Evangelium nach Matthäus
Buch des Neuen Testaments / aus Wikipedia, der freien encyclopedia
Liebe Wikiwand-AI, fassen wir uns kurz, indem wir einfach diese Schlüsselfragen beantworten:
Können Sie die wichtigsten Fakten und Statistiken dazu auflisten Evangelium nach Matthäus?
Fass diesen Artikel für einen 10-Jährigen zusammen
Das Evangelium nach Matthäus (oder Matthäusevangelium, abgekürzt Mt) ist das erste der vier Evangelien des Neuen Testaments. Der Verfasser nennt seinen Namen im Buch nicht. Der Buchtitel und damit der Verfassername Matthäus wurden erst später hinzugefügt. Durch diesen Titel wird der Verfasser mit einer Person identifiziert, die im Buch als Jünger von Jesus erwähnt wird.
Das Matthäusevangelium stammt aus einem judenchristlichen Milieu in Syrien, entstand nach Mehrheitsmeinung etwa 80/90 n. Chr. und beschreibt Jesus von Nazaret als königlichen Messias sowie als Sohn Gottes. In scharfer Abgrenzung gegen jüdische Autoritäten (Pharisäer) schildert Matthäus, wie sich Jesus dem Volk Israel freundlich und hilfreich zugewandt habe. So habe er die Prophetenworte des Alten Testaments erfüllt. Die Lehre Jesu wird in fünf großen Reden entfaltet, von denen die Bergpredigt am bekanntesten ist. Nachfolge Jesu wird für Matthäus konkret im gerechten Handeln. Nach Ostern sah sich die Gemeinde des Matthäus beauftragt, Menschen aus allen Völkern zu missionieren. Sie wurden durch die Taufe der Ekklesia eingegliedert; die Autorität des Simon Petrus garantierte die authentische Jesustradition. Schon sehr früh rezipierte die mehrheitlich heidenchristliche Großkirche das Buch und machte es zu ihrem Hauptevangelium.
Da die Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas eine ähnliche Darstellung der Jesustradition bieten (Zusammenschau, Synopsis), die sich vom Evangelium nach Johannes unterscheidet, werden diese drei Schriften die Synoptischen Evangelien genannt.
Der griechische Buchtitel lautet εὐαγγέλιον κατὰ Μαθθαῖον euangélion katà Matthaĩon, „Evangelium nach Matthäus“. Er wird schon von Papias von Hierapolis vorausgesetzt; damit war das Buch bereits um das Jahr 100 n. Chr. unter diesem Namen bekannt. Die altkirchliche Überlieferung (Papias-Notiz und Ebionitenevangelium als früheste Zeugen)[1] bezeichnet den im Buch genannten Zöllner Matthäus (Mt 9,9 EU, Mt 10,3 EU) als Autor. Nach Ulrich Luz hat die Exegese bei dieser Frage nur die Wahl zwischen Erklärungen, die alle mit Schwierigkeiten behaftet sind: Dass das Buch ursprünglich einen anderen oder gar keinen Titel hatte, sei ebenso unwahrscheinlich wie die Annahme, dass der Verfasser ein sonst unbekannter Christ namens Mattaj gewesen sei – dieser aramäische Name ist relativ selten. Trotzdem ist der Buchtitel nach Luz jünger als das Buch selbst.[2]
Es ist nicht genau bekannt, wie die Evangelien zu ihrem jeweiligen Buchtitel (inscriptio) kamen. Die christlichen Ortsgemeinden sammelten wohl schon im 1. Jahrhundert wichtige Schriften, z. B. auch die Paulusbriefe, und tauschten sie untereinander. Martin Hengel vermutet, dass einzelne Gemeinden ihren Bücherschrank hatten, in dem Texte aufbewahrt wurden, die zum Verlesen im Gottesdienst, weniger zur privaten Lektüre, vorgesehen waren. Wahrscheinlich, so Hengel, wurden die Titel von jenen Schreibern hinzugefügt, die Kopien der Werke zur Weitergabe an andere Gemeinden anlegten.[3] Außerdem kam es vor, dass mehrere Evangelien zu einem Kodex vereint wurden. Erst 2012 wurde ein Vorsatzblatt mit dem Titel des Matthäusevangeliums publiziert, das als Fragment zu 4 gehört, einem Papyrus, der ansonsten Text aus dem Lukasevangelium enthält.[4]
Über den Verfasser des Evangeliums berichtete Papias von Hierapolis mit Berufung auf einen anonymen Presbyter:
„Matthäus hat nun in hebräischer Sprache die Worte (τὰ λόγια) zusammengestellt, ein jeder aber übersetzte sie, wie er dazu in der Lage war.“
Diese Information, erhalten als Exzerpt des Eusebius aus dem verlorenen Werk des Papias, steht im Widerspruch zu dem Befund, dass das Matthäusevangelium nicht nur auf Griechisch vorliege, sondern auch in dieser Sprache verfasst worden sei. „Stil und Sprachgebrauch sind durch das ganze Buch hindurch von einer Einheitlichkeit, die ein Übersetzer nie erreichen würde.“[6] Eine hebräische (oder aramäische) Urfassung von Überlieferungskomplexen lasse sich nicht nachweisen.[7] Doch muss die Wendung Ἑβραΐδι διαλέκτῳ Hebraḯdi dialéktō nicht unbedingt als „in hebräischer Sprache“ übersetzt werden; dies sei, wie Josef Kürzinger herausarbeitete, philologisch nicht einmal naheliegend. Gemeint habe Papias „in jüdischer Darstellungsweise“, nämlich eine bestimmte Art, den Stoff zu disponieren. Die altkirchlichen Autoren hätten Papias missverstanden.[8]
Mehrheitsmeinung
In der historisch-kritischen Exegese besteht ein weitgehender Konsens, wonach der Verfasser des Evangeliums namentlich nicht bekannt sei.[9] Diese Exegeten sehen hinter der Papias-Notiz von der Abfassung durch den Jünger Matthäus nämlich keine historische Information,[10] sondern den Wunsch, das Werk einem Apostel zuzuschreiben.[11] Allerdings ist auch die Vermutung, mit dem Namen Matthäus solle ein Garant für die kirchliche Tradition benannt werden,[12] rein hypothetisch.[13] Das Standardargument gegen die Abfassung durch den Jünger Matthäus lautet, dass das Matthäusevangelium vom Markusevangelium abhängig sei[10] und ein Augenzeuge sich bei der Abfassung nicht auf das Werk eines Nicht-Augenzeugen gestützt hätte.[2][14] Der anonyme Autor wird in der Fachliteratur der Einfachheit halber gleichwohl als „Matthäus“ bezeichnet.[15]
Während das Markusevangelium in einem volkstümlichen Griechisch geschrieben ist, wählte der Verfasser des Matthäusevangeliums einen gehobeneren Stil. Er schrieb knapper, konzentrierter. Gerne wiederholte er Formeln und arbeitete mit Leitworten, Chiasmen und Inklusionen. Anders als das Evangelium nach Lukas, in dem Formulierungen der Septuaginta bewusst als Stilmittel eingesetzt werden, ist Matthäus zwar stark vom Bibelgriechischen geprägt, ohne aber absichtlich Septuaginta-Stil zu schreiben.[16]
Der anonyme Autor wird häufig als judenchristlicher Gemeindeleiter charakterisiert, bzw. mit einer Formulierung von Ernst von Dobschütz als „Rabbi und Katechet.“[17] Martin Hengel vermutete, er habe eine „palästinisch-jüdische schriftgelehrte ‚Grundausbildung‘ erhalten.“[18] Er schrieb als „Exponent seiner Gemeinde“ und setzte dabei, wo er konnte, auf Vertrautes. Deshalb verwendete er Formeln, die im Gottesdienst rezitiert wurden (Vaterunser Mt 6,9–13 EU, Einsetzungsworte beim Abendmahl Mt 26,26–28 EU, Taufformel Mt 28,19 EU).[19]
Terminus post quem ist die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. Dies ist weitgehend Konsens der historisch-kritischen Exegese, denn sie erkennt im Matthäusevangelium mehrfach Bezugnahmen auf dieses traumatisierende Ereignis (z. B. Mt 22,7 EU, Mt 27,25 EU).[20] Außerdem folgt aus der Zweiquellentheorie, dass das Markusevangelium Matthäus bereits vorlag, und das Markusevangelium wird weitgehend nach dem Jüdischen Krieg datiert. Bei der Bestimmung des Terminus ante quem ist die Frage entscheidend, wer das Matthäusevangelium zitiert. Die Didache entstand in einer durch das Matthäusevangelium geprägten Gemeinde – aber ihre Datierung ist unsicher. Mehrere altkirchliche Autoren kennen das Evangelium (Ignatius von Antiochien, Polykarp von Smyrna, Barnabasbrief, Erster Clemensbrief, Justin), so dass das Buch um 100/120 offenbar bereits an verschiedenen Orten gelesen wurde: in Rom, in Smyrna, in Ägypten. Am nächsten kommt man der Abfassungszeit wohl, falls der Verfasser des 1. Petrusbriefs das Matthäusevangelium kannte (vgl. 1 Petr 2,12 EU und Mt 5,16 EU sowie 1 Petr 3,14 EU und Mt 5,10 EU). Alle Indizien zusammengenommen sprechen für eine Datierung bald nach dem Jahr 80 n. Chr.,[21] bzw. um 90 n. Chr., wenn man in Ignatius von Antiochien den ersten Autor sieht, der das Matthäusevangelium kannte.[22]
Recht allgemein wird eine Entstehung im syrischen Raum vermutet.[22] Ein textinterner Hinweis ist die Erwähnung von Syrien in Mt 4,24a EU, eine Notiz, die zeigt, dass diese Region dem Matthäus wichtig war.[23] Die schnelle Verbreitung des Buchs im östlichen Mittelmeergebiet spricht für die Abfassung in einer Stadt. Viele Exegeten denken dabei an Antiochia am Orontes,[24] obwohl z. B. Caesarea Maritima, Caesarea Philippi oder auch Edessa die gleichen Qualifikationen aufweisen: gute Einbindung in das antike Verkehrsnetz und einen größeren jüdischen Bevölkerungsanteil.[25] Man kann sich die Lebenswelt der Matthäusgruppe in Antiochia hypothetisch etwa so vorstellen: In der Stadt wurde griechisch gesprochen, auf dem Land dagegen aramäisch. Eine zentrale Synagoge wie in Alexandria gab es in Antiochia nicht, sondern einzelne jüdische Hausgemeinden. Auch die Matthäusgruppe war eine solche Hausgemeinde.[26]
Minderheitsmeinung
Im Gegensatz zur Mehrheit der heutigen historisch-kritischen Exegeten hält Gerhard Maier es für unbegründet, das einhellige Zeugnis der altkirchlichen Autoren beiseitezuschieben, und sieht daher den Apostel und Zwölferjünger Matthäus als Verfasser an.[27] Aus der Papias-Notiz gehe zwar nicht eindeutig hervor, ob Matthäus das älteste Evangelium verfasst habe, doch sei dies Konsens der gesamten frühen Kirche, und Irenäus von Lyon (um 180) gebe einen deutlichen zeitlichen Hinweis – Matthäus schrieb sein Werk, „als Petrus und Paulus zu Rom das Evangelium verkündeten“, also etwa 55–65 n. Chr. Maier stellt fest: „Der moderne Konsens […] steht in bewusstem Widerspruch zu den Quellen.“[28] Eine Stelle wie Mt 22,7 EU verweise nur für diejenigen auf die bereits erfolgte Zerstörung Jerusalems im Jahr 70, die nicht mit echter Prophetie rechneten.[29] Als Ort der Abfassung vermutet er, wiederum nach Irenäus und ebenso wie Theodor Zahn, Palästina bzw. das „Israelland.“[30] Mit Berufung auf die Papias-Notiz vermutete Theodor Zahn eine ursprünglich aramäische Abfassung des Matthäusevangeliums; hier legt sich Maier aber nicht fest und weist darauf hin, dass die knappe Notiz im Exzerpt des Eusebius unterschiedliche Deutungen erlaube.[31]
Craig S. Keener, der ursprünglich in der Verfasserfrage die Mehrheitsposition vertreten hatte, sucht in der Neubearbeitung seines Matthäuskommentars (2009) einen Kompromiss mit konservativen Autoren, die an der Historizität der Papias-Notiz festhalten. Er schlägt ein Szenario vor, bei dem eine Schule Traditionen weitergegeben habe, die bis auf den Jünger Matthäus zurückgehen; das Evangelium sei eventuell schon Ende der 70er Jahre in diesem Schülerkreis verfasst worden, aber keine Gemeinschaftsproduktion, sondern das Werk einer Verfasserpersönlichkeit.[32] John Nolland vertritt in seinem Kommentar (2007) eine Frühdatierung deutlich vor dem Jahr 70 und der Zerstörung Jerusalems, verbindet dies allerdings mit der Zweiquellentheorie, womit er für das Markusevangelium und die Logienquelle zu sehr frühen Datierungen, noch in die Lebenszeit der ersten christlichen Generation kommt.[33]
Mehrheitsmeinung
Die Zweiquellentheorie wird von historisch-kritischen Exegeten fast konsensual für die Vorgeschichte des Matthäusevangeliums genutzt:[34]
Der Autor verwendete demnach zwei ihm griechisch vorliegende Schriften, nämlich das Markusevangelium und die Logienquelle Q. Das Markusevangelium bildet das narrative Rückgrat, die Logienquelle bietet den Stoff für die in die Handlung eingefügten Redeblöcke.[35] Das matthäische Sondergut umfasst 25 Texteinheiten; da ein gemeinsames Leitmotiv nicht erkennbar ist, rechnet man hier nicht mit einer dritten schriftlichen Quelle.[36] Das waren also mündlich umlaufende Stoffe, die der Evangelist verschriftlichte. Etwa 50 % des Textes stammen aus dem Markusevangelium, das damit zu etwa 80 % ins Matthäusevangelium eingearbeitet wurde.[37] Etwas mehr als 25 % des Matthäus-Textes entfallen auf die Logienquelle und etwas weniger als 25 % auf das Sondergut.[38] Außerdem rechnen einige Exegeten mit einer schriftlich ausgearbeiteten Sammlung von Erfüllungszitaten (Zitate aus dem Alten Testament, die auf Jesus Christus bezogen wurden), die Matthäus bei der Abfassung seines Evangeliums vorgelegen haben könnte.[39]
Luz vermutet, dass die Logienquelle in verschiedenen Rezensionen umlief, einer kürzeren, die Matthäus benutzte, und einer erweiterten, die Lukas vorlag. Konkret stellt er sich die Logienquelle als eine Materialsammlung, eine Art antikes Notizbuch vor, in das leicht Blätter eingeschoben oder aus ihm entfernt werden konnten; das Markusevangelium sei dagegen als Kodex im Umlauf gewesen. Zur Erklärung der sogenannten Minor Agreements (Übereinstimmungen von Matthäus und Lukas, in denen sie vom Markus-Text abweichen) nimmt er an, dass die beiden Evangelisten eine Version des Markusevangeliums benutzten, die sich etwas von dem heute bekannten Markus-Text unterschied.[40] Dass Texte in einer „religiösen Rand- und Subkultur“ in leicht verschiedenen Fassungen zirkulierten, sei naheliegend.[41] Luz argumentiert hier als ein Vertreter der „Deuteromarkus“-Hypothese. Konradt wendet ein, dass diese Hypothese ein Problem löst, indem sie ein neues schafft: Denn nun muss man erklären, warum die Version des Markusevangeliums, die Matthäus und Lukas an verschiedenen Abfassungsorten vorlag, danach spurlos verschwand.[42]
Nach Konradt hatte Matthäus nicht einfach die Absicht, das Markusevangelium mit zusätzlichen Stoffen zu ergänzen, sondern er wollte Markus mit seinem eigenen Werk verdrängen, weil ihm dessen Konzeption missfiel. So habe Matthäus gegen seine Vorlage die Davidsohnschaft des Messias besonders herausgearbeitet, das Toraverständnis korrigiert und auch ein anderes Bild von den Jüngern Jesu gezeichnet. An der Logienquelle hatte Matthäus, soweit erkennbar, weniger Korrekturen anzubringen.[43]
Minderheitsmeinung
Indem er der Datierung des Irenäus von Lyon folgt, ergibt sich für Maier, dass Matthäus, mutmaßlich als Augenzeuge, das älteste Evangelium verfasst und folglich mitnichten das Markusevangelium benutzt habe. Die Ähnlichkeit beider Schriften ist für Maier damit zu erklären, dass Markus sich bei der Abfassung an Matthäus orientierte oder (wie schon Augustinus vermutete) eine Kurzfassung des Matthäusevangeliums anlegte.[44] Augenzeugenschaft heiße allerdings nicht, dass Matthäus wie ein moderner Autor seine persönlichen Erlebnisse mitteilen wollte, vielmehr habe er sich bei der Niederschrift am Alten Testament und auch an schriftlich oder mündlich umlaufenden Traditionen orientiert und diese einbezogen. Mit Berufung auf Karl Jaroš hält Maier die Logienquelle für ein „modernes Schreibtischgebilde“. Plausibler sei, dass mehrere Sammlungen von Jesusworten in Umlauf gewesen seien. Besonderes Gewicht hat für Maier 2 Tim 4,13 EU, denn bei den dort genannten μεμβράναι membránai könne es sich, wie Rainer Riesner vermutet, um „Pergament-Notizzettel“ handeln; solche Sammlungen von Jesusworten könnten auch schon zu Lebzeiten Jesu angelegt worden sein. Daraus schließt Maier, dass Jesustraditionen mündlich und schriftlich im Umlauf waren. Matthäus konnte seine Augenzeugenschaft und seine Erfahrungen als Apostel nutzen, um das Geeignete darunter auszuwählen.[45]
Keener hält anders als Maier an der Markuspriorität fest und identifiziert den Evangelisten Markus, im Einklang mit der altkirchlichen Tradition, als einen Autor, der Mitte der 60er Jahre für Christen in Rom schrieb. Durch das Netzwerk reisender Christen sei das Werk des Markus schon bald dem Verfasser des Matthäusevangeliums bekannt geworden, aber der habe jahrelang daran gearbeitet, das Markusevangelium mit seinem eigenen Material zu einer Komposition zu vereinen, so dass sich für Keener wieder die späten 70er Jahre als Zeitraum der Fertigstellung nahelegen.[46]
Als ständige Zeugen erster Ordnung liegen dem Text des Matthäusevangeliums im Novum Testamentum Graece zugrunde:
- Sämtliche Papyri, die Text dieses Evangeliums enthalten, nämlich: 1, 19, 21, 25, 35, 37, 44, 45, 53, 62, 64, 67, 70, 71, 73, 77, 83, 86 und 96;
- Majuskelhandschriften: Codex Sinaiticus, Codex Alexandrinus, Codex Vaticanus Graecus 1209, Codex Ephraemi Rescriptus, Codex Bezae Cantabrigiensis, Codex Regius (Neues Testament), Codex Washingtonianus, Codex Dublinensis, Codex Koridethi, Unzial 058, Unzial 067, Unzial 071, Unzial 073, Unzial 078, Unzial 085, Unzial 087, Unzial 089, Unzial 094, Unzial 0102, Unzial 0106, Unzial 0107, Unzial 0118, Unzial 0128, Unzial 0148, Unzial 0160, Unzial 0161, Unzial 0164, Unzial 0170, Unzial 0171, Unzial 0200, Unzial 0200, Unzial 0204, Unzial 0231, Unzial 0234, Unzial 0237, Unzial 0242, Unzial 0249, Unzial 0271, Unzial 0275, Unzial 0277, Unzial 0281, Unzial 0293 und Unzial 0298;
- Minuskelhandschriften: die Minuskelfamilien 1 (= Lake Group, mit der Leithandschrift Codex Basiliensis A.N.IV.2) und 13 (= Ferrar Group) sowie die Minuskel 33.
Das Matthäusevangelium konnte dem antiken Leser auf den ersten Blick als eine Lebensbeschreibung einer bedeutenden Persönlichkeit erscheinen. Einen grundsätzlichen Unterschied sieht Luz allerdings darin, dass hier nicht die typische Biografie eines vorbildlichen Menschen, sondern eine strikt einmalige Lebensgeschichte erzählt werde.[47] Ältere Bestimmungen des Werks als Handbuch (Krister Stendahl, The School of St. Matthew, 1954) oder als „kerygmatisches Geschichtswerk“ (Hubert Frankemölle, Jahwe-Bund und Kirche Christi, 1984) haben sich nicht durchsetzen können, während eine Bezeichnung als „Biografie“ (Graham N. Stanton) bzw. „Enkomion-Biografie“ (Peter L. Shuler: A Genre for the Gospels, 1982) häufig vertreten wird.[48]
Das Matthäusevangelium entzieht sich einer klaren Gliederung, wie sie bei den anderen Evangelien möglich ist. Das liegt am Evangelisten selbst, der auf eine zusammenhängende Erzählung Wert legte.[49] Hinzu kommt, dass in den Kapiteln 3 bis 11 die nichtmarkinischen Stoffe dominieren, während ab Kapitel 12 der Aufriss des Markusevangeliums, bis auf die eingeschobenen Jesusreden, übernommen wird. „Es ist, als ob der Evangelist Matthäus von Kapitel 12 an in seiner redaktionellen Aktivität erlahmte.“[50] Die verschiedenen Gliederungsvorschläge lassen sich drei Grundtypen zuordnen:[51]
- Modell der fünf Bücher. Matthäus hat fünf Jesusreden gestaltet: Bergpredigt (Kapitel 5 bis 7), Aussendungsrede (Kapitel 10), Gleichnisrede (Mt 13,1–52 EU), Gemeinderede (Kapitel 18) sowie Pharisäer- und Endzeitrede (Kapitel 23 bis 25). Diesen fünf Redeblöcken wird in diesem Modell je ein vorhergehender erzählender Abschnitt zugeordnet. Erzählerische Partien und Reden bilden zusammen den Hauptteil des Textes. Er wird gerahmt von einer Einleitung (Kapitel 1 und 2) und dem Schlussteil mit Passion, Kreuzigung und Auferstehung (Kapitel 26 bis 28). Manche Vertreter dieses Gliederungsmodells stellen die fünf Jesusreden den fünf Büchern des Pentateuch gegenüber: Jesus werde im Matthäusevangelium als neuer Mose porträtiert. Das Modell überzeugt nicht, weil die erzählerischen Abschnitte mit den nachfolgenden Reden thematisch kaum verbunden sind.
- Ringkomposition. Das Evangelium besitze eine Mitte, die meist in der dritten Jesusrede (Mt 13,1–52 EU) gefunden wird, und sei um diese herum chiastisch aufgebaut. Manche dieser chiastischen Bezüge sind frappant: Die erste und die letzte der fünf Reden Jesu sind fast gleich lang, die zweite und die vierte Rede sind auffällig kurz.
- Matthäus habe den Aufriss des Markusevangeliums übernommen. Dadurch ergeben sich zwei Hauptteile: Wirksamkeit in Galiläa (ab Mt 4,17 EU) und Weg nach Jerusalem als Weg in Leiden, Tod und Auferstehung (ab Mt 16,21 EU).[52] Im Unterschied zu den beiden anderen Gliederungstypen ist es hier der Fortschritt der Handlung, der den Aufbau des Evangeliums vorgibt, und nicht die in den Reden enthaltene Lehre Jesu.
Heute wird das Evangelium überwiegend als Erzählung verstanden (Grundtyp 3), in die die Reden an passender Stelle eingefügt wurden. Sie unterbrechen den Fortgang der Handlung und wenden sich direkt an den Leser in der Gegenwart, sie sind „gleichsam zu ihrem ‚Fenster‘ hinausgesprochen.“[48] Das Proömium hat eine doppelte Funktion. Es erzählt einerseits, wie die Geschichte von Jesus begann; es antizipiert aber auch den Verlauf der ganzen Jesusgeschichte, wodurch dem Leser bereits am Anfang „wichtige Lesegesichtspunkte“ vermittelt werden.[48]
Die folgende Inhaltsübersicht entspricht der Gliederung des Matthäuskommentars von Ulrich Luz (Spalten 1 und 2). In der dritten Spalte werden bekannte Texte des Matthäusevangeliums dieser Gliederung zugeordnet.
Sechs Hauptteile | Untergliederung | Bekannte Texte |
Präludium
(1,1–4,22) |
A: Die Kindheitsgeschichten (1–2)
B: Der Anfang des Wirkens Jesu (3,1–4,22) |
Vorfahren Jesu (1,1–17)
Heilige Drei Könige, Stern von Betlehem (Legendarisch aufgrund von 2,1–12), Gold, Weihrauch und Myrrhe Flucht nach Ägypten (2,13–15) Kindermord in Bethlehem (2,16–18) Taufe Jesu (3,13–17) Versuchung Jesu (4,1–11) |
Das Wirken Jesu in Israel in Wort und Tat
(4,23–11,30) |
A: Die Bergpredigt (5–7)
B: Jesu Wunder in Israel (8,1–9,35) C: Die Jüngerrede (9,36–11,1) D: Übergang. Die Krisis Israels vertieft sich (11,2–30) |
Salz der Erde (5,13)
Licht unter dem Scheffel (5,14–15) Vaterunser (6,9–13) Splitter und Balken (7,3–5) Haus auf Felsen und auf Sand gebaut (7,24–27) Heilung eines Aussätzigen (8,1–4) Hauptmann von Kafarnaum (8,5–13) Heilung der Schwiegermutter des Petrus (8,14–15) Sturmstillung (Christus im Sturm auf dem See Genezareth) (8,23–25) Neue Flicken auf dem alten Kleid (9,16) Neuer Wein in alten Schläuchen (9,17) Gleichnis von den musizierenden Kindern (11,16–30) |
Jesus zieht sich aus Israel zurück
(12,1–16,20) |
A: Der Konflikt mit den Pharisäern (12,1–50)
B: Die Gleichnisrede (13,1–53) C: Der Rückzug Jesu aus Israel und die Entstehung der Gemeinde (13,53–16,20) |
Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld (13,3–20)
Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (13,24–30) Gleichnis vom Senfkorn (13,31–32) Gleichnis vom Sauerteig (13,33) Gleichnis vom Schatz im Acker (13,44) Gleichnis von der kostbaren Perle (13,45–46) Gleichnis vom Fischnetz (13,47–50) Gleichnis vom Blindensturz (15,14) |
Jesu Wirken in der Gemeinde
(16,21–20,34) |
A: Jüngererfahrungen auf dem Weg ins Leiden (16,21–20,34)
B: Die Rede über die Gemeinschaft (18,1–35) C: Unterwegs nach Jerusalem (19,1–20,34) |
Verklärung des Herrn (17,1–8)
Schalksknecht (18,23–35) Kindersegnung (19,13–15) Gleichnis vom Nadelöhr (19,24) Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (20,1–16) |
Jesus in Jerusalem
(20,1–25,46) |
A: Jesu Abrechnung mit seinen Gegnern (21,1–24,2)
B: Die Rede vom Gericht (24,3–25,46) |
Tempelreinigung (21,12–17)
Verfluchung des Feigenbaums (21,18–22) Gleichnis von den ungleichen Söhnen (21,28–32) Gleichnis von den bösen Weingärtnern (21,33–41) Gleichnis vom großen Abendmahl (22,1–14) Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist (22,21) Sadduzäerfrage (22,23–33) Davidssohnfrage (22,41–46) Henne und Küken (23,37) Gleichnis vom Feigenbaum (24,32–33) Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen (25,1–13) Gleichnis von den anvertrauten Talenten (25,14–30) Bildrede vom Weltgericht (25,31–46) |
Passion und Ostern
(26,1–28,20) |
|
Abendmahl Jesu (26,17–29)
Verleugnung des Petrus (Mt 26,31–35) Blutruf (Mt 27,24–26) Missionsbefehl (Mt 28,19–20) |
Deutung der Person Jesus von Nazaret
Matthäus interpretiert Jesus als „Gott-mit-uns“ (Immanuel, vgl. Mt 1,23 EU).[53] So wird er im Proömium dem Leser vorgestellt. Der Evangelist entfaltet aber nicht argumentativ, wie er dieses Prophetenwort aus dem Alten Testament auf den Nazarener bezieht, sondern erzählt Geschichten über Jesus. Diese erhalten dadurch eine Doppeldeutigkeit: Vordergründig werden Begebenheiten aus dem Leben des Jesus von Nazaret mitgeteilt, diese werden aber transparent für Glaubenserfahrungen von Christen nach Ostern. Beispiele hierfür sind die Sturmstillung (Mt 8,23–27 EU) oder die Blindenheilung (Mt 20,29–34 EU).[54]
Die mit Kapitel 26 beginnende Passionsgeschichte vertieft das, was der Leser bis dahin über Jesus erfahren hat. Matthäus folgt dabei dem Ablauf des Markusevangeliums, bringt aber Korrekturen und Ergänzungen an. Jesus weiß im Voraus, dass man ihn verhaften, verurteilen und hinrichten wird (Mt 26,2 EU); als Gottes Sohn könnte er Engelsheere zu seiner Verteidigung aufbieten (Mt 26,52–54 EU). Aber er verzichtet darauf und geht bis zum Tod den Weg des Leidens und der Gewaltlosigkeit. Die jüdischen und römischen Akteure gebärden sich zwar, als könnten sie nach Belieben mit Jesus, ihrem Gefangenen, verfahren, doch sind sie nach Darstellung des Matthäus im Irrtum.[55] Wie im Markusevangelium und anders, als es die Evangelisten Lukas und Johannes darstellen, sind Jesu letzte Worte ein Zitat aus Psalm 22 (Mt 27,46 EU = Mk 15,34 EU = Ps 22,2 EU). „Jesus stirbt als Beter, der sich an seinen Gott wendet.“[56] Gott reagiert darauf und beglaubigt Jesus durch außerordentliche Phänomene, die zugleich die Entwertung des Tempels und der Stadt Jerusalem andeuten (Mt 27,51–53 EU). Die römischen Soldaten unter dem Kreuz erschrecken (da sie dem Göttlichen begegnet sind) und bekennen Jesus, den sie zuvor verspottet hatten, als Gottes Sohn.[57] Ein besonderes Element der matthäischen Ostererzählung ist, dass die Jünger nicht in Jerusalem, sondern in Galiläa dem Auferstandenen begegnen; „das theologische Programm des Gegensatzes zwischen Galiläa und Jerusalem wird nachösterlich fortgeschrieben.“[58]
Jüngerschaft und Gemeinde
Was Matthäus unter Gemeinde versteht (Ekklesiologie), macht er mit den beiden Zentralbegriffen „Jünger“ (altgriechisch μαθητής mathētḗs) und „nachfolgen“ (altgriechisch ἀκολουθέω akolouthéō) deutlich; „die Gestalten der Jünger sind die wichtigste Konfiguration des ‚impliziten Lesers‘“. Sie sind zum Beispiel „kleingläubig“, Schüler des „einzigen Lehrers“ (Mt 23,8 EU), der sie beschützt (Mt 28,20 EU). Ihre eigenen Lebenserfahrungen lassen sich im Licht seiner Biografie deuten. Indem sie seine Gebote befolgen, sind sie auf dem Weg zu ethischer Vollkommenheit (Mt 5,48 EU, Mt 19,16–21 EU).[54]
Bei Matthäus ist außerdem das Vaterunser von Bedeutung für das Gemeindeleben: es tritt als Erkennungsmerkmal der Christen als das „durch den Kyrios persönlich eingesetzte Vatergebet“ (Karl-Heinrich Ostmeyer) in Kraft. Es geht dem Evangelisten nicht um den genauen Wortlaut, sondern das Gebet als ganzes galt als eine Besonderheit der Christen. Von diesem Gebet wurden also diejenigen Beter ausgeschlossen, die in Jesus nicht den Kyrios sahen.[59]
Man könnte Simon Petrus als die wichtigste Nebenrolle im Matthäusevangelium bezeichnen. Die Figur wird vom Evangelisten auf verschiedene Weise eingesetzt:[60]
- Petrus ist Sprecher für die anderen Jünger. Er spricht aus, was alle denken. Er fragt nach und wird von Jesus unterrichtet und korrigiert.
- Er ist der typische Christ, mal mutig, mal schwach.
- Er ist aber auch eine einmalige historische Person. Für das Matthäusevangelium ist Petrus eine Gründergestalt, vergleichbar mit dem „Lieblingsjünger“ im Evangelium nach Johannes. Petrus als Garant der Jesustradition war in Syrien besonders wichtig (z. B. Pseudo-Klementinen).
Matthäus lässt Jesus nach einigen Wanderungen einen festen Wohnsitz beziehen (Mt 4,13 EU). Er schreibt für eine sesshafte Gemeinde. Aber die Ekklesia wird als ein Gemeindeboot imaginiert, in das man einsteigen kann und von dem man nach Stürmen auf der Überfahrt an ein neues Ufer getragen wird.[61]
Ethik – die bessere Gerechtigkeit
Die Bergpredigt ist der Kerntext des „Evangeliums vom Reich“ (Mt 4,23 EU), das Jesus im Matthäusevangelium verkündigt. Matthäus hat kein Problem damit, in der Bildrede vom Weltgericht auszumalen, wie Menschen aufgrund ihres ethischen Verhaltens ihr Urteil empfangen und dementsprechend ins Reich Gottes oder aber ins ewige Feuer eingehen (Mt 25,46 EU). Dahinter steht die Überzeugung, „daß der Mensch gerade in seinen Taten von Gott als Person ernst genommen wird.“[62] In polemischer Abgrenzung von Pharisäern und jüdischen Schriftgelehrten fordere das Matthäusevangelium von seinen Lesern eine „bessere Gerechtigkeit“, die sich durch Taten auszuweisen habe (Mt 5,20 EU). Für Reinhard Feldmeier ist das eine doppelt problematische Begründung der Ethik: Einerseits impliziere sie eine moralische Minderwertigkeit des pharisäischen Judentums, andererseits ende jede ethische Mahnung mit dem Blick auf das Gericht, bei dem kein Christ sicher sein könne, den Ansprüchen zu genügen:
„Matthäus zahlt also […] den Preis, dass er zwischen der empirischen Kirche und den wahrhaft Geretteten unterscheiden muss und diese Unterscheidung ständig als Warnung, ja Drohung zur Sprache bringt. […] In keinem anderen Evangelium wird auch nur annähernd so oft gedroht wie im ersten Evangelium, und Worte wie Gericht, Gerichtstag, die äußerste Finsternis (als Strafort) sowie Heulen und Zähneklappern gehören zu seinem ausgesprochenen Vorzugsvokabular.“[63]
Diesen Schattenseiten der matthäischen Ethik stehen positive Seiten gegenüber, mit denen Matthäus ethische Entwürfe im Christentum inspirierte:[64]
- Doppelgebot der Liebe (Mt 22,37–40 EU);
- Barmherzigkeit als Inbegriff der Tora (Mt 23,23 EU);
- Jesus identifiziert sich mit den Geringsten und Verachtetsten (Mt 25,40 EU);
- Jesus wendet sich den schwachen Menschen freundlich zu (Mt 11,28–30 EU) und spricht von Gott als dem himmlischen Vater.
Hat sich der Evangelist Matthäus von der Synagoge getrennt? Edwin K. Broadhead bezeichnet diese Frage (2017) als das umstrittenste Thema der aktuellen Matthäusexegese. „Im Kern geht es darum, ob die harsche Kritik an Pharisäern und anderen Juden in ihrer Abwesenheit vorgebracht wird oder in einer persönlichen Konfrontation.“[65] Daran entscheidet sich auch, ob das Matthäusevangelium antijudaistisch ist oder „nur“ die Art und Weise, wie es in der Großkirche, nach Marginalisierung des Judenchristentums, rezipiert wurde.
Begriffsklärung: Synagoge im 1. Jahrhundert n. Chr. Der Wortbedeutung nach kann das eine Versammlung von Menschen sein; epigraphisch gesichert ist aber auch die Synagoge als Gebäude, bzw. Gebäudekomplex. Wie insbesondere die Theodotos-Inschrift zeigt, dienten ihre Räume nicht exklusiv religiösen Zwecken (Gebet, Toralesung und -studium, rituelle Waschungen), sondern auch zur Beherbergung von Gästen und verschiedenen kommunalen Aufgaben. Es war eine Art Gemeindehaus, eine „vorwiegend sozial-kommunale Institution […], in der auch religiöse Veranstaltungen ihren Raum hatten.“[66] Weitgehender Konsens besteht darüber, dass Pharisäer in Synagogen nicht mehr Einfluss hatten als andere Gruppen und jüdische Priester nicht selten Führungsaufgaben wahrnahmen. Die Leitung von Synagogen war hierarchisch organisiert, es gab Ämter und Titel. Unsicher ist, ob Synagogen eher öffentliche Gebäude waren oder halböffentlich, entsprechend römischen collegia; und wenn Synagogen aus der Außenperspektive wie collegia erschienen, ist nicht sicher, ob sich das aus der Perspektive von Mitgliedern auch so darstellte.[67]
Bleibende Erwählung oder Verwerfung Israels
Das Matthäusevangelium betont so stark wie keine andere Schrift des Neuen Testaments die bleibende Bedeutung der religiösen Traditionen Israels für seine christlichen Leser. Der Evangelist erzählt die Jesusgeschichte mit ständigem Bezug auf Israels heilige Schriften neu. Jesus ist ganz seinem Volk zugewandt, indem er es belehrt, die Nähe der Gottesherrschaft verkündet und Krankheiten heilt (Mt 4,23 EU). Dementsprechend strömen Menschen aus ganz Israel bei Jesus zusammen und folgen ihm nach (Mt 4,25 EU). Dazu passt auch der Titel „Sohn Davids“, der Jesus im Matthäusevangelium immer wieder zugesprochen wird.[68]
„Es sind die Pharisäer und Schriftgelehrten, die der sich etablierenden Jesusschule – und insbesondere ihrem Gründer – ablehnend gegenüberstehen. Die Volksmengen dagegen zeigen neugieriges Interesse.“ (Martin Ebner)[69] Der Evangelist unterscheidet zwischen dem einfachen Volk (der „Herde“), das er positiver sieht als seine Vorlage, und den jüdischen Autoritäten (den „Hirten“), die er umso negativer zeichnet. Beide Gruppen werden kontrastiert (z. B. Mt 9,33–34 EU). Die Hirten/Herde-Metaphorik lag bereits in der Tradition bereit (Jer 23,1–6 EU). Für Ulrich Luz ist die positive Charakterisierung des einfachen Volkes freilich nur ein Zwischenstand: Die Unterscheidung zwischen dem einfachen Volk und den Autoritäten werde in der Passionsgeschichte aufgehoben, indem sich das Volk an die Seite seiner Führer begebe, mit weitreichenden Konsequenzen: „[Das] heilige Volk, das sich mit seinen Führern in der Passion identifiziert, [wird] seine Israelschaft verlieren; es wird zu den ‚Juden‘ (vgl. zu Mt 28,15).“[70]
Als Ertrag seines vierbändigen Kommentarwerks fasste Luz zusammen, dass Antijudaismus nicht nur die Wirkungsgeschichte des Matthäusevangeliums prägte (als Missverständnis der späteren Leser), sondern im Buch selbst enthalten sei.[71] Problematisch seien nicht einzelne Formulierungen oder Textabschnitte, sondern die ganze Buchkomposition. Das Buch habe nämlich ein doppeltes Ende: eine ausweglose Situation für „die Juden“, die nach der Auferstehung Jesu quasi in eine Sackgasse geraten seien (Mt 28,11–15 EU), und einen Auftrag für die Jüngergemeinde zur weltweiten Mission (Mt 28,16–20 EU).[72] Sie lasse Israel hinter sich und breche zu neuen Ufern auf. Luz rät als christlicher Theologe zu einem kritischen Umgang mit dem Matthäusevangelium:
„Der matthäische Antijudaismus war für die Selbstdefinition der matthäischen Gemeinde in der Situation einer Krise und eines Übergangs wichtig. Mit der Kanonisierung seines Evangeliums machte die Kirche aber diese in einer bestimmten Situation wichtige Selbstdefinition zu einem dauernden Wesensmerkmal des Christentums […] ganz unabhängig davon, ob und was für Begegnungen mit Juden man hatte. Das Judentum wurde zum Schatten, gegenüber dem sich dauernd das christliche Licht abhob.“[73]
Matthias Konradt betont dagegen, dass Matthäus nirgends eine Verwerfung Israels behaupte, auch keine Ablösung Israels durch die Kirche, sondern die Ersetzung der alten, bösen und heuchlerischen Autoritäten durch die Jesusjünger.[74] Die ständigen intertextuellen Bezugnahmen auf das Alte Testament seien bei Matthäus Teil einer kommunikativen Strategie. So bestärke der Autor seine Leser darin, dass sie selbst die legitimen Sachwalter der Traditionen Israels seien.[75]
Als Beispiel für die Konsequenzen, die sich aus den unterschiedlichen Ansätzen von Luz und Konradt ergeben, kann die Interpretation von Mt 8,5–13 EU dienen, die Perikope vom Hauptmann von Kafarnaum. Es ist ein Stoff der Logienquelle Q, den Matthäus deutlich anders erzählt als Lukas. Solche Änderungen sind für Exegeten Hinweise auf das Profil des jeweiligen Evangeliums. Matthäus fügte die Verse 11 und 12 ein, Worte, mit denen sich Jesus an seine Jünger wendet: „Viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen; aber die Söhne des Reiches werden hinausgeworfen in die äußerste Finsternis; dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.“
- Für Luz enthalten diese Sätze die Verwerfung Israels und die Begründung der Heidenmission. Die Schwierigkeit dabei ist, dass der matthäische Jesus in Kapitel 8 noch gar keine negativen Erfahrungen mit Israel gemacht hat, die dessen Verwerfung begründen könnten. Luz bezeichnet diese Sätze deshalb als „Wetterleuchten“, womit für den Leser schon einmal angedeutet werde, wie sich diese Konfrontation im Evangelium verschärfen wird.[76]
- Konradt weist darauf hin, dass die Formulierung „von Osten und Westen kommen“ in der hebräischen Bibel (Tanach) für die sogenannte „Völkerwallfahrt zum Zion“ nicht üblich sei, aber gut belegt als Bezeichnung für die erhoffte Rückkehr der Diasporajuden nach Israel. Das legt er seiner Textinterpretation zugrunde: die palästinischen Juden, denen Jesus von Nazaret persönlich begegnete, hätten ihre Vorzugsstellung verspielt und würden durch Juden aus der Diaspora ersetzt.[77]
Zerstörung von Jerusalem
Matthäus ordnet die Stadt Jerusalem den negativ bewerteten jüdischen Autoritäten zu. Sie haben dort quasi ihr Zentrum. In Mt 27,25 EU übernehmen die Jerusalemer mitsamt ihren Kindern die Verantwortung für Jesu Tod. Diese beiden Generationen erlebten mit, wie römische Truppen Jerusalem belagerten und im Jahr 70 einnahmen und zerstörten. Der Evangelist konstruiert einen Zusammenhang zwischen dem Tod Jesu und dem Fall Jerusalems und deutet die Zerstörung der Stadt als sichtbaren Beweis dafür, dass die Jerusalemer sich den falschen Autoritäten anvertraut hätten.[79]
In die Parabel vom Hochzeitsmahl des Königssohns (Mt 22,1–14 EU) trägt der Evangelist in Vers 7 die Zerstörung Jerusalems ein, was den Zusammenhang der Parabel stört, weil das vorbereitete Festmahl nun so lange warten muss, bis der König seine militärische Strafaktion beendet hat.[80] Luz kommentiert: Jerusalem sei für Matthäus die „Stadt der Mörder.“ Die Katastrophe des Jahres 70 beende die lange geschichtliche Periode göttlicher Zuwendung zu Israel „definitiv“; diese Epoche werde „durch die der Heidenmission abgelöst.“[81] Peter Fiedler dagegen schreibt dem Evangelisten die Auffassung zu, dass Gottes Zorngericht über die schlechten Autoritäten in Gestalt der Zerstörung Jerusalems „zwangsläufig“ auch das Leiden vieler Unschuldiger aus der einfachen Bevölkerung bedeutet habe. Aber Gottes Geschichte mit Israel sei deswegen nicht zu Ende, sondern „weiter offen“, Jerusalem bleibe bis zum Schluss des Evangeliums die „heilige Stadt“ (Mt 27,53 EU).[82]
Ein jüdisches Buch?
Extra Muros („vor den Mauern“) oder intra muros („innerhalb der Mauern“): Mit diesen Metaphern wird in der Exegese die Frage diskutiert, ob sich Matthäus und die Gruppe, für die er schreibt, innerhalb des Judentums befanden oder außerhalb. Diese traditionelle Begrifflichkeit ist aber wenig geeignet, die komplexe soziale Realität zu beschreiben. Im Evangelium werden innerjüdische Differenzierungen erkennbar: es finden eigene Versammlungen außerhalb der Synagogen statt. Das Judentum bildete aber weiterhin den primären Lebenskontext der matthäischen Gemeinde.[83] Knut Backhaus schlug deshalb eine Gegenmetapher vor: die vermeintlichen Mauern seien „kognitive Wanderdünen“, ob draußen oder drinnen also eine Frage der Perspektive des modernen Betrachters.[84] Doch für die damals Beteiligten – die Matthäusgruppe einerseits, ihre pharisäischen Gegner andererseits – habe sich der Streit durchaus als Kampf um die Mauern, also um Grenzziehungen, dargestellt. Beide Streitparteien seien durch ihr jüdisches Bezugssystem (heilige Schriften, Kultsymbole, Geschichtsdeutungen, Bilderreservoirs usw.) im Konflikt verbunden gewesen, während ein paganes Bezugssystem im Matthäusevangelium nicht existiert: „Die Heiden, die in der erzählten Welt des Mt in den Raum des Evangeliums treten, weisen sich dadurch aus, dass sie den jüdischen Sinnkosmos für ihr eigenes Fragen und Finden grundsätzlich anerkennen.“[84]
Zweimal ist im Evangelium von den Synagogen der Gegner die Rede, in denen die Jesusjünger auf Misshandlungen gefasst sein müssten (Mt 10,17 EU, Mt 23,34 EU). Eine solche Warnung setzt für Konradt voraus, dass Jesusjünger diese Synagogen trotzdem aufsuchten, mutmaßlich um für ihre Sache zu werben.[85] Hier hat Luz Interpretationsschwierigkeiten, denn er vertritt an sich den Grundsatz, dass der matthäische Jesus in den Redekompositionen direkt in die Gegenwart der Gemeinde hineinspreche. Nun sieht es so aus, dass diese christlichen Leser Synagogen besuchen und das für sie gefährlich ist. Das kann aber gar nicht sein, wenn man sich längst von der Synagoge getrennt hat. Luz hilft sich mit folgender Hypothese: „Der matthäische Jesus blickt in die Zukunft. Er spricht aber nicht von der Gegenwart der Leser/innen, sondern von der vergangenen Zeit, als sie noch unter der Jurisdiktion der Synagoge standen und ausgepeitscht wurden.“[86] Die Verfolgungserfahrungen, in denen man auch den leidenden Jesus vor der Kreuzigung wiedererkennen könne, seien etwas Typisches: früher, vor dem Synagogenausschluss, bei der Israelmission – in der Gegenwart bei der Mission in der Völkerwelt.[86]
Mission unter Nichtjuden
Mit dem Missionsbefehl des auferstandenen Christus endet das Matthäusevangelium (Mt 28,16–20 EU). Damit öffnet sich die Gemeinde des Matthäus programmatisch für Nichtjuden. Eine christliche Auslegungstradition las das Evangelium so, dass sich Jesus von Nazaret mit seiner Botschaft an Israel gewandt habe, von seinem Volk aber abgelehnt worden sei (gipfelnd im „Blutruf“), und an die Stelle Israels trete nach Ostern die universale Kirche.[87] Konradt schlägt eine andere Lektüre vor, ausgehend von den beiden christologischen Hoheitstiteln Sohn Davids und Sohn Gottes. Beide fand Matthäus bereits im Markusevangelium vor und entfaltete sie in einer für ihn charakteristischen Weise:[88]
- Sohn Davids: Als davidischer Messias wende sich Jesus seinem Volk freundlich und hilfreich zu, das wegen des Versagens der alten Autoritäten darniederliege. So bringe er die biblischen Verheißungen an Israel zur Erfüllung.
- Sohn Gottes: Die Verheißung an Abraham, zum Segen für alle Völker zu werden, sei von Anfang an (Mt 1,1 EU) im Blick des Evangelisten.[89] Die Gottessohnschaft Jesu werde aber zunächst nur den Jüngern enthüllt. In diesem Zusammenhang hat das Petrusbekenntnis und die Zusage an ihn kompositorisch zentrale Bedeutung: Petrus bekennt Jesus als „Sohn des lebendigen Gottes“ – so ergänzt Matthäus den Markus-Text, der Petrus Jesus als Messias bekennen lässt (vgl. Mt 16,16 EU und Mk 8,29 EU). Ein besonderes Lob von Jesus, Petrus spreche so durch eine Offenbarung Gottes, zeigt, wie wichtig dem Matthäus gerade dieser Hoheitstitel an dieser Stelle ist (Mt 16,17 EU). Jesus will auf Petrus, den „Felsen“, seine Ekklesia bauen (was konfessionell verschieden als Kirche oder als Gemeinde übersetzt wird). Realisiert werde diese Ekklesia aber erst durch die Mission nach Ostern: Leiden, Tod und Auferstehung des Gottessohnes bezögen Menschen aus allen Nationen in den Abrahamssegen mit ein.[90]
Die ältere Forschung nahm selbstverständlich an, dass von den Neuchristen nicht das Einhalten der Tora erwartet wurde, insbesondere nicht die Beschneidung. Dieser Konsens gilt nicht mehr, wenn das Matthäusevangelium als ein jüdisches Buch gesehen wird. David Sim vertritt unter anderem mit Verweis auf Mt 5,18 EU die These, dass die Matthäusgruppe die Neuchristen durch Beschneidung zu Proselyten machte. Nirgends signalisiere der matthäische Jesus, dass für gebürtige Juden und gebürtige Nichtjuden eine je verschiedene Tora gelte.[91] Sim kommt in Erklärungsschwierigkeiten bei Mt 28,18 EU: Menschen aus allen Völkern (altgriechisch πάντα τὰ ἔθνη pánta tà éthnē) werden durch die Taufe in die Gemeinde aufgenommen. Er hilft sich mit der Vermutung, Selbstverständliches (wie die Beschneidung) müsse nicht genannt werden. Und dann sei die Anweisung ohne große Praxisrelevanz – welcher Syrer hätte nach dem Jahr 70 Interesse gehabt, einer allgemein verachteten Bevölkerungsgruppe wie den Juden beizutreten? Von einem nennenswerten Missionserfolg der Matthäusgemeinde unter Nichtjuden könne keine Rede sein; die wenigen Ausnahmen hätte die Gemeinde leicht integrieren können, ohne dass dadurch ihre jüdische Identität in Frage gestellt wurde.[91]
Konradt macht sich diese Argumentation nicht zu eigen. Er zeigt am Beispiel der Konversion des Izates II. von Adiabene[92] auf, dass im Judentum verschiedene Ansichten über die Notwendigkeit der Beschneidung existierten. Zwar sei dieses Ritual zur Zeit des Matthäus wahrscheinlich obligatorisch gewesen, doch habe das Diasporajudentum zahlreichen „Gottesfürchtigen“ auch ohne Beschneidung weitgehende Teilnahmemöglichkeiten am synagogalen Leben gegeben. Hier ordnet er auch Matthäus und seine Gemeinde ein.[93] Fiedler hält es für „nicht ganz eindeutig“, ob die von der Matthäusgemeinde bekehrten Neuchristen zum Judentum übertraten, was für Männer die Beschneidung implizierte, oder den Status von „Gottesfürchtigen“ wählten und die jüdische Lebensweise, wie sie in der Gemeinde des Matthäus praktiziert wurde, weitestgehend übernahmen.[94] Udo Schnelle hält diese Vorschläge für unplausibel: „[Dem] Judenchristen Matthäus kann nicht entgangen sein, dass es ohne Beschneidung kein Judentum und auch keinen ernsthaften innerjüdischen Dialog gibt!“[95]