf, die vor allem unter den zurückkehrenden Frontsoldaten populär war und durchaus in das ideologische Profil des Popolo d’Italia passte.
Zum 23. März 1919 rief Mussolini die Vertreter von etwa zwanzig fasci, die sich nach Kriegsende neu gebildet hatten oder von überlebenden Aktivisten der Jahre 1914/15 wiederbelebt worden waren, in Mailand zusammen. An dem Treffen (das in einem von der Industriellenvereinigung Alleanza industriale e commerciale zur Verfügung gestellten Saal an der Piazza San Sepolcro stattfand) nahmen etwa 300 Personen teil, darunter Roberto Farinacci, Cesare Maria De Vecchi, Giovanni Marinelli, Piero Bolzon und Filippo Tommaso Marinetti. Die Zusammensetzung der später als sansepolcristi verehrten Teilnehmer verhalf der bei dieser Gelegenheit gegründeten Dachorganisation (den Fasci italiani di combattimento) zu einem schillernden, „bivalenten“[82] Erscheinungsbild. Ehemalige „Linksinterventionisten“ stellten (noch) die Mehrheit, „neben ihnen aber sitzen die Nationalisten, die Reaktionäre und schlichte Streikbrecher.“[83] Der von Mussolini erhobene und auch in der historischen Literatur oft ohne Relativierung kolportierte Anspruch, die combattenti (die Kriegsteilnehmer) zu vertreten, traf nur sehr bedingt zu. Die ersten Nachkriegs-fasci zogen vor allem demobilisierte Reserveoffiziere oder Studenten bürgerlicher Herkunft an, die im Krieg Offiziere gewesen waren oder bei den Arditi gedient hatten. Der weitaus mitgliederstärkste Verband der Kriegsteilnehmer, die Associazione Nazionale dei Combattenti (ANC), war dagegen – abgesehen von regionalen Sonderfällen – zunächst demokratisch und antifaschistisch ausgerichtet; auch seine soziale Zusammensetzung (überwiegend ehemalige wehrpflichtige Bauern und Offiziere unterer Dienstgrade) war eine ganz andere als die der fasci.[84]
Die in Mailand ins Leben gerufene Organisation blieb – trotz einiger spektakulärer Aktionen, darunter eine von Marinetti dirigierte Brandstiftung im Redaktionsgebäude des Avanti! am 15. April 1919 – zunächst ohne jeden Einfluss. Noch Ende 1919 existierten lediglich 31 fasci mit zusammen 870 Mitgliedern.[85] Erst nach und nach gelang es den Fasci di combattimento, sich gegen rivalisierende liberale, anarchistische und syndikalistische Gruppen, die den Begriff fascio (mit jeweils abweichenden Inhalten) ebenfalls für sich reklamierten, durchzusetzen. Im August 1919 lancierte Mussolini eine neue Zeitschrift (Il Fascio), die vor allem die Aufgabe hatte, den fascismo im Sinne seiner Organisation auszudeuten.
Die programmatischen Leitsätze der Fasci di combattimento waren diffus und für die Praxis der Organisation schon zu diesem Zeitpunkt völlig bedeutungslos.[86] Im März 1919 war überhaupt kein formales Programm beschlossen worden. Mussolini hatte in Mailand lediglich drei Erklärungen verlesen und sich darin mit den Frontkämpfern solidarisiert, die Annexion Fiumes und Dalmatiens verlangt sowie die Bekämpfung der sozialistischen und katholischen „Neutralisten“ angekündigt. Am 6. Juni 1919 veröffentlichte der Popolo d’Italia schließlich ein Programm, bei dem „unschwer hinter der ‚linken‘ Fassade, die vor allem durch die politische Forderung nach der Republik entsteht, in den Fragen der sozialen Ordnung ein reaktionärer Kern zu erkennen“[87] ist. Das Programm war auch in seinen bald vergessenen „radikalen“ Passagen – entgegen einer weitverbreiteten Legende – keineswegs „sozialrevolutionär“, sondern von den Verfassern weitgehend an die reformistische Linie der nationalistischen Gewerkschaft Unione Italiana del Lavoro angelehnt worden. Gefordert wurden die Senkung des Wahlalters auf 18 Jahre und das Wahlrecht für Frauen, die Abschaffung des Senats und dessen Ersetzung durch einen „technischen Nationalrat“, Mindestlohn und Achtstundentag, Besteuerung der Kriegsgewinne, eine staatliche Sozialversicherung, die Verteilung unbebauten Bodens an Kriegsveteranen, Beteiligung von Vertretern der Arbeiterorganisationen an der „Verwaltung“ privater und öffentlicher Betriebe („soweit sie dessen moralisch und technisch würdig sind“), die Schließung der katholischen Schulen und die Einziehung des kirchlichen Grundbesitzes. Mussolini vermied es insbesondere in dieser frühen Phase, die Fasci di combattimento einem der existierenden politischen Lager zuzuordnen. Auf dem ersten Kongress der fasci, der im Oktober 1919 in Florenz stattfand, erklärte er, sie seien „nicht republikanisch, nicht sozialistisch, nicht demokratisch, nicht konservativ, nicht nationalistisch“.[88] Er polemisierte gegen den linksliberalen Ministerpräsidenten Nitti und solidarisierte sich mit dem Fiume-Unternehmen D’Annunzios, ohne sich oder seine Organisation zu eng an dieses Projekt zu binden.
Bei der Parlamentswahl am 16. November 1919 erhielt die von Mussolini und Marinetti angeführte faschistische Liste in der gesamten Provinz Mailand nur 4.675 Stimmen und gewann kein Mandat. Nach dieser Schlappe warfen Mailänder Faschisten am 17. November einen Sprengsatz in eine sozialistische Demonstration. Mussolini wurde als Anstifter verdächtigt und – nachdem bei einer Durchsuchung ein Waffenlager gefunden worden war – verhaftet, aber nach nur einem Tag aufgrund einer Intervention aus Rom wieder entlassen.[89]
Am 24./25. Mai 1920 fand in Mailand der zweite Kongress der Fasci di combattimento statt. Die meisten ehemaligen „Linksinterventionisten“ schieden bei dieser Gelegenheit aus dem Nationalrat der Organisation, die nach dem sozialistischen Wahlsieg zahlreiche neue Anhänger in den zerfallenden liberalen Milieus gefunden hatte, aus. Auch Marinetti verließ den Kongress, nachdem Mussolini sich gegen eine Fortsetzung der antikatholischen Polemik ausgesprochen hatte. Die Forderung nach der Republik relativierte Mussolini in Mailand ebenfalls. Die Stoßrichtung gegen den „antiitalienischen“ Sozialismus wurde dagegen noch stärker herausgestellt.[90] Der Achtstundentag und der Mindestlohn verschwanden aus dem faschistischen Programm, ebenso die Forderung nach einer „technischen“ Beteiligung der Arbeiter an der Leitung der Betriebe.[91] Nun richtete sich die faschistische Polemik gegen einen vermeintlichen „Staatskollektivismus“ oder „Staatsbolschewismus“ in Italien; Mussolinis Rede in Mailand, in der er sich zu einer „Manchester-Konzeption“[92] des Staates bekannte, bewertet der Historiker Adrian Lyttelton als Entwurf eines „kapitalistischen Utopia“.[93] Während der Auseinandersetzungen zwischen der Metallarbeitergewerkschaft FIOM und dem Unternehmerverband Confindustria, die im September 1920 in die zeitweilige Besetzung vieler Fabriken durch die Belegschaften mündeten, rief Mussolini im Popolo d’Italia immer wieder zur Klassenzusammenarbeit auf. Den anderen antisozialistischen Parteien warf er vor, den Sozialisten nicht mit der nötigen Entschiedenheit entgegenzutreten – die Faschisten aber würden dies nun tun. Die seien zwar eine Minderheit, aber „eine Million Schafe werden immer vom Brüllen eines einzigen Löwen zerstreut werden.“[94] Diese Worte kündigten die eigentliche „Geburt“ des Faschismus an, dessen Vorstöße bald „keineswegs nur mehr sporadische Episoden zu Demonstrationszwecken“ waren, sondern „Ausdruck einer bewusst geplanten, systematischen Gewalt“,[95] die auf die vollständige Zerstörung der sozialistischen Organisationen zielte.
Vom „blocco nazionale“ zum „Partito Nazionale Fascista“
Die „Explosion der antisozialistischen Gewalt“[96] erfolgte im Herbst 1920, als große Teile der bürgerlichen Eliten ihr Vertrauen in die Fähigkeit des Staates, die Arbeiterbewegung unter Kontrolle zu bringen und zurückzudrängen, verloren hatten. Liberale Zeitungen plädierten nun offen für die autoritäre Herrschaft eines „starken Mannes“ oder eine Militärdiktatur.[97] Gerade zu dieser Zeit trat die sozialistische Bewegung in eine Phase der Orientierungslosigkeit und inneren Auseinandersetzungen ein, da der Verlauf der Fabrikbesetzungen im September 1920 deutlich gemacht hatte, dass die zentristischen „Maximalisten“ an der Spitze des PSI trotz ihrer radikalen Rhetorik nicht gewillt waren, ernsthaft auf eine sozialistische Revolution hinzuarbeiten (diese Fraktionskämpfe führten im Januar 1921 zur Abspaltung des linken Parteiflügels, der sich als Partito Comunista d’Italia konstituierte). So ging im Oktober 1920 fast unvermittelt „die Initiative in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf die besitzenden Klassen und die neue Rechte über.“[98]
Die fasci, bis dahin „so gut wie bedeutungslos, teils anämische Gebilde, teils überhaupt nicht existent“,[99] erlebten nun einen stetigen Zustrom neuer Mitglieder und einen enormen politischen Bedeutungsgewinn. Die Zahl der lokalen fasci vervielfachte sich binnen weniger Monate von 190 (Oktober 1920) auf 800 (Ende 1920), 1.000 (Februar 1921) und 2.200 (November 1921).[100] Ihre Reputation im antisozialistischen Lager war schlagartig gestiegen, als am 21. November 1920 mehrere hundert bewaffnete Faschisten die konstituierende Sitzung des neugewählten sozialistischen Gemeinderates von Bologna überfielen, wobei neun Menschen starben. Die „Schlacht von Bologna“ leitete die Periode des faschistischen squadrismo ein, der bewaffneten „Strafexpeditionen“ gegen „rote“ Partei- und Gewerkschaftshäuser, Zeitungsredaktionen, Arbeiterheime, Kulturhäuser, Gemeindeverwaltungen, Genossenschaften und Einzelpersonen. Die einzelnen squadre wurden häufig von Industriellen und Großgrundbesitzern ausgerüstet (mitunter auch direkt geführt), profitierten aber vor allem von der direkten und indirekten Unterstützung durch staatliche Stellen aller Ebenen.[101] Der Kriegsminister im Kabinett Giolitti V, der 1912 aus dem PSI ausgeschlossene rechte Sozialdemokrat Ivanoe Bonomi, regte im Oktober 1920 den Eintritt von entlassenen Reserveoffizieren in die fasci an, wobei ihnen ein großer Teil des bisherigen Soldes weitergezahlt werden sollte.[102] Justizminister Luigi Fera wies die Gerichte in einem Rundschreiben an, Verfahren gegen Faschisten nach Möglichkeit einschlafen zu lassen.[100] Hunderte sozialistische Gemeindeverwaltungen, die zum Ziel von faschistischen „Strafexpeditionen“ geworden waren, ließ die Regierung im Frühjahr 1921 „aus Gründen der öffentlichen Ordnung“[103] auch offiziell auflösen, darunter die von Bologna, Modena, Ferrara und Perugia. Die Dominanz der Sozialisten in vielen Gemeindeparlamenten hatte die liberalen Eliten seit 1919 besonders beunruhigt, da das gesellschaftliche Kräfteverhältnis hier tatsächlich zugunsten der Linken zu kippen drohte.[95]
Die Ausbreitung der fasci erfolgte regional sehr ungleichmäßig und in der Regel ohne direkten politischen, ideologischen oder persönlichen Bezug zu Mussolini. Auch der Großteil der politischen Symbolik des italienischen Faschismus entstand in dieser Phase unabhängig vom Mailänder Zentrum spontan und wurde durch Imitation schrittweise von der gesamten Bewegung übernommen.[104] Triest, wo sowohl die nationalistische als auch die antisozialistische Agitation besonders intensiv war und in den Auseinandersetzungen mit der slowenischen Minderheit fließend ineinander überging, entwickelte sich zur ersten echten Hochburg des Faschismus. Hier hatte der örtliche fascio im März 1921 14.756 Mitglieder (18 % der Gesamtmitgliedschaft). Die Organisationen in Turin, Rom und Ravenna hatten damals dagegen erst 581, 1.480 und 70 Mitglieder.[105]
Die persönliche Rolle Mussolinis in der faschistischen Bewegung blieb bis 1921 ungeklärt. Seine Beziehungen zu den Führern des Provinzfaschismus, die die faschistische Gewalt in erster Linie organisierten, waren wiederholt ausgesprochen angespannt.[106] Der zukünftige Duce gehörte nicht zu den Verfechtern eines intransigenten Radikalismus, war nicht zuletzt auf sein eigenes Fortkommen bedacht und neigte zu Kompromissen (eine Einbindung des rechten Flügels der Sozialisten und der Gewerkschaften in einen „nationalen Block“ blieb sein Ziel, bis dies 1924 unmöglich wurde).[107] Von wesentlicher Bedeutung für die Stellung Mussolinis war es, dass er im Finanzzentrum des Landes lebte und die großen „Spenden“ von Industriellen und Bankiers auch nach 1919 meist direkt an ihn und den Popolo d’Italia gingen; er war damit innerhalb der faschistischen Bewegung vergleichsweise unabhängig und konnte die in der Provinz benötigten Gelder verteilen.[108]
Mussolini gelang es, die Fasci di combattimento vor der Parlamentswahl am 15. Mai 1921 in einen von Giolitti geführten bürgerlichen Wahlblock zu integrieren. Mit dem einflussreichen Politiker, der seit dem 15. Juni 1920 wieder Ministerpräsident war, stand Mussolini seit Oktober 1920 über einen Mittelsmann in Verbindung.[109] Der blocco nazionale umfasste alle Parteien mit Ausnahme der Sozialisten, der Kommunisten und der katholischen popolari. Für Mussolini persönlich bedeutete dieser Erfolg den Eintritt in die von den alten Eliten definierte Zone der „politischen Respektabilität“.[110] Zusammen mit Mussolini, der an der Spitze der Listen des blocco in Mailand und Bologna platziert worden war, zogen 34 weitere Faschisten in die Abgeordnetenkammer ein (bei 275 Mandaten für den gesamten Block).
Giolitti, der sein wichtigstes Wahlziel – die nachhaltige Schwächung der Sozialisten und der popolari – nicht erreicht hatte, trat am 27. Juni 1921 zurück. Giolittis Nachfolger Bonomi, der in Mantua zusammen mit faschistischen Kandidaten auf der Liste des blocco nazionale angetreten war, versuchte im Juli 1921, den rechten Flügel des PSI von der Partei zu lösen und an das Regierungslager zu binden. Er gewann einige führende Faschisten (darunter Mussolini, Cesare Rossi und Giovanni Giuriati), vier sozialistische Abgeordnete und drei Funktionäre des Gewerkschaftsdachverbandes CGdL für die Unterzeichnung eines „Befriedungspaktes“ (2. August 1921). Mussolini rechtfertigte diesen überraschenden Schritt mit dem Argument, dass es unmöglich sei, die zwei Millionen Sozialisten Italiens zu „liquidieren“; die Option „permanenter Bürgerkrieg“ sei naiv.[111] Er stand damals unter dem Eindruck der in ganz Italien beachteten Ereignisse von Sarzana ('fatti di Sarazena'), wo am 21. Juli eine „Strafexpedition“ von 500 ligurischen und toskanischen squadristi in die Flucht geschlagen worden war, nachdem sich – für die Faschisten völlig unerwartet – eine Handvoll Carabinieri auf die Seite der Einwohner gestellt hatte. 14 squadristi, ein Polizist und einige Bürger starben. Für Mussolini, der offen von einer „Krise des Faschismus“[112] sprach, warf dies die Frage auf, was die fasci „wirklich wert sind, wenn ihnen die Polizeimacht des Staates entgegentritt.“[113] Hinter diesem Schachzug stand jedoch auch die nicht zuletzt in persönlichen Ambitionen wurzelnde Absicht Mussolinis, die fluktuierenden und lose vernetzten fasci zu „parlamentarisieren“ und zu einer Partei zusammenzufassen, um so mittel- und langfristig an der politischen Macht in Rom zu partizipieren.
Faschistische Extremisten, vor allem die Exponenten des militanten „Agrarfaschismus“ der Po-Ebene, der Emilia, der Toskana und der Romagna wie Italo Balbo und Dino Grandi, die eine völlige Zerschlagung der Arbeiterbewegung und die Errichtung eines autoritären Regimes ohne Rücksichtnahme auf liberale Interessengruppen für möglich hielten, griffen Mussolini daraufhin offen an. Dieser zog sich am 18. August 1921 aus dem Exekutivkomitee der Fasci di combattimento zurück, gefolgt von Rossi, der beklagte, dass der Faschismus zu einer „reinen, authentischen und exklusiven Bewegung des Konservatismus und der Reaktion“[114] geworden sei. Die „konservativen“ Faschisten waren jedoch nicht in der Lage, sich auf eine Führungspersönlichkeit zu verständigen, die Mussolini hätte ersetzen können, nachdem Gabriele D’Annunzio das Angebot abgelehnt hatte.[115] Im Vorfeld des dritten Kongresses der fasci, der im November 1921 in Rom stattfand, gingen die beiden Fraktionen aufeinander zu: Mussolini erklärte den – ohnehin nie realisierten – Befriedungspakt am 22. Oktober zu einer „lächerlich bedeutungslosen Episode unserer Geschichte“[114] (und kündigte ihn im November ganz auf), während die „Reaktionäre“ um Grandi sich mit der Gründung des Partito Nazionale Fascista (PNF) abfanden. In Rom bemühte sich der nunmehr als Duce etablierte Mussolini, die aufgekommenen Zweifel an der Entschiedenheit seines Antisozialismus zu beseitigen:
„Ich bedauere nicht, dass ich Sozialist gewesen bin. Aber ich habe die Brücken zu dieser Vergangenheit abgebrochen. Ich bin nicht nostalgisch. Ich denke nicht darüber nach, zum Sozialismus zu gelangen, sondern darüber, von ihm loszukommen. In wirtschaftlichen Angelegenheiten sind wir Liberale, weil wir glauben, dass die nationale Wirtschaft nicht kollektiven Körperschaften oder der Bürokratie überlassen werden kann.“
Mussolini sorgte für weitere Klarstellungen am Rande. Aus dem Parteiprogramm wurden die noch vorhandenen Reste republikanischen und antiklerikalen Gedankenguts aus der Frühzeit der fasci entfernt.[117] Von außenpolitischen Abenteuern im Stile D’Annunzios hatte sich Mussolini schon 1920 distanziert; nur „Verrückte und Kriminelle“[118] würden nicht begreifen, dass Italien Frieden brauche.
„Marsch auf Rom“
Nach dem Kongress von Rom festigte Mussolini zielstrebig seine Position innerhalb der faschistischen Bewegung. Sekretär des PNF wurde Michele Bianchi, ein enger Vertrauter des Duce. Die squadre wurden formal den lokalen Parteigruppen zugeordnet und einer Generalinspektion unterstellt. Die Führer des Provinzfaschismus (für die sich bald das äthiopische Lehnwort ras einbürgerte) wahrten gleichwohl eine erhebliche Autonomie, die sie auch in den Jahren der Diktatur sichern und zum Teil noch ausbauen konnten.
Ab Januar 1922 erschien auf Anregung Mussolinis die Zeitschrift Gerarchia (bis 1933 redigiert von Margherita Sarfatti), die dem Faschismus einen verbindlichen intellektuellen Überbau verschaffen sollte. Persönlich war Mussolini kein „Fundamentalist“ der nach und nach konturierten faschistischen Ideologie, sondern achtete vor allem auf deren praktischen politischen Nutzen.[119]
Nach dem Rücktritt Bonomis bildete der Liberale Luigi Facta im Februar 1922 eine Regierung, die allgemein als Platzhalter für ein neues Kabinett Giolitti angesehen wurde. In der Regierungszeit Factas begann eine „zweite Welle“ des squadrismo; die sozialistischen Hochburgen in Norditalien wurden Ziel regelrechter Feldzüge der Faschisten, die etwa in der Romagna „wie eine Besatzungsarmee“[120] auftraten. Anfang März besetzten einige tausend squadristi den Freistaat Fiume. Bei den erneuten Zügen gegen Bologna und Ferrara im Mai/Juni wurden jeweils mehrere zehntausend Faschisten zusammengezogen. Die sozialistischen und syndikalistischen Gewerkschaften, die im Februar 1922 die Alleanza del lavoro gebildet hatten, riefen für den 1. August 1922 zu einem politischen Generalstreik gegen den faschistischen Terror auf. Er wurde nach einem faschistischen Ultimatum bereits am 3. August abgebrochen. Im Gegenstoß drangen die Faschisten nun auch in linke Hochburgen wie Parma und Genua ein, wo es zu mehrtägigen Straßenkämpfen kam. Bis zum Oktober 1922 kamen nach neueren Berechnungen mindestens 3.000 Menschen bei diesen Auseinandersetzungen ums Leben.[121] Im September erreichten die Faschisten mit Vorstößen nach Terni und Civitavecchia das Umland Roms.
Im Juli 1922 wurde Facta nach faschistischen Ausschreitungen in Cremona, gegen die die Behörden erneut nichts unternommen hatten, mit den Stimmen der popolari, der Sozialisten und liberaler Demokraten gestürzt (aber sofort wieder mit der Regierungsbildung beauftragt). Mussolini begann nun, mit Giolitti, Orlando und Salandra – den „starken Männern“ der italienischen Politik – über seine Rolle in einem künftigen Kabinett zu verhandeln. Noch war nicht abzusehen, ob er „ein kommender Mann oder der kommende Mann“[122] war. Seine Beiträge im Popolo d’Italia und seine Reden in der Abgeordnetenkammer waren nicht erst seit dieser Zeit vor allem darauf abgestellt, ein Höchstmaß an „staatsmännischer“ Glaubwürdigkeit und Urteilsfähigkeit zu demonstrieren, während er die radikalen Wortmeldungen Bianchi, Balbo, Farinacci und anderen überließ.[123] Der Demonstration außenpolitischer Kompetenz hatte Mussolinis erste breit beachtete Auslandsreise gedient, die ihn im März 1922 nach Deutschland führte. In Berlin traf er mit „bemerkenswert hochrangigen“[124] Gesprächspartnern zusammen, darunter Reichskanzler Joseph Wirth, Außenminister Walther Rathenau, Gustav Stresemann und dem einflussreichen liberalen Journalisten Theodor Wolff, der Mussolini auch später freundschaftlich verbunden blieb.[125]
Im Oktober 1922 erreichte die politische Krise den Höhepunkt. Die sozialistische und kommunistische Linke war als politischer Faktor bereits weitgehend ausgeschaltet. Die Gewerkschaften verloren nach dem Fehlschlag des Generalstreiks im August noch einmal massiv Mitglieder und Einfluss, während sich die sozialistische Partei Anfang Oktober erneut spaltete.[126] In den über Mittelsmänner geführten Verhandlungen mit Giolitti gab Mussolini nun zu verstehen, dass er zur Führung einer Koalitionsregierung bereit sei. Da der PNF nur über 35 Mandate in der Abgeordnetenkammer verfügte, war ein von Mussolini geführtes Kabinett – wenn es nicht sofort als Staatsstreichregierung auftrat – auf die Unterstützung der liberalen und konservativen Blöcke des Parlaments angewiesen. In öffentlichen Stellungnahmen würdigte Mussolini nun einmal mehr die Monarchie und die katholische Kirche und stellte in einem Gespräch mit General Pietro Badoglio die Passivität der Armee bei einer eventuellen, mit einer demonstrativen Aktion der fasci gegen Rom verbundenen faschistischen Machtübernahme sicher. Bereits am 20. September 1922 hatte er sich in einer Rede in Udine erneut zu einer liberalen Wirtschaftspolitik bekannt und sich für einen Bruch mit der seit 1919 in Ansätzen ausgebildeten staatlichen Sozialpolitik ausgesprochen.[127] Die berühmte Rede von Udine gilt als vorweggenommene Regierungserklärung des Faschismus. Sie kombinierte das Bekenntnis zu Gewalt und Gehorsam mit einer Absage an die Demokratie und der Ankündigung, die Massen zur Unterstützung italienischer Machtpolitik zu mobilisieren. Italiens Größe – statt einer „Politik der Entsagung und der Feigheit“ – war das Hauptziel.[128]
Am 25. Oktober verließ Mussolini den Parteitag des PNF, der am Vortag in Neapel begonnen hatte, und zog sich nach Mailand zurück. Obwohl er einen gewaltsamen Putsch, mit dem führende Squadristen immer wieder gedroht hatten, nicht ernstlich vorbereitete,[129] hatte er sich vorab mit einem „inszenierten Marsch“[130] auf die Hauptstadt einverstanden erklärt. Dieser später zum Eckstein der „faschistischen Revolution“ verklärte „Marsch auf Rom“, an dem in strömendem Regen wohl lediglich 5.000[131] squadristi teilnahmen, begann am Morgen des 28. Oktober. Mit dem Unternehmen wollte Mussolini den König zu einer Entscheidung zwingen, von der er annehmen konnte, dass sie zu seinen Gunsten ausfallen würde. Giolitti, Salandra und Orlando waren zu diesem Zeitpunkt ebenso wie der König, der Papst, die Armeeführung und die Wirtschaftsverbände mit einem faschistischen Ministerpräsidenten, den Mussolini am 24. Oktober in Neapel erstmals öffentlich gefordert hatte, einverstanden.[132] Am 29. Oktober ließ Viktor Emanuel III. Mussolini telefonisch nach Rom bestellen, wo er am Morgen des nächsten Tages eintraf und am 31. Oktober als Ministerpräsident vereidigt wurde. Der Simulation eines politischen Umsturzes diente die faschistische „Siegesparade“ am 31. Oktober, an der Mussolini persönlich teilnahm. Erst dadurch entstand der „politische Mythos vom gewaltsam erzwungenen Umsturz durch den Faschismus.“[133] Der Einzug der Squadristen in Rom endete mit einem Überfall auf das Arbeiterviertel San Lorenzo, wo mehrere Menschen getötet wurden.