Kontemplation
konzentriert vertieftes Betrachten / aus Wikipedia, der freien encyclopedia
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Kontemplation (von lateinisch contemplatio „Richten des Blickes nach etwas“, „Anschauung“, „[geistige] Betrachtung“[1]) ist in philosophischen und religiösen Texten die Bezeichnung für ein konzentriertes Betrachten. Dies entspricht ungefähr dem Begriff ϑεωρία (theōría) in der griechischen Philosophie. In erster Linie geht es dabei um Betrachtung eines geistigen, ungegenständlichen Objekts, in das man sich vertieft, um darüber Erkenntnis zu gewinnen. Im religiösen Kontext ist das Objekt oft eine Gottheit oder deren Wirken. Kontemplation präsentiert sich als intuitive Alternative oder weiterführende Ergänzung zum diskursiven Bemühen um Erkenntnis.
Wenn im menschlichen Leben die Betrachtung eine dominierende Rolle spielt, spricht man von einer theoretischen oder kontemplativen Lebensform oder -phase (lateinisch vita contemplativa) im Gegensatz zur „praktischen“ Lebensweise, dem auf äußere Aktivität ausgerichteten „tätigen“ Leben (vita activa). Das Spannungsverhältnis und die Rangordnung zwischen Betrachtung und Aktivität zählt seit der Antike zu den am intensivsten diskutierten Themen der philosophischen und religiösen Ethik. In der Antike und im Mittelalter herrschte in tonangebenden intellektuellen Kreisen die Auffassung vor, dass die Beschaulichkeit die beste Daseinsform sei, da sie die wertvollsten Früchte erbringe. Dies änderte sich jedoch in der Neuzeit, vor allem in der Moderne; die herkömmliche Überzeugung, dass kontemplative Reflexion einen privilegierten Zugang zu besonders wichtigen Einsichten biete, stieß auf zunehmende Skepsis.
Kontemplationskonzepte wurden zuerst in antiken Philosophenschulen ausgearbeitet. Im Christentum wird die Kontemplation seit der Zeit der Kirchenväter als Ausrichtung auf Gott geschätzt, gepflegt und in spiritueller Literatur eingehend erörtert. Für große Teile der christlichen Welt bildet die kontemplative Betrachtung der Werke Gottes und eine auf Gott selbst gerichtete Kontemplation traditionell einen Kernbestandteil des religiösen Lebens der Frommen. Dies gilt vor allem für das katholische und das orthodoxe Eremiten- und Mönchtum, aber auch für eine weit verbreitete Laienfrömmigkeit. Oft wird von der Kontemplation eine Erfahrung von Gottes Gegenwart oder sogar eine Gottesschau erhofft. Die geistlichen Autoren pflegen aber seit jeher zu betonen, dass solche Schau ein göttlicher Gnadenakt sei und vom Menschen nicht aus eigener Kraft herbeigeführt werden könne.
Auch im Islam, Hinduismus und Buddhismus sind kontemplative Praktiken verbreitet.
Das lateinische feminine Substantiv contemplatio ist vom Verb contemplari abgeleitet, das „beschauen“, „(in der Nähe) betrachten“, „sein Augenmerk auf etwas richten“ bedeutet. Es handelt sich um eine Wortbildung aus dem Präfix con- („zusammen“, „mit“, „von allen Seiten“) und dem Substantiv templum, einem Fachausdruck aus dem Auguralwesen. Die römischen Auguren, mit der Wahrsagung beauftragte Beamte, sollten den Willen der Götter ermitteln, indem sie in einem bestimmten Bereich des Himmels den Vogelflug beobachteten und deuteten. Als templum bezeichnete man in der Fachsprache der Vogelschau die Beobachtungshütte, in der sich der Augur bei seiner Tätigkeit aufhielt, und – sekundär – auch das Beobachtungsfeld am Himmel, das er von dort aus in den Blick nahm. Der Ausdruck templum, der ursprünglich für jedes Bauwerk verwendet wurde, erhielt im Lauf der Zeit unter dem Einfluss seines Gebrauchs im Auguralwesen eine spezielle sakrale Bedeutung („Heiligtum“, „geweihter Bezirk“). Er wurde dann in erster Linie für Kultbauten verwendet, die einer bestimmten Gottheit geweiht waren. Davon ist das deutsche Wort Tempel abgeleitet. Contemplari, ursprünglich das Beobachten als Aufgabe der Auguren, konnte später jede Art des aufmerksamen Betrachtens sowohl im sinnlichen als auch im geistigen Bereich bezeichnen. Cicero, der als Vermittler griechischen Gedankenguts die lateinische philosophische Terminologie maßgeblich prägte, gab den griechischen Ausdruck ϑεωρία (theōría, „geistige Schau“) mit contemplatio wieder.[2]
Schon im Mittelalter wurde das Wort in den Formen contemplâcie, contemplatiône und contemplacion als Entlehnung aus dem Lateinischen in die spätmittelhochdeutsche Sprache übernommen. Es bezeichnet im Deutschen wie im Lateinischen die beschauliche, nicht mit praktischem Handeln verbundene Betrachtung religiöser Inhalte, insbesondere die Versenkung in die Werke Gottes und in die Gottheit selbst.[3]
Seit dem 18. Jahrhundert ist das Adjektiv kontemplativ („betrachtend“, „beschaulich“, „untätig“), abgeleitet von lateinisch contemplativus, im Deutschen geläufig. Man verwendet es auch außerhalb religiöser Zusammenhänge für das Sichvertiefen in die Betrachtung der Natur oder eines Kunstwerks oder für eine besinnliche Haltung und beschauliche Lebensweise. Bildungssprachlich kommt auch das Verb „kontemplieren“ (sich der Kontemplation hingeben) vor.[4]
Das Konzept des auf Erkenntnis ausgerichteten Verhaltens, das später Kontemplation genannt wurde, und einer entsprechenden Haltung und Lebensweise stammt aus der griechischen Philosophie. Der griechische Fachausdruck war theōría, ein Wort, das vor- und außerphilosophisch das Anschauen, insbesondere das Zuschauen bei Festspielen, und das damit verbundene Kennenlernen des Gesehenen bezeichnete. In der Philosophie erhielt theōría die spezielle Bedeutung des Erfassens grundlegender geistiger Inhalte. Später übernahmen christliche Denker, denen es um die Gotteserkenntnis ging, den Begriff.[5]
Philosophie
Vorsokratiker
Eine Hochschätzung der kontemplativen, „theoretischen“ Lebensweise als beste Art der Daseinsgestaltung, verbunden mit massiver Abwertung praktischer Zielsetzungen, wurde in der Antike schon dem Philosophen Pythagoras zugeschrieben, der im 6. Jahrhundert v. Chr. lebte. Nach einer stark beachteten Anekdote verglich Pythagoras das menschliche Leben mit einem Festspiel, bei dem Wettkämpfe veranstaltet werden. Zu dem Fest kämen manche als Wettkämpfer, die den Preis erringen wollten, andere als Händler, die Besten aber als Zuschauer. So sei es auch im Leben: Die einen seien nach Ruhm oder Gewinn gierig, die anderen – die Philosophen – wollten nach Wahrheit forschen. In der Ruhm- oder Gewinnsucht zeige sich eine sklavische Gesinnung, die im Gegensatz zur philosophischen Haltung stehe. Der Philosoph gebe der Betrachtung und Erkenntnis vor allen anderen Bestrebungen den Vorrang. Falls die Anekdote einen historischen Kern hat, hat Pythagoras bereits den Vergleich zwischen aktivem und beschaulichem Leben angestellt und die später gängige Einschätzung vertreten, der zufolge die Kontemplation als Lebensform der äußeren Aktivität objektiv überlegen ist.[6] Im 5. Jahrhundert soll der Vorsokratiker Anaxagoras ebenfalls den eigentlichen Sinn des menschlichen Lebens in der Kontemplation gesehen haben. Ihm wird die Ansicht zugeschrieben, das Leben sei lebenswert, weil es ermögliche, den Himmel und die Ordnung im Weltall zu betrachten.[7]
Platon
Für Platon (428/427–348/347 v. Chr.) war die Überlegenheit der betrachtenden Haltung unzweifelhaft, doch verband er damit keine Geringschätzung des tätigen Lebens. Seine Philosophie sollte zur „Schau“ der nicht sinnlich wahrnehmbaren, nur geistig erfassbaren „Ideen“ hinführen. Mit großer Überzeugungskraft verkündete er das Ideal einer solchen Kontemplation, in der er die wahre Bestimmung des Menschen sah. Das philosophische Leben sei in erster Linie der beglückenden Betrachtung rein geistiger Schönheit und Vortrefflichkeit gewidmet. Diese war für Platon das lohnendste Ziel, denn in den Ideen sah er die eigentliche, in höchstem Maß attraktive Wirklichkeit. Allerdings legte er auch großen Wert auf die handlungsanleitende Funktion des kontemplativ erlangten Wissens, das zugleich Verpflichtung bedeute. Der Philosoph solle sich nicht auf die Erkundung der geistigen Welt beschränken. Vielmehr sei es seine Aufgabe, von dort zurückzukehren, denn er habe sein durch kontemplative Einsicht erlangtes Verständnis der Weltordnung für das Wohl seiner Mitbürger fruchtbar zu machen. Bei Platon führt die geistige Betrachtung somit nicht vom sozialen und politischen Handeln weg, sondern schließlich wiederum zur Aktivität in Familie, Freundeskreis und Staat hin.[8]
Nach Platons Verständnis ist die philosophische Wahrheitssuche ein auf Argumente gestützter diskursiver Prozess. Dabei verwandelt sich eine bloße richtige Meinung in ein Verstehen, über das man Rechenschaft ablegen kann. Dies ist aber nur einer der Aspekte der Erkenntnis; ein anderer ist die Schau. Platon verwendete gern die Metapher des Schauens, um den Kontakt des Philosophen mit der Wirklichkeit – dem zeitlosen Sein – zu charakterisieren. Aus seiner Sicht ist eine solche Schau die vollkommene Weise des Erkennens, weil sie sich auf das Ursprüngliche richtet, das allem Zeitlichen, allem Werden zugrunde liegt, und dieses Ursprüngliche unmittelbar als ein Anwesendes und Gegenwärtiges erfasst. Da Platon die Seele für das schauende Subjekt hielt, bediente er sich der Metapher „Auge der Seele“. Nach seiner Darstellung wird das Auge der Seele durch die Dialektik, die diskursive philosophische Methode der Erkenntnisgewinnung, aus dem „barbarischen Morast“, in dem es vergraben war, hervorgezogen und nach oben gerichtet.[9] So wird es befähigt, seine Funktion zu erfüllen, dem Schauenden die Welt der – später „platonisch“ genannten – Ideen zu erschließen. Somit ist die dialektische Schulung eine unerlässliche Voraussetzung für das Erblicken der Wirklichkeit. Die Qualität der Wahrnehmung beim Schauen ist abgestuft, sie hängt von den jeweiligen Fähigkeiten der Seele ab. Der Grad der Vollkommenheit der Wirklichkeitserfassung bestimmt den Unterschied zwischen Göttern und Menschen, er ist der Maßstab für Platons Hierarchie der Wertungen.[10]
Die kontemplative Beschäftigung mit den Ideen ist – so die platonische Lehre – für den Betrachter nicht nur eine Quelle höchster Freude, sondern hat auch weitreichende Auswirkungen auf sein Leben, denn aus ihr ergibt sich ein starker ethischer Impuls. Das, was sich dem Betrachter in der Schau enthüllt, ist für ihn nicht bloß Erkenntnisobjekt, sondern zugleich auch Norm und Muster für seine eigene Lebensgestaltung. Die Ideenwelt bietet ihm ein göttliches Vorbild, dem er sich nachahmend angleichen will. Nach Platons Definition besteht das Wesen der philosophischen Lebensweise in der Angleichung oder „Anähnlichung“ an die Gottheit, „soweit dies möglich ist“ (homoíōsis theṓ katá to dynatón).[11] Grundsätzlich ist diese Möglichkeit gegeben, weil die unsterbliche Seele des Menschen von Natur aus mit dem Göttlichen verwandt ist. Indem sich der Philosoph dem Ideenkosmos nachahmend zuwendet und nach einem möglichst vollkommenen Besitz der göttlichen Merkmale Tugend und Wissen trachtet, wird er selbst vergöttlicht. Auch die Götter verdanken ihre Göttlichkeit ihrer Hinwendung zu den Ideen. Das geistige Erfassen der Ideen und das von solcher Erkenntnis gelenkte Handeln führen den Menschen zur Gottähnlichkeit, soweit die Bedingungen des Lebens in der Sinnenwelt dies zulassen. Diesem Ziel nähert sich der Philosoph vor allem durch seine zunehmende Vertrautheit mit den Ideen der Gerechtigkeit und der Maßhaftigkeit, in denen das Göttliche in erster Linie hervortritt.[12]
Außer der kontemplativen Hinwendung zu den Ideen kannte Platon noch eine andere Art von Schau, die religiösen Charakter hat. Sie bezieht sich auf das „Unsagbare“, einen unbeschreibbaren transzendenten Bereich jenseits der Ideenwelt. Zwar bildet die Dialektik auch für diese höchste Schau die notwendige Voraussetzung und Vorbereitung, doch ist die Erfahrung des Unsagbaren selbst ganz undialektisch.[13]
Aristoteles
Platons Schüler Aristoteles war der Ansicht, die höchste Lebensform sei das „betrachtende Leben“ (bíos theōrētikós) des Philosophen, das später lateinisch vita contemplativa genannt wurde. Es sei dem – ebenfalls wertvollen – praktisch tätigen Leben (bíos praktikós) überlegen, Erkenntnisgewinn stehe über politischer und sozialer Aktivität. Dies begründete Aristoteles mit einer Reihe von Argumenten. Er machte geltend, dass die geistige Betrachtung (theōría) der Ausdruck der höchsten Fähigkeit sei, über die der Mensch verfüge, und dass sie dem Wesen des Göttlichen entspreche und dem Wirken eines göttlichen Elements im Menschen zu verdanken sei. Daher liege im philosophischen Betrachten auch das höchste Glück des Menschen. Außerdem zeige sich die Überlegenheit der theōría auch darin, dass sie die größte Stetigkeit aufweise, denn man könne leichter in ihr verharren als in irgendeiner nach außen gerichteten Tätigkeit. Überdies habe sie den Vorteil der Unabhängigkeit, der Autarkie (Selbstgenügsamkeit); man könne sich ihr ganz allein widmen, während man für äußere Aktivität auf die Mitwirkung anderer angewiesen sei. Das Leben des Philosophen sei optimal geordnet und er werde von den Göttern am meisten geliebt.[14] Allerdings verstand Aristoteles im Gegensatz zu Platon unter „Betrachtung“ nicht ein intuitives „Schauen“ im Sinne von Kontemplation, sondern eine wissenschaftliche Betätigung, die intuitives Erfassen der Grundlagen und Ausgangspunkte von Wissenschaft mit diskursivem Denken zum Zweck der Urteilsbildung verbindet. Das „Betrachten“ fasste er durchaus als Tätigsein im Sinne eines aktiven Forschens auf, nicht im Sinne eines bloßen Empfangens von Erkenntnis, einer passiven Beschaulichkeit. Somit wird die Übersetzung von bíos praktikós mit „aktives Leben“ (vita activa) seiner Unterscheidung der beiden Lebensformen nicht gerecht, denn das „Betrachten“ war für ihn ebenfalls Aktivität, wenngleich er es der Muße und nicht der Arbeit zuordnete. Sein Ideal des betrachtenden, „theoretischen“ Forscherlebens wurde zum Ausgangspunkt einer bis zur Gegenwart andauernden Diskussion über die Rangordnung und das Verhältnis von Handeln und Erkennen.[15]
Einen Zusammenhang zwischen dem betrachtenden und dem praktischen Leben stellte Aristoteles nicht her. Er fasste die Betrachtung als eine vom Bereich des Sozialen und Ethischen völlig getrennte Aktivität auf, die einen Selbstzweck darstelle und keinen Ertrag für den Alltag oder die Politik erbringe. Unter praktischem Gesichtspunkt sei sie nutzlos. Dies spricht aber aus Aristoteles’ Sicht keineswegs gegen sie, sondern im Gegenteil für sie: Gerade der Umstand, dass die philosophische Betrachtung keinem praktischen Zweck dient, zeigt ihre Überlegenheit und ihren besonderen Wert. Sie ist die Beschäftigung des freien Menschen, der keinen materiellen Zwängen unterworfen ist. Ausgeführt wird die theōría nach dem aristotelischen ebenso wie nach dem platonischen Konzept von einer besonderen, für das Erkennen zuständigen Instanz in der Seele, dem nous.[16]
Hellenismus
Im Zeitalter des Hellenismus nahmen die Philosophenschulen unterschiedliche Positionen zur Kontemplation ein. Die von Platon gegründete Akademie und der Peripatos, die Schule des Aristoteles, hielten im Prinzip an der Sichtweise ihrer Gründer fest, der zufolge das „theoretische“ Leben allen anderen Formen menschlicher Daseinsgestaltung überlegen ist. Dieser Grundsatz galt als etabliert und wurde daher kaum thematisiert. Allerdings gab es Faktoren, die der traditionellen Hochschätzung der Kontemplation entgegenwirkten: In der Jüngeren („skeptischen“) Akademie wurde die Möglichkeit gesicherter Wirklichkeitserkenntnis bestritten, und im Peripatos problematisierte schon Theophrast, der Nachfolger des Aristoteles, das Konzept des „betrachtenden“ Lebens. Theophrast hob die teils praktischen, teils prinzipiellen Hindernisse hervor, die sich aufgrund der menschlichen Natur der Betrachtung entgegenstellen. Spätere Peripatetiker bekannten sich zu einer „gemischten“ Lebensweise.[17]
Die anderen bedeutenden Schulrichtungen – die Stoiker, Epikureer, Kyniker und Skeptiker – teilten weder das platonische noch das aristotelische Lebensideal. Die Stoiker lehnten die Trennung und unterschiedliche Bewertung von Erkennen und Handeln ab. Die Epikureer traten zwar für eine zurückgezogene, unpolitische Lebensweise ein und forderten eine zur Einsicht führende Betrachtung der Natur, doch meinten sie, die theōría sei der Praxis nicht übergeordnet, sondern habe ihr – das heißt dem Luststreben – zu dienen.[18] Die Kyniker waren gänzlich praxisorientiert und verwarfen die theōría als nutzlos. Die Skeptiker hielten aufgrund ihrer Erkenntnistheorie die klassische Hochschätzung der theōría für unbegründet, da Betrachtung nicht zu sicherem Wissen führe.[19]
Cicero, der im hellenistischen Zeitalter der namhafteste Vermittler griechischen philosophischen Gedankenguts in der lateinischsprachigen Welt war, führte den Ausdruck contemplatio als lateinische Entsprechung zur griechischen theōría ein. In seinem literarischen Dialog De natura deorum legte er dem Vertreter der stoischen Lehre die Feststellung in den Mund, der Mensch sei dazu geboren, das Weltall zu betrachten und nachzuahmen. Dieses sei ein göttliches Wesen und in jeder Hinsicht zweckmäßig eingerichtet und vollkommen. Der Mensch sei zwar unvollkommen, aber er bilde ein Teilchen des Vollkommenen, an dem er sich zu orientieren habe.[20] Dieser Gedanke findet sich auch im hermetischen Schrifttum. Dort wird ausgeführt, der Mensch sei zur Betrachtung des Himmels und zur Erkenntnis der göttlichen Macht bestimmt. Als Betrachter von Gottes Werk könne er zur Erkenntnis des Schöpfers gelangen.[21]
Römische Kaiserzeit
Im 1. Jahrhundert trat der stark vom Platonismus beeinflusste jüdische Denker Philon von Alexandria mit großer Entschiedenheit für den Vorrang der Kontemplation gegenüber der Aktion ein. Er war der Überzeugung, dass die Aufgaben des aktiven Lebens zwar nicht vernachlässigt werden sollten, dass aber alle Praxis dem Ziel der Gottesschau unterzuordnen sei. Das praktische Leben hielt er für ein notwendiges Durchgangsstadium der Bewährung, ohne das man die Kontemplation Gottes nicht erreichen könne. Das Handeln – politische Tätigkeit ebenso wie Erwerbsarbeit – solle dazu dienen, unter dem Ansturm der alltäglichen Belastungen den Weg zum höchsten Erkenntnisziel zu bahnen.[22]
Von zentraler Bedeutung war die Kontemplation bei Plotin (205–270), dem Begründer des Neuplatonismus, sowie in seinem Schülerkreis und bei den spätantiken Neuplatonikern. Dabei ging es um eine kontemplative Beschäftigung mit der „intelligiblen Welt“, dem Bereich der nur geistig erfassbaren, der Sinneswahrnehmung entzogenen Dinge. Plotin bezeichnete diese Beschäftigung als ein „Denken“. Damit meinte er aber nicht, dass die dem Geistigen zugewandte Person eigene, vom Gegenstand des Denkens getrennte Gedanken produziere, um sich dadurch ihrem Objekt anzunähern. Vielmehr denkt nach Plotins Verständnis der Kontemplierende, indem er durch seine Teilhabe (Methexis) am Reich des Geistes dessen Inhalte ergreift. Ein solches Denken ist kein diskursives Folgern, sondern ein unmittelbares geistiges Erfassen des Gedachten. Das Gedachte ist kein Erzeugnis des denkenden Subjekts; es wird in der Denkwelt, die der Denkende betritt, von ihm vorgefunden. Diese Denkwelt, der intelligible Kosmos, ist für das kontemplierende Subjekt keine Außenwelt, die als solche nur unvollkommen erfasst werden könnte; sie ist vielmehr im Kontemplierenden selbst vorhanden, und er wendet sich ihr zu, indem er ins eigene Innere einkehrt. Das Bewusstsein konzentriert sich ganz in sich selbst. So wird eine rein geistige Sehkraft, die in der menschlichen Natur angelegt ist, aktiviert. Mit ihr kann die Wirklichkeit in einem einzigen Akt der Schau intuitiv erfasst werden. Gemeint ist aber nicht eine auf das Subjekt beschränkte, nur subjektiv gültige Wirklichkeit, sondern eine umfassende, und zwar die einzige, die es gibt, denn in der kontemplativen Schau wird die scheinbare Trennung von Subjekt und Objekt aufgehoben und Ganzheit erfahren. Das so aufgefasste Denken ist ein einziger bewusster Sehakt, in dem sich die Einheit von Denkendem und Gedachtem zeigt.[23] Für Plotin ist diese Wirklichkeitsschau, die Betrachtung der Schönheit des absolut Guten, das Erhabenste im menschlichen Leben und die einzige Bestimmung des Menschen; durch sie wird man selig (makários), und wer sie verfehlt, ist völlig gescheitert.[24]
Christentum
Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition
Schon für das 2. Jahrhundert ist eine christliche Auseinandersetzung mit dem griechischen philosophischen Kontemplationsideal bezeugt. Justin der Märtyrer, ein namhafter Kirchenlehrer, hatte sich seiner Darstellung zufolge vor seiner Bekehrung zum Christentum mit platonischer Philosophie befasst. Er hatte sich einer zurückgezogenen kontemplativen Lebensweise zugewandt in der Hoffnung, auf diesem Weg die unmittelbare philosophische Gottesschau und die Eudaimonie (Glückseligkeit) zu erlangen. Später begegnete er einem Greis, der ihn zum Christentum bekehrte. Der Greis hielt ihm sein weltfernes Leben vor: Justin liebe das „Wort“ statt der „Tat“ und der „Wahrheit“ und wolle lieber ein Sophist sein als ein Mann der Praxis. In diesem Dialog zeigt sich erstmals in der frühchristlichen Literatur eine direkte christliche Kritik an der Zurückgezogenheit und Praxisferne des kontemplativen Lebens mancher Philosophen. Unter dem Einfluss des Greises wurde Justin Christ. Er machte sich die Auffassung zu eigen, die Eudaimonie bestehe nicht in der Kontemplation und auch nicht in einer gnadenhaft geschenkten Gottesschau, sondern in der im Leben verwirklichten Einheit von Theorie und Praxis, Glauben und Handeln.[25]
Auch andere frühe christliche Apologeten, Athenagoras von Athen und Theophilos von Antiocheia, stellten die sittliche Qualität der christlichen Lebenspraxis dem kontemplativen Ideal der Philosophen entgegen. Den Denkern warfen sie vor, ein tatenloses Leben zu führen und wohlklingende, aber unpraktische Phrasen zu verbreiten, statt Wort und Tat zu verbinden. Die Nützlichkeit von Grundsätzen habe man durch gute Taten aufzuzeigen.[26]
Einen neuen Impuls brachten die alexandrinischen Theologen Clemens von Alexandria und Origenes. Sie legten ebenfalls großes Gewicht auf die Einheit von Theorie und Praxis, doch ohne das philosophische Kontemplationsideal pauschal zu verwerfen. Mit dem Instrumentarium der platonischen Terminologie entwickelten sie eine christliche Kontemplationslehre. Die christliche Lebenspraxis betrachteten sie als Voraussetzung der Kontemplation. Origenes betonte, es könne weder Tätigkeit ohne Beschauung noch Beschauung ohne Tätigkeit geben. Clemens übernahm das platonische Konzept einer Angleichung an die Gottheit, die im kontemplativen Leben erfolge.[27]
Theorien der Gottesschau
Die antiken Kirchenväter befassten sich mit der Kontemplation vor allem unter dem Gesichtspunkt der Gottesschau. Mit ihren Überlegungen knüpften sie an den Gedanken der paganen Philosophen an, dass der Mensch im Gegensatz zu den Tieren aufrecht geschaffen sei, damit er zum Himmel emporblicken und Kenntnis von ihm erlangen könne. Sie meinten, Gott habe den Menschen dazu bestimmt, Betrachter der Wunderdinge der Welt zu sein. Man solle sich aber nicht mit dem Staunen über diese Wunder und dem Genuss der Schönheit des Geschaffenen begnügen, sondern die religiöse Bedeutung des sinnlich Wahrnehmbaren erfassen. Dann werde die Betrachtung der Schöpfung zum Anlass, sich dem göttlichen Urheber all dieser Dinge zuzuwenden.[28]
Kirchenschriftsteller der patristischen Zeit, die sich über die Kontemplation äußerten, setzten sich mit der Frage auseinander, inwieweit man auf kontemplativem Weg zur Gottesschau voranschreiten könne. Einhelligkeit bestand darüber, dass eine vollkommene Gottesschau im Diesseits unmöglich, eine begrenzte Betrachtung Gottes jedoch im irdischen Leben erlangbar sei. Der stark vom Platonismus beeinflusste griechische Kirchenvater Gregor von Nyssa lehrte, der menschliche Geist könne zu immer höherer Aufmerksamkeit voranschreiten. Damit komme er der Anschauung Gottes immer näher. Wenn man auf diesem Weg sowohl die Objekte der Sinneswahrnehmung als auch die der Denkkraft hinter sich lasse, dringe man immer tiefer ins Innere der Wirklichkeit vor, bis man zum Unsichtbaren und Unfassbaren gelange und dort im metaphorischen Sinn Gott „sehe“, wenngleich auf unvollkommene Weise. Nach Gregors Ansicht ist das kontemplative Streben nach Gotteserkenntnis ein Vorgang, der auch im seligen Leben im künftigen Jenseits nie zu Ende kommen wird, weil Gott unendlich ist. Demnach hat die Kontemplation kein abschließendes Ziel, das sie erreichen kann.[29]
Für die lateinischsprachigen Christen West- und Mitteleuropas wurde die Lehre des Kirchenvaters Augustinus wegweisend. Er übernahm das platonische Konzept der geistigen Schau, indem er die Vernunfttätigkeit als direkte, nicht durch den Körper vermittelte Betrachtung des Wahren (veri contemplatio) definierte.[30] Als Ziel aller irdischen Tätigkeit bestimmte er die Gottesschau im Jenseits;[31] erst mit ihr gelange man zum Höhepunkt der Kontemplation (ad summitatem contemplationis).[32] In dieser Betrachtung Gottes sei „ewige Ruhe“ zu finden.[33] Die begrenzte irdische Gottesschau und ihr relativ hoher Rang ist für Augustinus – wie schon für Origenes – beispielhaft in der biblischen Erzählung von den Schwestern Maria und Martha im Lukasevangelium (Lk 10,38–42 EU) dargestellt. Dort stellt Jesus den Vorrang der rein kontemplativen Haltung Marias gegenüber der Geschäftigkeit Marthas fest. Nach der lateinischen Bibelübersetzung hat Maria, die dem Herrn zu Füßen sitzt und ihm nur zuhört, während Martha als Gastgeberin für ihn sorgt, „den besseren Teil erwählt“, und der soll ihr nicht genommen werden. Vergeblich bittet Martha Jesus, er möge ihre untätige Schwester auffordern, ihr zu helfen. Dazu bemerkte Augustinus erläuternd, Marthas Tätigkeiten seien vergänglich, da sie in der Ewigkeit nicht mehr benötigt würden; Marias Kontemplation hingegen nehme in gewisser Weise die ewige Seligkeit vorweg.[34]
Auch der Gegensatz zwischen den Schwestern Lea und Rachel, den beiden Frauen des Stammvaters Jakob in der Bibel, symbolisiert für Augustinus das Verhältnis zwischen Aktion (Lea) und Kontemplation (Rachel). Jakob begehrte die schöne Rachel, musste aber zunächst die unattraktive Lea, die ältere der beiden Schwestern, als Gattin akzeptieren, bevor er Rachel erhielt. So kann man auch den Segen der Kontemplation erst empfangen, nachdem man sich in der Aktion bewährt hat. Augustinus ließ an der Überlegenheit der Kontemplation keinen Zweifel, mahnte aber auch, niemand dürfe um der Betrachtung willen seine äußeren Pflichten vernachlässigen.[35]
Mönchtum und Askese
Im östlichen Mönchtum war die auf Gott gerichtete Kontemplation (theōría eis theón) schon in frühester Zeit eine Hauptaufgabe des spirituellen Lebens, wie aus den Apophthegmata patrum hervorgeht. Der Mönch hatte seine Gedanken ständig auf Gott zu konzentrieren. Als Vorbedingung dafür galt neben strenger Askese die „Ruhe“ (hēsychía), das heißt ein Zustand der Freiheit von allen störenden Vorstellungen und Begierden. Eine einflussreiche Theorie der Kontemplation entwickelte Euagrios Pontikos († 399), der als Mönch in der ägyptischen Wüste lebte. Sein Modell des geistlichen Aufstiegs zur Gotteserkenntnis weist drei Stufen auf. Auf der ersten Stufe ist „Praxis“ angesagt, das heißt Askese, Überwindung der Leidenschaften und Einübung der christlichen Grundtugenden. Damit reinigt man die Seele und erlangt eine souveräne Beherrschung des triebhaften Lebens. Auf der nächsthöheren Stufe wird dann die Natur betrachtet, insofern sie Gottes Schöpfung ist. Man entdeckt ihren religiösen Symbolgehalt, und so zeigt sich Gottes Welt in einem neuen Licht. Die dritte und höchste Stufe ist die Gottesschau, ein überrationales Erkennen jenseits aller Vorstellungen und Begriffe. Diese Erfahrung erfolgt in Frieden und absoluter Ruhe, unabhängig von den Mühen des diskursiven Denkens. Sie ist nur dem „nackten Geist“ zugänglich.[36]
Der Schriftsteller Johannes Cassianus, der im frühen 5. Jahrhundert die Gedankenwelt und Gepflogenheiten des östlichen Mönchtums nach Westeuropa brachte, betonte den Vorrang der Gottesbetrachtung gegenüber allen asketischen Bemühungen der Mönche. Er befand, die Einübung der Askese diene nur der Vorbereitung auf die Kontemplation, die allein das höchste Gut (principale bonum) sei. Vorbildlich seien die Eremiten, die zunächst in der klösterlichen Gemeinschaft die Askese bis zur Vollendung gelernt hätten, um sich anschließend als Einsiedler in die Einsamkeit der Wüste zurückzuziehen und dort die Kontemplation zu üben. Zur Begründung der Überlegenheit des kontemplativen Lebens berief sich Cassianus auf die biblische Erzählung von Maria und Martha.[37]
Julianus Pomerius, ein Kirchenschriftsteller des späten 5. Jahrhunderts, verfasste eine Abhandlung mit dem Titel De vita contemplativa (Über das kontemplative Leben). Dort erörterte er die Fragen, worin die Besonderheit der betrachtenden Lebensweise besteht, wodurch sie sich von der tätigen unterscheidet und ob sich ein kirchlicher Amtsträger kontemplative Tüchtigkeit aneignen kann, obwohl ihn praktische Aufgaben in Anspruch nehmen. Nach der Ansicht des Julianus ist die vita contemplativa durch gänzliche Anhänglichkeit an Gott und völlige Gleichgültigkeit oder Unempfindlichkeit gegenüber den Versuchungen und Nöten der Welt gekennzeichnet. Um einen solchen Gemütszustand zu erreichen, müsse man sich vom Lärm der weltlichen Geschäfte konsequent entfernen. Mit dieser Forderung knüpfte Julianus an die Gedankenwelt des Cassianus an. Allerdings sah er in der kontemplativen Lebensweise kein ausschließliches Privileg der Mönche und Einsiedler. Vielmehr meinte er, auch ein kirchlicher Amtsträger könne die kontemplative Tugend besitzen, wenn er die asketische Gesinnung eines Eremiten habe. Die Schrift De vita contemplativa war die erste christliche Abhandlung über die verschiedenen Lebensweisen. Sie wurde im Mittelalter stark rezipiert.[38]
Das Aufstiegsmodell des Pseudo-Dionysius
Eine außerordentlich starke Nachwirkung erzielte ein unbekannter spätantiker Autor, der sich Dionysius nannte und im Mittelalter mit Dionysius Areopagita, einem in der Apostelgeschichte erwähnten Schüler des Apostels Paulus, identifiziert wurde. Heute ist er als Pseudo-Dionysius bekannt. Der mysteriöse Kirchenschriftsteller legte ein ausführlich ausgearbeitetes Konzept der „negativen (apophatischen) Theologie“ vor. Dabei handelt es sich um eine Lehre, die das Denken und Reden über Gott beschränkt, indem sie alle „positiven“ Aussagen konsequent als unangemessen kritisiert und verwirft. Unter positiven Aussagen versteht man solche, mit denen das Wesen Gottes bestimmt werden soll, beispielsweise „Gott ist gut“. Dabei werden Vorstellungen, die aus dem Bereich menschlicher Erfahrung stammen, auf Gott übertragen. Dagegen wendet sich die negative Theologie. Ihr zufolge kann kein Name und keine Bezeichnung Gottes Transzendenz gerecht werden und ihm daher wirklich zukommen. Somit sind positive Aussagen über ihn prinzipiell unzulässig. Statthaft sind nur negative Aussagen, das heißt die Verneinungen der Gültigkeit der positiven. Aber auch die Negationen erweisen sich bei näherer Untersuchung als unzulänglich. Daher müssen auch sie verneint werden. Dies bedeutet jedoch nicht eine Rückkehr zu positiven Aussagen, sondern eine Hinwendung zu „Über-Aussagen“, etwa Gott sei „überseiend“ oder „übergut“. Letztlich sind aber auch die Über-Aussagen nur Hilfsmittel und nicht Tatsachenbehauptungen über das Wesen Gottes.[39]
Hierbei handelt es sich nicht nur um einen Argumentationsgang zur Begründung der negativen Theologie, nicht nur um eine abstrakte Theorie der Erkenntnislehre. Vielmehr beschreibt Pseudo-Dionysius einen kontemplativen Erkenntnisprozess, den der Gottsucher zu vollziehen hat. Das Ziel ist die Verbindung der durch den Prozess emporgehobenen Seele mit dem Göttlichen. Dabei führt der Weg zunächst mittels des positiven Ansatzes vom Erhabenen zum Niedersten und dann mittels des negativen Ansatzes in die umgekehrte Richtung. Den Anfang bildet die Betrachtung der positiven („kataphatischen“) Theologie, die positive Aussagen über Gott macht, indem sie ihm Attribute zuweist. In der ersten Phase des Erkenntnisprozesses werden die verschiedenen Arten von möglichen positiven Aussagen zum Gegenstand der Kontemplation gemacht. Das ist für den Betrachter ein Weg des Abstiegs, der von dem, was Gott am ähnlichsten ist (Begriffe wie „das Hohe“, „das Erste“, „das Überragende“), abwärts führt zu dem, was Gott am fremdesten ist und doch einen Teil seiner Schöpfung bildet: Unbelebtes und Untugend. Dort, im Bereich der größten Gottferne, findet die Umkehr statt. Nun wird der Weg der Verneinung beschritten. Dabei beginnt der Betrachter mit dem Letzten und Untersten (unbelebte Materie, niedere Gemütsbewegungen), indem er es bezüglich Gott negiert, und schreitet dann aufwärts, indem er alle Worte und Namen bis hin zu den höchstrangigen Begriffen wie Leben und Gutheit als Aussagen über Gott verwirft. Einen Ausweg scheinen die „Über-Aussagen“ zu bieten, doch auch sie können Gottes Wesen nicht erschließen und müssen daher negiert werden. Erst durch die letzte Negation, mit der man jede Art von Bestimmungen übersteigt, macht man in der Annäherung an die göttliche Wirklichkeit den entscheidenden Schritt: Man identifiziert die Namenlosigkeit mit dem „unaussprechlichen Namen“, welcher der Grund aller Namen und Benennungen ist und als solcher alle Namen vereinigt. Somit führt die konsequente Negation, die Vollendung der Entleerung, zur vollendeten Fülle. Absolute Leere und absolute Fülle erweisen sich dem Betrachter als identisch.[40]
Dieser Kontemplationsprozess wird als zunehmend subtiler Vorgang der allmählichen Befreiung vom Hinderlichen aufgefasst. Mit dem schrittweisen Vollzug der Negationen vollbringt die Seele einen Aufstieg, der sie von der vertrauten Gedankenwelt abbringt und so zu Gott hinführt. Der nach Erkenntnis Strebende gelangt zur Einsicht in sein eigenes Nichtwissen und Nichterkennen. Die Betrachtung des Unzulänglichen führt ihn zur Wortlosigkeit und damit zum Schweigen. Seine Bemühungen, mittels der auf Sinneswahrnehmungen fußenden Vorstellungen und davon ausgehenden diskursiven Denkprozesse ans Ziel zu gelangen, sind gescheitert. Solches Scheitern erweist sich als Voraussetzung dafür, dass man eine authentische Beziehung zum transzendenten Gott erlangt. Angestrebt wird letztlich die Einung (hénōsis) des Menschen mit Gott.[41]
Für das mittelalterliche Verständnis von Kontemplation wurde die Auffassung des Augustinus wegweisend. Seine Interpretation der biblischen Begebenheit mit Maria und Martha bildete die theologische Grundlage für die Überzeugung, dass die vita contemplativa, das der Betrachtung gewidmete Leben, die beste Form des christlichen Daseins sei. Die vita activa galt als bestenfalls zweitrangig, unter Umständen sogar als suspekt oder als Irrweg. Diese Einstellung dominierte im Mittelalter. Das 12. Jahrhundert war die Blütezeit der augustinischen Kontemplationslehre, die nun weiter ausgearbeitet und scharf formuliert wurde.[42]
Gängig war im Mittelalter eine schon zur Zeit der Kirchenväter vorgenommene Bestimmung des Verhältnisses der Lebensformen zu den Tugenden. Dem tätigen Leben ordnete man die vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit und Klugheit zu, dem kontemplativen Leben die „theologischen Tugenden“ Glaube, Hoffnung und Liebe.[43]
Gregor der Große
Neben Augustinus galt der Papst und Kirchenvater Gregor der Große († 604) im Mittelalter als maßgebliche Autorität für die Beurteilung der beiden Lebensweisen. Er befasste sich in seinen Schriften oft mit diesem Thema, wobei es ihm vor allem um die Frage ging, wie sich kirchliche Amtsträger und Prediger dazu stellen sollten. Gregor befand, das aktive Leben habe dem kontemplativen zeitlich vorauszugehen, doch das kontemplative sei verdienstlicher. Die Hand symbolisiere die Aktion, der Flügel die Kontemplation. Beide seien Gnadengaben: die Aktivität des Dienstes am Nächsten als unumgängliche Pflichterfüllung und als Knechtschaft, die auf Gott ausgerichtete Beschaulichkeit als Frucht einer freien Entscheidung und Ausdruck von Freiheit. Man könne auch ohne Kontemplation die ewige Seligkeit erlangen, keinesfalls aber ohne das pflichtgemäße Handeln. Gregor trat für einen Wechsel zwischen den beiden Verhaltensweisen ein; er empfahl, von der Tätigkeit zur Beschauung überzugehen, dann aber wieder zur Tätigkeit zurückzukehren, für die man nach dem kontemplativen Erleben, das im Herzen eine Flamme entzünde, besser gerüstet sei als zuvor.[44]
Das Wesen der kontemplativen Betrachtung sah Gregor darin, dass der, der sich ihr widme, sich von jeder äußeren Tätigkeit ausruhe und sich der Sehnsucht nach dem Schöpfer hingebe. Ein solches Ausruhen fasste er aber nicht als passiv auf, vielmehr ist das kontemplative Leben für ihn voll von innerer Aktivität. Als Symbol für die „Unschuld“ des tätigen Lebens bezeichnete Gregor das Lamm, als Symbol der Betrachtung die Ziege, die oft am höchsten und äußersten Felsen „hängend“ weidet. Den Aufstieg gliederte er in drei Stufen: Erst sammle sich der Geist in sich, dann gewinne er Einsicht in sein Gesammeltsein und schließlich steige er über sich hinaus und gelange zur Gottesschau, bei der die Seele aus der Welt hinausgerissen werde. Die Gottesschau sei nur wenigen und nur kurzzeitig erreichbar. Gregor übernahm die bereits etablierte Deutung der beiden Frauenpaare Lea/Rachel und Martha/Maria als Verkörperungen der vita activa und der vita contemplativa.[45]
Zisterzienser
In der Literatur der Strömung, die von der Spiritualität des Zisterziensers Bernhard von Clairvaux († 1153) geprägt war, fand die verbreitete Verachtung einer auf Weltliches abzielenden vita activa einen markanten Ausdruck. Jede Aktivität, die nicht letztlich der Gottesbetrachtung dient, galt als Ablenkung vom eigentlich Wesentlichen und als Beschäftigung mit Minderwertigem. Nach der Sichtweise dieser Schule steht dem Stand der Betrachtenden, die Marias Vorbild folgen, der Stand der Tätigen gegenüber. Unter den Tätigen sind die Prediger, die sich der Verbreitung und Festigung des Glaubens widmen, diejenigen, deren Muster Martha ist. Ihnen gebührt Anerkennung, wenngleich ihr Dienst nur zweitrangig ist. Die übrigen Tätigen aber, die Erwerbstätigen, suchen und lieben das wertlose Irdische. Den Gegenpol zu solchem nichtsnutzigem Streben bildet die Lebensweise der Ordensleute und Einsiedler. Das kontemplative Erkennen dieser Asketen ist eine beseligende Schau der überweltlichen Wirklichkeit, zu der sie nur gelangen können, weil sie alles Weltliche vergessen haben und die Welt verachten. Für Bernhard von Clairvaux ist contemplatio die „wahre und reine Schau des Geistes, bezogen auf ein beliebiges Objekt“, eine „zweifelsfreie Erfassung des Wahren“. Sie schafft unmittelbar Gewissheit, im Gegensatz zur consideratio, der Betrachtungsweise des untersuchenden, erwägenden Forschers, der etwas mittels der Vernunft herausfinden will.[46] Die kontemplativen Höhenflüge sind allerdings zeitlich begrenzt. Dem Aufstieg muss zwangsläufig die Rückkehr in das weltliche Dasein folgen, da der Mensch ein irdisches Wesen ist und als solches auch irdische Aufgaben hat. Nach einer Predigt Bernhards gehören Kontemplation und Aktion notwendigerweise zusammen, so wie Maria und Martha als Schwestern beieinander wohnen.[47] Sie sind aber keineswegs gleichwertig. Ihr Verhältnis ist dadurch charakterisiert, dass der kontemplative Aufstieg beglückt und die Rückwendung zum Irdischen als Sturz erlebt wird. Kontemplation wird als Segen empfunden, Aktion als Notwendigkeit akzeptiert.[48]
Viktoriner und Kartäuser
Der Theologe Hugo von St. Viktor († 1141), der mit seiner Lehrtätigkeit und seinen Schriften die Schule der Viktoriner begründete, formulierte in seinem „Studienbuch“, dem Didascalicon, das viktorinische Bildungsprogramm. Er unterschied fünf Stufen, auf denen sich das Leben der Gerechten zur zukünftigen Vollkommenheit erhebe. Die erste Stufe sei das Studium oder die Belehrung, die zweite die Meditation, die dritte das Gebet, die vierte das Handeln und die fünfte die Kontemplation. In der Kontemplation habe man – gewissermaßen als Frucht der vorangehenden vier Stufen – schon in diesem Leben einen Vorgeschmack des zukünftigen himmlischen Lebens.[49]
Richard von St. Viktor († 1173), ein Schüler Hugos und führender Theologe der viktorinischen Richtung, formulierte eine Theorie der Kontemplation, wobei er auf Gedanken seines Lehrers zurückgriff. Er unterschied wie schon Hugo bei der Erkenntnis drei geistige Akte: cogitatio (Denken), meditatio („Nachsinnen“, nicht Meditation im heutigen Sinn) und contemplatio (kontemplatives Betrachten). Unter cogitatio verstand er ein spontanes, ungeordnetes Nachdenken aus Neugier, das zum Abschweifen neigt. Es ist mühelos, aber unfruchtbar. Solchem Denken überlegen ist die meditatio, ein zielgerichtetes Forschen um der Wahrheitsfindung willen. Sie erfordert Konzentration; der Geist hat sich anzustrengen. Somit stellt die meditatio eine menschliche Leistung dar. Sie ist mühevoll, aber fruchtbar. Über ihr steht die Kontemplation als Erkenntnisweise der reinen intuitiven Einsicht. Sie ist mühelos und zugleich fruchtbar, ein „freier Flug“, mit dem der Erkennende staunend und verstehend die Wirklichkeit erfasst. Das Denken kriecht, das Nachsinnen geht oder läuft, die Betrachtung fliegt um alles herum. Bei diesen drei geistigen Akten handelt es sich um Stufen, die nacheinander in einer aufsteigenden Folge erreicht werden. Der Übergang von einer Stufe zur nächsthöheren findet statt, indem der Erkennende jeweils an die Grenzen des im gegebenen Rahmen Erreichbaren gelangt und dann seine bereits vorhandene Erkenntnisfähigkeit so intensiviert, dass sie in eine höhere umgewandelt wird. Wenn man bis zur Grenze dessen voranschreitet, was auf einer Stufe möglich ist, kommt es zur Selbstaufhebung dieser Stufe und damit zum Aufstieg.[50]
Richard definierte die Kontemplation als freie (nicht erzwingbare), mit Bewunderung verbundene Einsicht des Geistes in die Selbstdarstellung der Weisheit, oder – mit Berufung auf Hugo – als den klaren und freien Blick des Geistes, der sich überallhin zu den Erkenntnisobjekten ergießt.[51] Er konstatierte, die Ausdrücke contemplatio und speculatio würden gewohnheitsmäßig synonym gebraucht, doch sei es angemessener, sie voneinander abzugrenzen: Von speculatio sei zu sprechen, wenn man etwas wie in einem Spiegel wahrnehme, von contemplatio, wenn man die Wahrheit gänzlich unverhüllt in ihrer Reinheit sehe.[52]
Innerhalb der contemplatio unterschied Richard sechs hierarchisch geordnete Arten der Betrachtung, die er gemäß der Einteilung der geistigen „Erkenntnisvermögen“ (Fähigkeiten zur Erkenntnis) abgrenzte. Dabei fasste er die sechs Betrachtungsweisen als aufeinanderfolgende Schritte des Aufstiegs auf dem Erkenntnisweg auf. Ausführlich und systematisch beschrieb er den Aufstiegsweg in seinem Traktat Beniamin maior.[53]
Nach dieser Darstellung ist die erste Form der Kontemplation auf die Sinnesobjekte ausgerichtet und von deren unmittelbarem Eindruck bestimmt. Die empfangenen Eindrücke werden nicht geordnet und analysiert, sondern nur affektiv aufgenommen. Das Wahrgenommene wird auf den Schöpfer zurückgeführt, und daraus erwächst ihm gegenüber die emotionale Haltung von Verehrung und Staunen. Das Erkenntnisvermögen, dem diese Gestalt der Betrachtung entspringt, ist die Vorstellungskraft (imaginatio). Es ist Kontemplation „in der Vorstellungskraft und gemäß der Vorstellungskraft“. Sie ist in sieben Unterstufen gegliedert.[54] Die zweite Stufe hat denselben Gegenstandsbereich wie die erste, unterscheidet sich aber von ihr in der Verarbeitung der empfangenen Eindrücke. Diese werden nun mittels des diskursiven Denkens in ihren metaphysischen Zusammenhang eingeordnet. Dabei erkennt der Betrachter die Entsprechung der rationalen Struktur seiner Erkenntnis zur Rationalität des Seienden, eine Übereinstimmung, die darauf beruht, dass beide aus demselben absoluten Grund stammen. Das ist Kontemplation „in der Vorstellungskraft und gemäß dem Verstand“.[55] Auf der dritten Stufe wird mittels des Verstandes die Entsprechung zwischen Sichtbarem und Nichtsichtbarem erfasst. Hier findet Kontemplation „im Verstand gemäß der Vorstellungskraft“ statt. Damit wird ein Erkenntnisaufstieg vom Sichtbaren zum Nichtsichtbaren möglich.[56] Dabei gewinnt der Betrachtende Einsichten, die nicht mehr imaginativ vorgestellt werden können. Sie bilden die Ausgangsbasis für die vierte Form der contemplatio, die sich „im Verstand und gemäß dem Verstand“ vollzieht. Mit der vierten Art der Annäherung an die Wahrheit gelangt man schlussfolgernd zu Ergebnissen, die gänzlich von der bildhaft erfassbaren Empirie abgelöst sind. Der menschliche Geist bezieht sich erkennend auf sich selbst, und in dieser Selbstbezüglichkeit gelangt der Mensch zum intensivsten Vollzug seiner geistigen Anlage. Diese Erkenntnisweise, der Modus des reinen Denkens, geht nicht mehr von Vorstellungen aus, die aus der Materialität des Sichtbaren abgeleitet sind, sondern von Begriffen. Man muss dabei stets an der nunmehr erreichten Abstraktion festhalten.[57] Auf der fünften Stufe, der Kontemplation „oberhalb des Verstandes, aber nicht jenseits des Verstandes“, werden Einsichten gewonnen, zu denen der Mensch nicht durch seine Vernunft, sondern nur durch göttliche Gnade gelangen kann. Sie widersprechen der Vernunft aber nicht, sondern stehen mit ihr im Einklang. Die sechste Stufe beschreibt Richard als eine Erleuchtungserfahrung (irradiatio), eine Kontemplation „oberhalb des Verstandes“, die der Verstand nicht mehr nachvollziehen kann. Die so gewonnene Erkenntnis findet daher im Denken keine Stütze und ist nicht begrifflich angemessen darstellbar. Sie steht aber in Kontinuität zu den ihr vorangehenden rationalen Erkenntnisformen und ist deren konsequente Fortführung. Alle sechs Stufen sind Bestandteile eines einzigen Prozesses.[58]
Ähnlich wie das Modell der Viktoriner ist das wohl noch vor der Mitte des 12. Jahrhunderts entwickelte des Kartäusers Guigo II. aufgebaut. Er beschrieb es in der Briefabhandlung Scala claustralium (Leiter für Ordensleute), die auch unter dem Titel Brief über das kontemplative Leben bekannt ist und zu den meistgelesenen spirituellen Schriften des Mittelalters zählt. Guigo gliederte die Übungspraxis in die vier Stufen Lesung, Meditation, Gebet und Kontemplation. Die vier Glieder betrachtete er als die Stufen einer Leiter, die Mönche und Nonnen nach dem Vorbild der biblischen Jakobsleiter von der Erde bis in den Himmel führen sollte. Die Kontemplation bestimmte Guigo als „Erhebung des Gott anhangenden Geistes über sich hinaus, wobei er die Freuden der ewigen Süße schmeckt“.[59]
Scholastik
Im Spätmittelalter wurden die herkömmlichen Lehren über das kontemplative Leben im Wesentlichen unverändert übernommen, so etwa im Lukas-Kommentar Alberts des Großen († 1280), eines sehr einflussreichen Gelehrten. Albert legte die Maria-Martha-Erzählung des Evangelisten Lukas breit im traditionellen Sinne aus.[60] Allerdings nahm die Bedeutung dieses Konzepts einer intuitiven Kontemplation ab, denn die spätmittelalterliche Geisteswelt war stark vom Diskurs scholastischer Denker geprägt, die von einem anderen Ansatz ausgingen. Sie meinten, zuverlässige Erkenntnis sei „spekulativ“ mit den Mitteln der aristotelischen Logik zu erreichen. In diesem Kontext verstand man unter „Betrachtung“ eine wissenschaftliche Bemühung um Erkenntnis. Unter dem Einfluss der lateinischen Aristoteles-Übersetzungen trat neben den herkömmlichen Begriff der intuitiven Kontemplation ein diskursiver, der aus der aristotelischen Philosophie stammte und in die philosophische und theologische Literatur eindrang. Bei der Darstellung der „klassischen“ Kontemplationslehre bezeichneten die scholastischen Autoren mit contemplatio zwar weiterhin die Schau Gottes, das Leben um dieser Schau willen und das Glück, das aus ihr fließt, doch war ihnen auch das aristotelische Konzept von „Betrachtung“ als wissenschaftlicher Tätigkeit vertraut. Sie wussten, dass die lateinischen Adjektive contemplativus und speculativus in den Übersetzungen für dasselbe griechische Wort (theōrētikós) stehen und daher austauschbar sind, ebenso wie die Verben contemplari und speculari, die das griechische theōreín wiedergeben. Alle diese Wörter dienten nun in der Philosophie und auch in theologischen Schriften zur Bezeichnung eines „spekulativen“, aus Folgerungen der Vernunft bestehenden Erkenntnisvorgangs im aristotelischen Sinn. Allerdings wurden dabei auch gewisse Unterscheidungen vorgenommen. So verwendete der führende Scholastiker Thomas von Aquin († 1274) den Ausdruck contemplativus dort, wo es ihm auch um die affektive Seite und den Willensaspekt der Erkenntnis ging, und speculativus dort, wo er nur den rein intellektuellen Aspekt ins Auge fasste.[61] Außerdem unterschied Thomas nach dem Erkenntnisobjekt zwischen Spekulation und Kontemplation. Nach seiner Definition ist unter speculatio der Akt zu verstehen, mit dem jemand das Göttliche in den geschaffenen Dingen „wie in einem Spiegel“ betrachtet, und unter contemplatio der Akt, mit dem Gott „in sich selbst“ vom Menschen betrachtet wird.[62]
Thomas war der Ansicht, dass der Mensch, „insoweit er kontemplativ ist“, eine gleichsam übermenschliche Qualität erhalte. Als kontemplativ Betrachtender sei er „etwas über dem Menschen“ und nähere sich der Daseinsweise der Engel an. Thomas verglich dieses Verhältnis zwischen Engel und Mensch mit dem Verhältnis zwischen dem verständig handelnden Menschen und einem Tier, das dank seiner „Einschätzungskraft“ einen Sachverhalt erkennt und dann zweckmäßig reagiert.[63]
Bonaventura
Der Franziskaner Bonaventura (1221–1274) gliederte in seinem Itinerarium mentis ad deum (Pilgerweg des Geistes zu Gott) den Aufstieg der Seele zu Gott in sechs Stufen, wobei er das Konzept Richards von St. Viktor aufgriff und abwandelte. Nach Bonaventuras Modell ist die erste Stufe die Betrachtung Gottes durch seine „Spuren“ in der Welt der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, in denen die Macht, Weisheit und Güte des Schöpfers aufleuchtet. Auf der zweiten Stufe wird Gott im Spiegel der sinnlich erfahrbaren Dinge nicht „durch“ diese wie aus Spuren betrachtet, sondern „in“ ihnen, insofern er in ihnen anwesend ist. Hier wird Gott in allen Geschöpfen wahrgenommen. Auf der dritten Stufe wendet sich der Betrachter seinem eigenen Geist zu, in dem ihm ein Abbild Gottes entgegenleuchtet. Wenn er darauf die vierte Stufe erreicht, schreitet sein Geist nicht mehr wie auf der dritten Stufe durch sich hindurch, sondern betrachtet den göttlichen Urgrund so, wie er ihn in sich selbst findet. Dies gelingt nur, wenn die Seele sich vollkommen von den Sinnesobjekten abgewandt hat und zur Betrachtung ihrer selbst und der ewigen Wahrheit in ihrem Inneren gelangt ist. Dazu ist erforderlich, dass die „inneren Sinne“, die infolge der Hinwendung der Seele zum Irdischen ihre Funktionsfähigkeit eingebüßt haben, mit göttlicher Hilfe wiederhergestellt werden. Wer zur fünften Stufe emporgestiegen ist, der betrachtet Gott nicht in der Außenwelt oder in sich selbst, sondern „über“ sich, das heißt im Hinblick auf das göttliche Sein. Hier wird die Einheit Gottes zum Gegenstand der Kontemplation. Auf der sechsten Stufe wird Gott als das höchste Gut ins Blickfeld genommen.[64]
Meister Eckhart
Meister Eckhart († 1327/1328) deutete die biblische Erzählung von den Schwestern Maria und Martha in Bethanien auf eine unkonventionelle, der herrschenden Lehrmeinung entgegengesetzte Art. Nach seiner Auslegung steht die aktive Martha spirituell höher als die kontemplativ zuhörende Maria. Martha war zwar mitten in den Sorgen der Welt tätig, aber unbekümmert, auf besonnene Weise und ohne dabei Gott aus dem Auge zu verlieren. So verband sie in ihrer Haltung die Vorzüge von Kontemplation und Aktion. Maria hingegen beschränkte sich auf die Kontemplation, da sie das rechte Handeln noch nicht gelernt hatte. Martha war die ältere der beiden Schwestern und hatte daher mehr Erkenntnis gewinnen können als die noch unerfahrene, auf kontemplativen Genuss ausgerichtete Maria.[65] Drastisch illustrierte Eckhart den Vorrang des aktiven Einsatzes vor der Betrachtung in einem Traktat, in dem er auf die Ekstase Bezug nahm, die „Verzückung“, die dem Apostel Paulus zuteilgeworden war. Wer im Zustand einer solchen Ekstase ist, der soll – so Eckhart – von ihr ablassen, wenn er von einem kranken Menschen weiß, der einer Suppe bedarf, denn die Versorgung des Kranken ist wichtiger.[66]
Johannes Tauler
Der als Prediger sehr geschätzte, stark von Eckhart beeinflusste Dominikaner Johannes Tauler († 1361) weigerte sich, das aktive Leben (wúrkent leben) gegenüber dem betrachtenden (schouwent leben) abzuwerten. Tauler lehrte, die Annahme einer objektiven Rangordnung der beiden „Weisen“ sei Ausdruck eines schädlichen Eigenwillens des Menschen. Es handle sich dabei um einen Irrweg, der von Gott wegführe. Wer sich nach eigenem Ermessen auf eine bestimmte „Weise“ festlege, die er für überlegen halte, der verschließe sich dem „weiselosen“ Wirken Gottes in seiner Seele. Keine Betätigung der Frömmigkeit sei an sich geringer als eine andere und Kontemplation sei nicht an eine bestimmte Lebensform gebunden. Die äußere Tätigkeit beeinträchtige das geistliche Leben nicht; das wirkliche Hindernis sei vielmehr die „Unordnung“ in den Werken. Tauler betonte den ethischen und spirituellen Wert der Arbeit einschließlich der gewöhnlichen Erwerbstätigkeit. Jeder solle dem „Ruf“ Gottes folgend seine Lebensform entsprechend seiner Veranlagung und Befähigung wählen. Den Gegensatz zwischen Aktion und Kontemplation hielt Tauler für scheinbar. Seiner Lehre zufolge sollen die beiden Verhaltensweisen eine Einheit bilden, die sich aus dem Einssein mit Gott ergibt. Wenn der Mensch mit Gott vereinigt ist, wirkt Gott selbst in ihm alles und bestimmt daher auch, wann ein Werk vollbracht werden soll und wann die Zeit für Beschaulichkeit ist. Nach Taulers Auslegung der Begebenheit mit Maria und Martha lobte Christus Maria nicht wegen ihrer Beschaulichkeit, sondern wegen der Tiefe ihrer Demut, und er tadelte nicht, dass Martha emsig war, sondern dass sie besorgt war und überdies seine Aufmerksamkeit auf ihr besorgtes Tätigsein lenken wollte. Daraus folgt für Tauler, dass man eine gute und nützliche Tätigkeit ausüben soll, wie es sich ergibt, unauffällig und in Stille; die Sorge soll man Gott überlassen.[67]
Jan van Ruusbroec
Der Theologe und Kontemplationslehrer Jan van Ruusbroec († 1381) beschrieb in seiner Schrift Brulocht ein geschlossenes System von drei Lebensformen, die er als die drei Stufen des Aufstiegs zu Gott und zur Vereinigung mit ihm auffasste. Es sind nach seiner Darstellung das werktätige „beginnende“ Leben, das jeder führen soll, das „innerliche“ Leben der begehrenden Suche nach Gott, zu dem viele befähigt sind, und das gottschauende Leben der Kontemplation, das nur wenige erreichen. Die zweite Stufe, das innerliche Leben, schilderte Ruusbroec am ausführlichsten. In dieser Lebensform sah er die Frucht einer Begnadung, die von oben her das ganze Wesen des Menschen durchdringe. Die Voraussetzung für ein solches Wirken der göttlichen Gnade sei, dass man sich dafür öffne und seine Kräfte sammle, um ihnen die Einkehr in die Einheit des Geistes zu ermöglichen.[68]
Den Aufstieg betrachtete Ruusbroec als das Eingehen des Menschen auf das in ihm bereits Vorgegebene, auf sein eigenes Wesen und seine Begnadung durch Gott. Aus dieser Sicht ist das Beschreiten des Weges ein wachsender Nachvollzug dessen, was in der Natur des Menschen als Nachbild Gottes angelegt ist, wobei sich das Erleben immer mehr vertieft und zentralisiert. Dabei ist die Gnade das vermittelnde Prinzip zwischen Gott und Mensch, sie macht den Menschen gottähnlich und für das Ziel des Weges, die Einigung mit dem Urbild des Nachbilds, bereit. Auf der höchsten Stufe, im „schauenden“ Leben, erfährt der Betrachtende das Geheimnis der göttlichen Natur in einem Vorgang des bewussten, miterlebenden und mitvollziehenden Aufnehmens der Selbstmitteilung Gottes. So wird der Schauende in das göttliche Leben einbezogen. Mittels des geschaffenen Lichtes der Gnaden Gottes wird der Mensch befähigt, das ungeschaffene Licht zu schauen, das Gott selbst ist.[69]
„Gemischtes Leben“
Im spätmittelalterlichen theologischen Diskurs wurde das Konzept eines „gemischten“ Lebens (vita mixta) erörtert, in dem sich Kontemplation und Aktion mischen. Die vita mixta wurde als die besonders verdienstliche Lebensweise der Prälaten gepriesen. In diesem Sinne äußerte sich Johannes Gerson († 1429), ein Kritiker der scholastischen Theologie, der einer „mystischen Theologie“ den Vorzug gab. Er unterschied eine rein aktive, eine rein kontemplative und eine gemischte Lebensform. Ein rein beschaulich lebender Mensch sei der Kirche zwar sehr nützlich, da er Gott mit seinem Herzen diene, doch sei das gemischte Leben nach dem Vorbild von Mose und Christus das vollkommenste.[70]
Spätmittelalterlicher Humanismus
Die spätmittelalterlichen italienischen Humanisten griffen die Debatte über das Verhältnis von vita activa und vita contemplativa auf. Dabei knüpften sie an den antiken Diskurs an und bemühten sich gewöhnlich um eine Vereinigung der beiden Konzepte. Manche stellten die Aktivität über die Beschaulichkeit, andere waren gegenteiliger Ansicht. Dabei verstanden sie unter vita contemplativa nicht nur das ganz der Kontemplation gewidmete Leben der Mönche, das manche von ihnen kritisch beurteilten, sondern insbesondere auch das stille, zurückgezogene Dasein des Gelehrten im Gegensatz zum tätigen des politisch aktiven Staatsbürgers. Im 14. Jahrhundert dominierte noch der traditionelle Grundsatz des Vorrangs der betrachtenden Lebensweise, der für Francesco Petrarca (1304–1374) und Giovanni Boccaccio (1313–1375) selbstverständlich war. Ab der Zeit etwa um 1400 kam es jedoch zu einer Aufwertung des Handelns im Dienst der Gemeinschaft. Nachdrücklich machte sich nun die Überzeugung geltend, für eine gelungene Selbstverwirklichung des Menschen und „schöne“ Lebensgestaltung sei die Praxis der sozialen Tugend unerlässlich, ein zurückgezogenes Leben sei unzulänglich. Als ideal galt die harmonische Verbindung von Gelehrsamkeit und bürgerlichem Engagement. In einer 1399 verfassten Schrift über das Verhältnis von Rechtswissenschaft und Medizin trat der Florentiner Humanist und Politiker Coluccio Salutati (1331–1406) für den Vorrang des aktiven Lebens ein. Er machte geltend, Kontemplation sei auch eine Form von Aktion.[71] Leonardo Bruni († 1444), ein Schüler Salutatis, forderte – mit Kritik an Boccaccios Auffassung – eine dem Staat zugewandte Haltung. Er meinte, die verbreitete Ansicht, ein echter Gelehrter habe auf Teilnahme am öffentlichen Leben zu verzichten, sei irrig. Als Vorbild stellte er seinen Lesern die Vereinigung von Philosophie und Politik im Lebenswerk Ciceros vor Augen. In diesem Sinne äußerte sich auch Giannozzo Manetti (1396–1459), der König Alfons V. von Aragón als Verkörperung des Ideals eines sowohl aktiven als auch kontemplativen Lebens verherrlichte. Weitere Wortführer dieser Richtung waren Matteo Palmieri (1406–1475), der Leonardo Bruni als Vorbild pries, und Giovanni Pontano (1429–1503), der die Vereinigung von öffentlichem Handeln und Kontemplation vor allem als Aufgabe des Herrschers betrachtete. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts führte aber eine skeptischere Einschätzung der möglichen Ergebnisse politischen Handelns zu einem Umdenken. Enttäuschung über die politischen Entwicklungen, insbesondere über den Niedergang der republikanischen Verfassung in Florenz, bewog republikanisch gesinnte Intellektuelle zur Abwendung vom öffentlichen Leben. Ein geruhsames, beschauliches Dasein durch Beschränkung auf die private Sphäre erschien nun wieder als attraktiv oder sogar, wenn man unter einer Tyrannenherrschaft lebte, als alternativlos.[72]
Der Humanist Lorenzo Valla († 1457) meinte, die Unterscheidung zwischen einem tätigen und einem beschaulichen Leben sei prinzipiell verfehlt. Es handle sich nicht um ein Gegensatzpaar, sondern um zwei einander ergänzende Aspekte derselben Lebenswirklichkeit. Mit dieser Stellungnahme wandte er sich gegen die angesehensten Autoritäten; er bekämpfte sowohl die aristotelische als auch die scholastische Tradition und verwarf auch die Positionen früherer und zeitgenössischer Humanisten. Gegen die herkömmliche Bevorzugung des beschaulichen Lebens wandte er ein, die Begründungen dafür seien nicht einleuchtend. Die Behauptung, Kontemplation sei die Quelle höchsten Glücks und mache den Menschen gottähnlich, treffe nicht zu. Es gebe keine rein geistige Freude, die sich fundamental von sinnlicher Lust unterscheide und wenigen Gelehrten und Asketen vorbehalten sei. Wie alle anderen Objekte und Tätigkeiten werde auch die Kontemplation nicht um ihrer selbst willen geliebt und angestrebt, sondern nur um der Lust willen, die man sich von ihr erhoffe. In dieser Lust sei nichts Göttliches, sie sei rein menschlich und von derselben Art wie sinnlicher Genuss. Alle Genussquellen seien gleichrangig. Lieben und genießen könne man den Wein, eine Frau, die Bildung, den Ruhm oder Gott, und das sei in allen Fällen für alle Menschen im Prinzip dasselbe, wenngleich das Ausmaß des Genusses von den jeweiligen Umständen abhänge. Die unerschütterliche Gemütsruhe, Unempfindlichkeit und Leidenschaftslosigkeit, die den Menschen als Seligkeit und Frucht der Kontemplation in Aussicht gestellt werde, sei in Wirklichkeit nicht erstrebenswert, sondern illusionär und naturwidrig. Außerdem machte Valla geltend, das philosophische und theologische Kontemplationsideal sei mit dem biblischen Gebot der Nächstenliebe unvereinbar.[73]
Der Platoniker Marsilio Ficino (1433–1499), ein entschiedener Befürworter des Vorrangs der vita contemplativa, griff einen Gedanken auf, den der spätantike Mythograph Fabius Planciades Fulgentius vorgetragen hatte: Er bezog den Mythos vom Urteil des Paris auf die verschiedenen Lebensweisen. Dem antiken Mythos zufolge fiel dem Jüngling Paris die Aufgabe zu, das Urteil darüber zu fällen, welche der drei Göttinnen Aphrodite (Venus), Athene (Minerva) und Hera (Juno) die schönste sei, worauf alle drei versuchten, ihn mit Versprechungen zu bestechen. Nach der Auslegung des Fulgentius und Ficinos verbildlicht Juno die vita activa, da sie Paris die Herrschaft in Aussicht stellte. Venus, die ihn mit der Liebe der schönen Helena verlockte, steht für die vita voluptuosa, das der sinnlichen Lust gewidmete Leben. Minerva, die mit dem Geschenk der Weisheit für sich warb, ist das Sinnbild des kontemplativen Lebens. Diese mythologischen Personifikationen der drei Lebensweisen waren im Spätmittelalter geläufig. Sie sind in Buchillustrationen des 14. und 15. Jahrhunderts bildlich dargestellt.[74]
Der Politiker und Humanist Cristoforo Landino († 1498) verfasste den Dialog Disputationes Camaldulenses, dessen erstes Buch den Titel De vita contemplativa et activa (Über das kontemplative und das tätige Leben) trägt. Er widmete das Werk dem Herzog von Urbino, Federico da Montefeltro, der als einziger unter den Zeitgenossen die beiden Lebensarten vereinigt und sich in beiden den größten Ruhm erworben habe. In dem Dialog ließ Landino eine Gesprächsrunde von Wissenschaftlern, Künstlern, Humanisten und Politikern darüber diskutieren, welcher der beiden Lebenswege zu bevorzugen sei, der Dienst an Gesellschaft und Staat oder die Wahrheitssuche in der Wissenschaft. Das Ergebnis der Debatte war, dass der Vorrang zwar der Forschung – der eigentlichen Bestimmung des Menschen – gebühre, doch solle man auch der sozialen und politischen Betätigung den angemessenen Raum gewähren.[75] Federico da Montefeltro teilte offenbar diese Einschätzung. Er ließ ein Staatsporträt von sich anfertigen, das die Erfüllung seiner doppelten Aufgabe illustrieren sollte. Das Gemälde zeigt den Herzog lesend in seinem Studierzimmer – er sitzt im Lehnstuhl und ist in die Lektüre eines großen Buches vertieft – und zugleich handlungsbereit: Er trägt eine schwere Rüstung und ist mit einem Schwert bewaffnet, womit auf seine erfolgreiche Karriere als Condottiere hingewiesen wird. Auf dem Boden steht sein Helm.[76] Die Vereinigung von humanistischen Studien und politisch-militärischen Leistungen in einem sowohl betrachtenden als auch tätigen Leben entsprach einer in der Renaissance verbreiteten Vorstellung vom idealen Staatsmann. In der bildenden Kunst fand dieses Ideal vielfach Ausdruck.[77]
Hinsichtlich des Verhältnisses von Lebensformen und Tugenden oder Fähigkeiten übernahmen die Humanisten die traditionelle Zuordnung der „moralischen“ Tugenden Gerechtigkeit, Mäßigung und Tapferkeit zur Aktion, während sie der Kontemplation die „intellektiven“ oder „spekulativen“ virtutes („Tugenden“ hier im Sinne von Fähigkeiten) zuwiesen: die geistigen Qualitäten, die man für den Erfolg in den studia humanitatis – dem humanistischen Bildungsprogramm – benötigte.[78]
Nikolaus von Kues
Auch der Philosoph und Theologe Nikolaus von Kues († 1464), der gewöhnlich latinisiert Cusanus genannt wird, setzte sich mit der Frage nach der höchsten Lebensform auseinander und arbeitete eine Theorie der Kontemplation aus. Dabei knüpfte er an das vorherrschende aristotelische Modell an und erweiterte es mit eigenen Überlegungen. Den Ausgangspunkt bildete der Befund, dass jeder die letzte Glückseligkeit (ultima felicitas oder beatitudo) erstrebe, und das sei für den Menschen diejenige, die seiner eigenen menschlichen Natur entspreche und in der höchsten Verwirklichung seiner ihm eigenen Möglichkeiten bestehe. Nach der cusanischen Philosophie ist die so definierte Seligkeit das oberste, letzte Ziel des Menschen. Daraus ergibt sich der Gesichtspunkt, unter dem die Frage nach der höchsten Lebensform zu stellen und zu beantworten ist: Es ist die Lebensweise, die zu dem Ziel führt. Erreicht wird das Ziel, wenn sich das menschliche Leben mit der Quelle vereinigt, aus der es selbst fließt und von der ihm die Seligkeit zukommt. Dabei handelt es sich um ein göttliches, ewiges Leben, an dem der Mensch Anteil hat. Somit geht es um die Einung (unio) des Menschen mit Gott und um einen Lebensvollzug, der darauf abzielt.[79]
Die Einung als bewusster Akt setzt für Cusanus voraus, dass der Mensch den Schöpfer als seinen Ursprung erfasst und sich als dessen lebendiges Abbild begreift, das ebenso wie das Urbild unvergänglich ist. Selbsterkenntnis bedeutet Erkenntnis des einen absoluten Ursprungs allen Seins und der eigenen Verbundenheit mit ihm. Die vollendete Form solchen Erkennens ist die Gottesschau, „denn die Betrachtung oder Kontemplation oder Schau ist der vollkommenste Akt, der unsere höchste Natur, nämlich die intellektuelle, beglückt, wie auch Aristoteles zeigt“.[80] Demnach ist die Kontemplation die wertvollste Betätigung des Menschen.[81]
Die Instanz im Menschen, welche die Schau ermöglicht, steht für Cusanus über dem Verstand. Mit Verstand (ratio) ist die Kraft gemeint, welche die Sinneseindrücke mittels passender Begriffe ordnet. Der Verstand schafft Ordnung, indem er klassifiziert, einschließt und ausschließt und damit auch negiert – eine Leistung, zu der die Sinne nicht imstande sind. Dabei muss er das Unendliche aus seiner Betrachtung fernhalten, denn es übersteigt seinen Horizont. Alles verstandesmäßige Wissen beruht auf Vergleichen und ist somit auf Relatives bezogen. Daher kann der menschliche Verstand etwas Absolutes wie das Maximum oder das Unendliche nicht erfassen. Der Bereich des Göttlichen, dessen Merkmal die Unendlichkeit ist, bleibt ihm verschlossen. Der Mensch verfügt jedoch noch über eine weitere Fähigkeit, die Vernunft (intellectus), die weit über dem Verstand steht. Sie ist in der Lage, zum Begriff der Unendlichkeit und unendlichen Einheit zu gelangen.[82]
Somit kann sich die Vernunft der göttlichen Wirklichkeit annähern. Als Hindernis stellt sich ihr dabei jedoch das paradoxe Verhältnis des Göttlichen zum Gegensätzlichen und Widersprüchlichen entgegen. Gott ist für Cusanus die „einfache Einheit“, in der – aus menschlicher Sicht – alle Arten von Entgegengesetztem (opposita) zusammenfallen („koinzidieren“), wodurch die Gegensätze aufgehoben werden. Dieses Prinzip der Koinzidenz der Gegenpole (coincidentia oppositorum) gilt paradoxerweise auch für die kontradiktorischen (widersprüchlichen) Gegensätze, die einander nach dem aristotelischen Satz vom Widerspruch ausschließen. Das ist für den Verstand absolut unannehmbar und stellt auch für die Vernunft ein Problem dar. Dennoch ist es eine Notwendigkeit, zu der das Denken gelangt. Die Koinzidenz steht – wie Cusanus es ausdrückt – als „Mauer“ zwischen der verstehenden Einsicht und dem göttlichen Urgrund. Gott bleibt unerreichbar, wenn es nicht gelingt, die Vorstellung der Widersprüchlichkeit zu übersteigen und das Paradox als Wirklichkeit zu erfassen. Erst hinter der Mauer kann Gott unverhüllt gefunden und gesehen werden. Wer zur göttlichen Wahrheit vordringen will, muss demnach die Pforte durchschreiten, durch die er hinter die Mauer gelangt.[83] Dies ist grundsätzlich möglich, weil zwei Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens ist der menschliche Geist ein Abbild Gottes und daher im Prinzip in der Lage, nicht nur zu begreifen, sondern auch das zu „sehen“, was allem Begreifen vorausgeht; zweitens zeigt sich Gott in der Kontemplation dem Betrachter, das heißt, er überführt die Möglichkeit, gesehen zu werden, in Wirklichkeit. Die eigene Bemühung des Gottsuchers ist aber unerlässlich; sie besteht in der intellektuellen Bewegung auf die Grenzen des begrifflichen Erkennens zu. Um die Gottesschau zu ermöglichen, muss der Geist sich selbst zum Absoluten hin übersteigen. Das Betrachten ist dem Begreifen überlegen, setzt aber den Erkenntnisprozess des begreifenden Intellekts als zuvor erbrachte Leistung voraus.[84]
Obwohl Cusanus die Glückseligkeit als Endziel der menschlichen Bemühungen bestimmte, fasste er den Prozess der Annäherung an dieses Ziel als intellektuellen Vorgang auf. Die Kontemplation bezeichnete er als „intellektuelle Schau“ (visio intellectualis).[85] Seine Philosophie führte nicht zum Verzicht auf die denkerische Aktivität zugunsten eines affektiven Erlebens. Dazu bemerkte er, man erhebe sich zwar „unwissend“ zu Gott, doch dazu sei nur die intellektive Kraft imstande, nicht der Affekt. Der Affekt werde durch Liebe bewegt, Liebe setze aber voraus, dass eine auf ihr Objekt bezogene Erkenntnis bereits vorhanden sei. Man könne etwas nur lieben, wenn man erkannt habe, dass es gut sei.[86]
In seinem letzten Werk, De apice theoriae (Über den Gipfel der Betrachtung), bestimmte Cusanus das eine „Können“ als das Einfache, auf das sich die Gesamtheit der vielgestaltigen und wechselhaften Dinge zurückführen lasse. Auf dieses Vorausgesetzte solle man hinblicken.[87]
Die Erzählung von Martha und Maria legte Cusanus im Sinne seiner Erkenntnistheorie aus. Er meinte, Martha repräsentiere den Verstand, Maria die Vernunft und Jesus sei die Wahrheit. Nach seiner Auslegung lässt sich Martha durch vieles in Unruhe bringen und sorgt sich um vieles, wie es die Gewohnheit des Verstandes ist, die eine Folge seiner Unzulänglichkeit ist. Wegen dieses Ungenügens beschwert sich Martha bei Jesus und bittet ihn, Maria zur Hilfe herbeizurufen. Maria hingegen sitzt zu Füßen des Herrn, achtet nur auf ihn und lässt alle Sorgen hinter sich. Das entspricht der Natur des Intellekts, denn die Vernunft ist in der Lage, sich von der Vielheit, vom Instabilen und Unruhigen zu trennen und sich ganz auf „das Eine“ – die einheitliche, unwandelbare Wahrheit – auszurichten. Diese Orientierung ist das „Bessere“, das Maria erwählt hat, wie Jesus feststellt.[88]
Hesychasmus
Eine Sonderform der Kontemplation ist der Hesychasmus, eine spirituelle Praktik, die im Mittelalter von orthodoxen byzantinischen Mönchen entwickelt wurde und in der Orthodoxie bis zur Gegenwart hohes Ansehen genießt. Nach der hesychastischen Literatur ist das Ziel der Praktizierenden, der Hesychasten, die Erlangung und Bewahrung der hesychia, einer inneren „Ruhe“ oder „Stille“, die mit völligem Seelenfrieden verbunden ist. Dazu sind beharrliche, systematische Bemühungen im Rahmen einer speziellen Gebetspraxis erforderlich. Die betenden Hesychasten wiederholen über lange Zeiträume das Jesusgebet und setzen als Hilfsmittel zur Förderung der Konzentration eine Atemtechnik ein. Die hesychia gilt als Voraussetzung für das Erleben einer besonderen göttlichen Gnade, der Wahrnehmung des ungeschaffenen Taborlichts in einer Vision. Im ungeschaffenen Licht soll Gott selbst anwesend und sichtbar sein. Seit dem 14. Jahrhundert ist die von Gregorios Palamas geschaffene theologische Grundlage des Hesychasmus, der „Palamismus“, Bestandteil der verbindlichen Lehre der griechischen Orthodoxie.[89]
Die mittelalterliche hesychastische Bewegung hatte ihr Zentrum in den Klöstern und Skiten auf dem Berg Athos. In ihrer Blütezeit im Spätmittelalter breitete sie sich auch in den nördlichen Balkanraum und nach Russland aus. Nach dem Untergang des Byzantinischen Reichs im 15. Jahrhundert setzten russische Mönche die hesychastische Tradition fort.
Im neuzeitlichen Christentum wird der Begriff Kontemplation oft ungefähr gleichbedeutend mit Meditation verwendet, wobei aber Kontemplation als Gegensatz zu Aktion stärker den Aspekt der Beschaulichkeit und Zurückgezogenheit akzentuiert. Daneben blieb jedoch in der Frühen Neuzeit die schon im Mittelalter entwickelte Unterscheidung präsent, der zufolge in der Meditation die verschiedenen Seelenkräfte tätig bleiben, während sie in der Kontemplation zur Ruhe kommen.[90]
Römisch-katholische Kirche
In der römisch-katholischen Kirche bezeichnet man eine Ordensgemeinschaft als „kontemplativ“ oder „beschaulich“, wenn ihre Angehörigen, die meist in der Klausur eines Klosters leben, sich überwiegend dem kirchlichen Stundengebet und der Betrachtung (Kontemplation) widmen. Durch ihre Ausrichtung unterscheiden sich solche Gemeinschaften von denen der vita activa.
Zu den beschaulichen Orden gehören die Unbeschuhten Karmeliten, ein von den später heiliggesprochenen Gründerpersönlichkeiten Teresa von Ávila (1515–1582) und Johannes vom Kreuz († 1591) hervorgebrachter Reformzweig des Ordens der Karmeliten. Teresa von Ávila fasste die Kontemplation als „Arbeit“ (spanisch trabajo) auf, die für Gott dem Dienst im tätigen Leben gleichwertig sei.[91] In der karmelitischen Kontemplation steht der affektive Aspekt im Vordergrund, man pflegt das Zwiegespräch der Seele mit Gott. Verbreitet ist in der karmelitischen Literatur seit dem 16. Jahrhundert die Unterscheidung zwischen Meditation und Kontemplation, wobei die Kontemplation als die höhere Stufe gilt, die an die Meditation anschließt. Das Meditieren soll eine Haltung erzeugen, die als Voraussetzung für Kontemplation betrachtet wird. Unter Kontemplation verstehen die karmelitischen Autoren eine Erkenntnisweise, die in einem einfachen Akt der Schau der Wahrheit oder im ruhigen Verweilen beim Erkenntnisgegenstand besteht. Sie unterscheiden zwischen einer „erworbenen“ und einer „eingegossenen“ Kontemplation. Die erworbene hat aktiven Charakter, sie ist ein Erlebnis, das durch eigene Anstrengungen mit Hilfe der Gnade erlangt werden kann. Die eingegossene ist eine passiv empfangene Erfahrung, bei der Gott von innen her in der Seele tätig wird. Außerdem wird bei der eingegossenen Kontemplation zwischen einer vollkommenen und einer unvollkommenen Form unterschieden, und im Lauf der Zeit haben karmelitische Autoren noch weitere Begriffe und Unterteilungen eingeführt. Im modernen Karmel wird seit dem 20. Jahrhundert die scholastische Systematisierung der Kontemplationslehre durch die Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts eher kritisch gesehen; man orientiert sich lieber an den Ursprüngen, an den Gründerpersönlichkeiten Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz.[92]
Auch der einflussreiche geistliche Autor und Ordensgründer Franz von Sales (1567–1622) unterschied zwischen Meditation und Kontemplation. Er verglich die Meditation mit dem Herumfliegen der Bienen, die Nektar sammeln, und die Kontemplation mit dem Genuss des Honigs im Bienenstock. Meditation sei anstrengend, Kontemplation mühelos und freudig. Kontemplation sei keine Anfängersache, sondern setze Geübtheit im Meditieren voraus. Franz lehrte eine Meditations- und Kontemplationsweise, deren Kernelemente sich auch in weiten Laienkreisen verbreiteten. Dabei wurde die Vorstellung der Allgegenwart Gottes und insbesondere seiner Gegenwart im eigenen Herzen des Betrachtenden kultiviert. In den spirituellen Strömungen des 17. und 18. Jahrhunderts erlangte die Übung der Gegenwart Gottes große Bedeutung. Sie fand auch außerhalb der katholischen Welt Wertschätzung.[93]
Bedeutende kontemplative Impulse gingen auch von Ignatius von Loyola (1491–1556), dem Gründer der Ordensgemeinschaft der Jesuiten, aus. Bei den Jesuiten nehmen geregelte geistliche Übungen (Exerzitien) einen wichtigen Raum ein. Die vom Ordensgründer eingeführten Exercitia spiritualia dienen als grundlegendes Instrument der Schulung von Gedächtnis, Verstand und Willen. Diese durch präzise Anweisungen festgelegten Übungen sollen zur vollendeten Selbstbeherrschung und Ausrichtung auf den Willen Gottes führen und damit auch zu effizientem Handeln im Dienst des Ordens und der Kirche befähigen. Sie werden möglichst in zeitweiliger Abgeschiedenheit ausgeführt. Der Übende hat mit seiner konzentrierten Vorstellungskraft Phantasiebilder zu erzeugen, die ihn zusammen mit entsprechenden Überlegungen zu einer bewussten Entscheidung zur Aktion bringen sollen.[94]
Eine Variante des Disputs um Wert und Rang von Aktion und Kontemplation war der Streit um den sogenannten Quietismus im späten 17. Jahrhundert. Dieser Begriff bezeichnet spirituelles Gedankengut, das damals von einigen katholischen Persönlichkeiten hauptsächlich in Italien, Spanien und Frankreich verbreitet wurde, aber auch in protestantischen Ländern Anklang fand. Zu den bekanntesten Persönlichkeiten, die dieser Strömung zugerechnet und ihrer Verbreitung angeschuldigt wurden, zählen Miguel de Molinos, Madame Guyon und François Fénelon, der zeitweilig einflussreiche Erzbischof von Cambrai. Gemeinsam war ihnen die Forderung, Gott um seiner selbst willen und nicht um eines Lohnes willen zu lieben. Damit verband sich eine Abwertung aller menschlichen Bemühungen und Taten aus eigenem Antrieb. Es wurde gelehrt, man solle nichts von sich aus anstreben, vielmehr sich ganz Gottes Willen hingeben und ihn handeln lassen. Molinos trat für einen „inneren Weg“ ein, ein kontemplatives, wortloses „Gebet der Ruhe“. Damit könne man sich die erwünschte passive, empfängliche Haltung aneignen und Seelenruhe erlangen. Der innere Weg stehe allen Gläubigen offen. Anfänglich billigte die katholische Kirche diese Ideen, doch später verdammte sie „quietistische“ Thesen als Irrlehren und die Inquisition verfolgte Personen, die des Quietismus verdächtigt wurden. Molinos wurde 1685 festgenommen, seine Lehre wurde 1687 von Papst Innozenz XI. verurteilt. Er wurde der Häresie für schuldig befunden und blieb bis zu seinem Tod 1696 in Haft. Im Jahr 1699 folgte die Verurteilung einzelner Sätze Fénelons durch Papst Innozenz XII., doch wurde Fénelon nicht als Häretiker eingestuft und durfte sein kirchliches Amt behalten. Der Streit um den Quietismus und dessen kirchliche Verdammung führte in der katholischen Welt zu einer generellen Diskreditierung von Formen kontemplativer Spiritualität, die nun als suspekt galten. Außerhalb des Katholizismus schadete das Vorgehen der Inquisition dem Ansehen der katholischen Kirche.[95]
Der Trappist und Schriftsteller Thomas Merton veröffentlichte 1949 sein Werk Seeds of Contemplation, eine Sammlung von Gedanken und Überlegungen über das innere Leben. Das Buch fand starke Resonanz und wurde bald in dreizehn Sprachen übersetzt. Im Jahr 1961 publizierte Merton eine gründlich überarbeitete Fassung unter dem Titel New Seeds of Contemplation, die seither als Standardwerk gilt.[96] Er beschrieb die Kontemplation als den höchsten Ausdruck des intellektuellen und spirituellen Lebens des Menschen. Sie sei „dieses Leben selbst in seiner voll erwachten, voll aktiven, voll sich seiner Lebendigkeit bewussten Form“ und „eine lebendige Wahrnehmung der Tatsache, dass das Leben und Sein in uns aus einer unsichtbaren, transzendenten und unendlich überfließenden Quelle stammen“.[97]
Im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert sind u. a. Peter Dyckhoff, Emmanuel Jungclaussen, Willigis Jäger und Franz Jalics mit Schriften zur Kontemplation hervorgetreten und haben in Kursen, Seminaren und Lehrgängen Einführungen angeboten. Einige Übungsweisen aus dieser auch vom Zazen beeinflussten Bewegung haben sich konsolidiert und haben in Vereinen und Meditationszentren einen institutionellen Rahmen gefunden.[98] Im englischsprachigen Raum war Thomas Keating maßgeblich an der Entwicklung des centering prayer (Gebet der Zentrierung) beteiligt. Bei dieser Kontemplationsform wendet sich der Praktizierende still und hingebungsvoll einem von ihm frei gewählten Wort zu. Dies soll innere Stille und ein „Ruhen in Gott“ bewirken. Nach Keatings Konzept wohnt Gott in der Tiefe des Unbewussten. Das Gebet der Zentrierung soll den Betenden für das Unbewusste empfänglich machen und zur Vereinigung mit der göttlichen Gegenwart führen.[99]
Evangelischer Bereich
Martin Luther verwarf das Mönchtum, den wichtigsten Träger der kontemplativen Tradition. Auch Johannes Calvin übte heftige Kritik an Mönchen und Eremiten, denen er vorwarf, die Pflichten zu verlassen, die Gott den Christen in erster Linie aufgetragen habe. Ein Familienvater sei dem Gemeinwesen nützlicher als ein Mönch. Der Mönch sei mit seiner Zurückgezogenheit ein schlechtes Vorbild, er biete den Christen ein nutzloses und gefährliches Beispiel. Diese Wertung wurde im späteren Calvinismus noch schärfer akzentuiert, etwa bei dem Juristen und Staatstheoretiker Johannes Althusius († 1638). Althusius war der Ansicht, die für alle gleichartige menschliche Natur fordere zwingend das tätige Leben; dieses entspreche nicht einem sittlichen Rat, sondern einem Gebot. Eine kontemplative Lebensweise sei unsozial und prinzipiell unzulässig, sie könne keinesfalls gottgefällig sein.[100]
Da in den reformierten Kirchen das mönchische Lebensideal wegfiel, fand die Kontemplation dort in der Frühzeit der Reformation keinen Nährboden und konnte sich auch später nur wenig entfalten. Im Verlauf der Frühen Neuzeit versuchten jedoch einzelne Persönlichkeiten, kontemplative Elemente in die evangelische Frömmigkeit einzuführen. Zu ihnen zählen der Prediger und Erbauungsschriftsteller Martin Moller (1547–1606), der dazu aufforderte, die Frömmigkeit durch meditative Aneignung der Glaubensinhalte einzuüben, Johann Arndt (1555–1621) mit seinem kontemplativen Verständnis des Betens, Johann Gerhard (1582–1637), der tägliche Meditation empfahl, und vor allem Gerhard Tersteegen (1697–1769), der Anregungen aus katholischer Kontemplationsliteratur aufnahm. Allerdings fehlt in der evangelischen Spiritualität gewöhnlich das für die katholischen Kontemplationslehren charakteristische Konzept eines gestuften Aufstiegs, dessen Verlauf sich systematisch darlegen lässt.[101]
Orthodoxer Bereich
In der orthodoxen Welt blieb in der Neuzeit der Berg Athos ein Zentrum des Hesychasmus. Die Athosmönche hielten unter der türkischen Herrschaft an ihrer traditionellen Kontemplationsweise fest. Auch in Russland lebte die hesychastische Tradition in manchen Klöstern fort, doch wurde sie durch mönchsfeindliche Maßnahmen geschwächt, die Zar Peter der Große (1682–1725) ergriff. Einen bedeutenden Aufschwung erlebte die Kontemplation ab dem späten 18. Jahrhundert, nachdem 1782 die umfangreiche Quellensammlung Philokalie erschienen war, eine Zusammenstellung maßgeblicher Texte der orthodoxen Spiritualität, die als geistliche Anleitung populär wurde. Dieses Werk entfaltete auch in russischer Übersetzung eine starke Wirkung. Es entstand eine neue Strömung, der „Neuhesychasmus“, dessen Merkmal das Heraustreten aus der Zurückgezogenheit der klösterlichen Sphäre ist; die hesychastische Kontemplation soll einer breiteren Öffentlichkeit außerhalb des Mönchtums vertraut gemacht werden.[102]