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europäische kulturelle Bewegung des 18. und 19. Jahrhunderts Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Der Begriff Aufklärung bezeichnet die um das Jahr 1700 einsetzende Entwicklung, durch rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen zu überwinden. Es galt, Akzeptanz für neu erlangtes Wissen zu schaffen – etwa für jenes, das im Zuge der naturwissenschaftlichen Revolution im 16. und 17. Jahrhundert gewonnen worden war. Seit etwa 1780 bezeichnet der Terminus auch diese geistige und soziale Reformbewegung, ihre Vertreter und das zurückliegende Zeitalter der Aufklärung (Aufklärungszeitalter, Aufklärungszeit) in der Geschichte Europas und Nordamerikas. Es wird meist auf etwa 1650 bis 1800 datiert. Aufklärung und Barock, die oft als Gegensätze gesehen werden, entwickelten sich über Jahrzehnte zeitgleich im gleichen geografischen Raum.
Als wichtige Kennzeichen der Aufklärung gelten die Berufung auf die Vernunft als universelle Urteilsinstanz, mit der man sich von althergebrachten, starren und überholten Vorstellungen und Ideologien gegen den Widerstand von Tradition und Gewohnheitsrecht befreien will. Dazu gehörte im Zeitalter der Aufklärung der Kampf gegen Vorurteile und die Hinwendung zu den Naturwissenschaften, das Plädoyer für religiöse Toleranz und die Orientierung am Naturrecht. Als eines der Hauptwerke der Aufklärung galt die von den Enzyklopädisten Denis Diderot und D’Alembert herausgegebene 36-bändige Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers.
Gesellschaftspolitisch zielte die Aufklärung auf mehr persönliche Handlungsfreiheit (Emanzipation), Bildung, Bürgerrechte, allgemeine Menschenrechte und das Gemeinwohl als Staatspflicht. Insbesondere Olympe de Gouges setzte sich für die Frauenrechte ein. Condorcet wollte das allgemeine Wahlrecht auch den Frauen gewähren. Viele Vordenker der Aufklärung waren fortschrittsoptimistisch und nahmen an, eine vernunftorientierte Gesellschaft werde die Hauptprobleme menschlichen Zusammenlebens schrittweise lösen. Dazu vertrauten sie auf eine kritische Öffentlichkeit.
Aufklärerische Impulse beeinflussten Literatur, Schöne Künste und Politik, etwa die Amerikanische Revolution von 1776 und die Französische Revolution von 1789. Sie trugen zu einem andauernden Rationalisierungsprozess von Politik und Gesellschaft bei, so dass die Aufklärung zu einem Kennzeichen der Moderne wurde.
Kritik an dem „Vernunftglauben“ entstand seit etwa 1750 unter den Aufklärern selbst, dann im Sturm und Drang und in der Romantik, aber auch im Skeptizismus und dem sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts formierenden politischen Konservatismus. Seit 1945 wird die europäische Aufklärung angesichts ihrer Spätfolgen auch als unabgeschlossenes und ambivalentes Projekt gedeutet, etwa in der Frankfurter Schule; in jüngerer Zeit wird Aufklärung überdies als unvollendeter gesellschaftlicher Emanzipationsprozess gewertet, der auch im 21. Jahrhundert der Fortführung bedürfe, so etwa von der Giordano-Bruno-Stiftung. Analoge Emanzipationsprozesse, ihr Fehlen oder ihre Notwendigkeit werden auch bei anderen Kulturen diskutiert. Die Denkannahmen der Aufklärung stehen im Zentrum der Kritik der Theoretiker der Postmoderne, während die meisten Geistes- und Sozialwissenschaftler sich weiterhin in der Moderne verwurzelt sehen und sich positiv auf die Gedanken der Aufklärung beziehen. Sie stellen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom Dezember 1948 in die Tradition der Aufklärung.
Der Begriff Aufklärung ist eng verbunden mit der frühmodernen Verurteilung des Mittelalters als einer Epoche der Dunkelheit und des finsteren Aberglaubens, die im Vergleich zur Antike als rückständig galt. Die Neuzeit sollte der Dunkelheit des Mittelalters das Licht der Erkenntnis entgegensetzen. Die Lichtmetaphorik konnte von der Antike übernommen werden: Vom Licht der Erkenntnis wurde in der griechischen Philosophie (zuerst von Parmenides), in der spätantiken Gnostik sowie in der Bibel gesprochen. Der Ausdruck ist zugleich mit einer Bemühung um Klarheit der Begriffe (clare et distincte) als Maßstab der Wahrheit verbunden – etwa bei René Descartes, Gottfried Wilhelm Leibniz und Johann Heinrich Lambert.
Der Gebrauch des englischen Verbs „to enlighten“ und des Partizips „enlightened“ war seit dem 17. Jahrhundert üblich. Sie bedeuten „Verständnis schaffen“ und „aufgeklärt“ im Sinne von „über eine Sache erhellend informiert“. Das Substantiv „Enlightenment“ wurde erst im 20. Jahrhundert als Epochenbegriff gängig.[1] Der deutsche Ausdruck Aufklärung wurde um 1770 üblich. Immanuel Kants berühmte Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Dezember 1784) reagierte auf einen Aufruf der Berliner Monatsschrift zur Klärung eines Begriffs. Auch hier ging der Epochenbegriff aus dem bis dahin unauffälligen Sprechen von „aufklären“ im Sinne von „sich über einen Sachverhalt Klarheit verschaffen“ hervor. Nach Kant ist Aufklärung „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (wobei er Unmündigkeit als „Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ versteht), also die Entwicklung zu einer mündigen Persönlichkeit, zugleich erklärte er „sapere aude“ („wage es, weise zu sein!“) zum Wahlspruch der Aufklärung.
Die Aufklärungsdiskussion nahm Vorstellungen des Renaissance-Humanismus, unter anderem diejenigen des Gelehrten Erasmus von Rotterdam, und der Reformation seit dem frühen 15. Jahrhundert auf, die das Mittelalter als vergangene Epoche definierten und von der Gegenwart eine Neuausrichtung in Form einer Wiederbelebung der Antike forderten, um dem Mittelalter zu entrinnen. Aus diesem Grund ist die Antike als Legitimationsinstanz in den philosophischen und literarischen Schriften der Aufklärungszeit omnipräsent.[2] Der Lichtmetaphorik bezüglich des „finsteren“ Mittelalters entsprach nun kontrastierend ein „helleres“ Zeitalter.
Die Aufklärung in Frankreich war zunächst eine im Wesentlichen ästhetisch-literarische Bewegung. Charles Perrault stellte erstmals die kulturellen Leistungen zur Zeit Ludwig XIV. über die der Antike, deren Vorrang vor allem von Nicolas Boileau vertreten wurde. In dieser Querelle des Anciens et des Modernes, dem Streit der „Alten und der Neuen“ zwischen 1688 und 1696 diskutierte man, ob die Moderne nicht eine ganz eigene Kultur hervorbringe – eine Zivilisation, die dem Mittelalter und der Antike überlegen sei. Doch auch in den 1730er und 1740er Jahren bekämpfte die Aufklärung noch traditionelle und scholastische Gegenströmungen, nun aber im Bewusstsein, mit der gesamten Vergangenheit zu brechen und sich von vorherigen Autoritäten zu lösen.
Als entscheidender Anstoß kann die frühmoderne naturwissenschaftliche Revolution bestimmt werden, die das Wissen der Antike und des Mittelalters korrigierte, erweiterte und Theorie und Methodik verbesserte. Deren Höhepunkt und (wenigstens vorläufiger) Abschluss wird oft in Isaac Newtons Hauptwerk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687) gesehen.
Jean-Baptiste Dubos sprach 1732 erstmals von einem Siècle des Lumières („Jahrhundert der Lichter“). Jean-Jacques Rousseau und Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1751 in seiner Einleitung zur Encyclopédie) griffen den Ausdruck auf. Die Vertreter dieser neuen Denkweise wurden Les Lumières genannt.
Eine „Epoche“ der Aufklärung blieb wegen fließender Übergänge in vielen Bereichen schwer abgrenzbar. Die historischen Eckdaten der Epoche sind je nach Fachgebiet verschieden. Ein relativ eng gefasster Begriff von Aufklärung besteht in der Germanistik, die Johann Christoph Gottsched und Gotthold Ephraim Lessing als die zentralen Vertreter der Epoche begreift und diese vom Barock und dem 17. Jahrhundert absetzt. Forscher wie Werner Krauss stellten der Hauptphase eine Frühaufklärung voran, die ins 17. Jahrhundert zurückreicht, und setzten eine Spätaufklärung vor 1800 an. Jürgen Osterhammel datiert das Zeitalter der Aufklärung zwischen 1680 und 1830.[3] Die Musikgeschichte verzeichnet hingegen erst um 1730 eine Abkehr von der Barockmusik, besonders von der Gattung der Fuge. Ähnlich ergebnislos wurde diskutiert, ob die „Empfindsamkeit“ eine emotionale Seite der Aufklärung sei oder eine Gegenströmung. Die Forschung vermeidet Konflikte um die epochale Zuordnung solcher Begriffe, indem sie von der „frühen Neuzeit“ oder dem „18. Jahrhundert“ spricht.
Nur der Politikwissenschaft dient Zeitalter der Aufklärung heute als relativ klar umrissener Epochenbegriff. Gemeint ist die Zeit der Vorbereitung des modernen Verfassungsstaats und der modernen Regierungsorganisation in Europa und Nordamerika von etwa 1650 bis etwa 1800, in der die Impulse der Aufklärung in politisches Handeln umgesetzt wurden. Dies geschah unter Berufung auf entsprechende Naturrecht- und Staatstheorien: in England beispielsweise von Thomas Hobbes und John Locke, in Frankreich von Charles de Secondat, Baron de Montesquieu, Voltaire und Jean-Jacques Rousseau, in Deutschland von Samuel von Pufendorf, Christian Wolff, Christian Thomasius und Immanuel Kant, in den USA von Thomas Jefferson und James Madison. Aber auch die moralphilosophischen und Wohlfahrtstheorien von Francis Hutcheson und Adam Smith spielten für die Entwicklung des Denkens der Aufklärung eine wichtige Rolle.
Angestoßen und begünstigt durch die frühneuzeitlichen Transformationsprozesse auf wirtschaftlicher, gesellschaftskultureller und machtpolitischer Ebene fanden die Lehren der Aufklärung nicht nur in bürgerlichen Interessengemeinschaften und Vereinigungen, sondern auch an diversen Fürstenhöfen Verbreitung, sofern die dort Herrschenden aufklärerischem Gedankengut gegenüber aufgeschlossen waren. Von solchen Vorstellungen inspiriert und teils geleitet waren in England die Glorious Revolution von 1689, der aufgeklärte Absolutismus etwa in Preußen und Österreich, die Entstehung der Vereinigten Staaten von Amerika und die Französische Revolution, aber auch die Reformen der Zarin Katharina II.
Die weitere Verbreitung aufklärerischer Staatsideen auch jenseits ihres geschichtlichen Entstehungszusammenhangs ist für die Ausgestaltung der modernen Staatenwelt anhaltend bedeutsam geblieben. Dies zeigt sich sowohl bei der Errichtung demokratischer Systeme auf einzelstaatlicher und zwischenstaatlicher Ebene, so in der Europäischen Union und in den Vereinten Nationen, als auch zum Beispiel in der Forderung nach weltweiter Garantie der Menschenrechte.
In der internationalen Forschung ist ein Interesse an „Diskursen der Aufklärung“ in der frühen Neuzeit (ca. 1500 bis 1800) verbreitet. In jüngster Zeit wurde das 17. Jahrhundert als Phase eigenständiger radikaler und subversiver Denkbewegungen entdeckt.[4] Als Kernphase der Aufklärung gilt aber weiterhin der Zeitraum von 1750 bis 1780.
Eine rückblickende Kontroverse, wie diese Epoche zu verstehen sei, fand zwischen 1780 und 1800 statt. Grundgedanken wie die Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen, wie sie in die Verfassung der Vereinigten Staaten einflossen, wurden von einzelnen Aufklärern wie Edmund Burke oder Moses Mendelssohn kritisch betrachtet.[5] Margaret C. Jacob, Jonathan Israel und Martin Mulsow unterscheiden in der Aufklärungsepoche eine moderate, reformerische Hauptströmung von einer revolutionären, säkularistischen Nebenströmung, genannt Radikalaufklärung.[6]
Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff der Aufklärung auch auf die klassische Epoche im antiken Griechenland übertragen. Man sprach von einer „ersten“ Aufklärung und bezog sich dabei einerseits auf das methodisch-kritische Fragen des platonischen Sokrates und seine Wendung gegen sophistische Lehren, andererseits auf sophistische Denker wie Protagoras.[7]
Mitunter ist auch von einer „römischen Aufklärung“ die Rede, die in der rationalen und ansatzweise universalistischen, die Stände versöhnenden „Regelungskultur“ des Rechts ihren Ausdruck gefunden habe, welche auf jede religiöse Legitimität verzichtet.[8]
Von einer „islamischen Aufklärung“ spricht man sowohl bezugnehmend auf das von der Spätantike beeinflusste Werk des Averroes im 12. Jahrhundert als auch auf philosophische Strömungen in der islamischen Welt des 18. Jahrhunderts.[9]
Als „jüdische Aufklärung“ wird die Haskala bezeichnet, die sich – entstanden im Kontext der Berliner Aufklärung – seit etwa 1770 von Preußen aus nach Osteuropa verbreitete.[10]
Michael Hampe sieht in der Gegenwart eine „Dritte Aufklärung“ nach der altgriechischen und derjenigen im 18. Jahrhundert, beschrieben in seinem gleichnamigen Buch.[11] Ziel der bisherigen Aufklärungen sei ursprünglich vor allem die Abschaffung von Grausamkeiten gewesen; jetzt gehe es mehr um die Aufdeckung von Illusionen, Wahrheitsfindung in der weltweiten Meinungsinflation und -manipulation und die Bekämpfung von Unterdrückung und Ungerechtigkeiten. Es brauche Bildungsprozesse und den Mut, Evidenzen und Gründe einzufordern. Aufgeklärte Lebensformen seien immer bedroht.
Größere technologische und politische Umwälzungen unterscheiden die Frühe Neuzeit vom Mittelalter und vom 19. Jahrhundert. Der Buchdruck brachte ab etwa 1500 eine neue, zunächst zwar begrenzte, doch nicht mehr an die Gelehrsamkeit der Klöster gebundene Öffentlichkeit hervor. Der Entdeckung Amerikas 1492 folgte eine Neuorganisation des europäischen Mächtegewichts. Die Reformation veränderte ab 1520 Europas Bündniskonstellationen und das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern. Der Merkantilismus förderte Handel und Verkehr mit teils marktkonformen, teils dirigistischen Maßnahmen. An der Schwelle zum 19. Jahrhundert entstand ein neuer Typus des Nationalstaats, der die Säkularisation durchsetzte, moderne Bildungssysteme etablierte und die Industrialisierung vorantrieb.
Beim Begriff der Aufklärung geht es auch um die Prozesse zwischen diesen frühneuzeitlichen Eckpunkten. Man versucht die fortschrittlichen Faktoren zu definieren, die in das 19. Jahrhundert führten. Widerstände gegen diesen Fortschritt werden anti-aufklärerischen Kräften oder unreflektierten Traditionen zugeordnet. Die Epochendefinition rückt vor allem publizistisch tätige Gruppen in den gesellschaftlichen Fokus, die zunächst selten einen bürgerlichen Hintergrund aufwiesen, sondern weitaus häufiger der Geistlichkeit oder Aristokratie angehörten: Wissenschaftler, Journalisten, Autoren, sogar Regenten, die Traditionen der Kritik unterzogen, indem sie sich auf die Vernunftperspektive beriefen.
Bestrebungen, das Wissen der Zeit mit neuen Bildungssystemen, neuer Pädagogik, durch Bücher und Journale in der Bevölkerung zu verbreiten, ergänzten die primär wissenschaftlichen Diskussionsfelder der Aufklärungsepoche. Die damaligen öffentlichen Diskussionen politischer und gesellschaftlicher Prozesse spielen eine zentrale Rolle in der aktuellen Definition der Aufklärung. Die Verbreitung der Lesefähigkeit bot dafür eine wichtige Voraussetzung. Die Reformation brachte in den protestantischen Ländern einen Schub mit Aufrufen, eine persönliche Beziehung zur Bibel herzustellen, und mit einer eigenen Kultur der Streitschriften. In katholischen Gebieten gewann Erbauungsliteratur einen vergleichbaren Markt. In West- und Mitteleuropa wurde die Alphabetisierung durch die Einführung der Schul- bzw. Unterrichtspflicht gefördert, die in großen Teilen Deutschlands bis 1717 erfolgte. Auch die Zirkulation von Zeitungen als den gängigsten modernen Lektüreartikeln trug dazu bei. Zwischen den Wissenschaften und dem niederen Markt der Volksbücher entstand ein breites Angebot an „schöner Literatur“ (belles lettres), die sich primär durch Eleganz definierte und in den Städten das bürgerliche Publikum erreichte, besonders die Altersgruppe zwischen 20 und 40 und Frauen. Ab 1660 stellten sich auch die Wissenschaften auf das breitere Interesse ein. Die Grenze zwischen dem akademischen und dem öffentlich verfügbaren Wissen weichte auf: Die Publikation in den Landessprachen wurde zuerst in Frankreich (hier betreut durch die Académie française) die Regel. In England gewann das Englische mit London als Druckort mit kommerziell orientiertem Buchmarkt Bedeutung. In den Niederlanden wurde ab 1660 auf Französisch für den gesamten europäischen Markt gedruckt, da hier der Druck nicht der Vorzensur unterworfen war.
In Deutschland stellten sich die Wissenschaften relativ langsam vom Lateinischen auf die Landessprache um. In Leipzig versuchte Christian Thomasius als Erster, deutsche Vorlesungen einzurichten, und begründete dies 1687 mit der Notwendigkeit, die Franzosen nachzuahmen; doch im 18. Jahrhundert distanzierte sich eine zunehmend nationale Strömung von Frankreich als einem nun abschätzig betrachteten Modelieferanten. Ab 1720 nutzten Aufklärer in Deutschland die Landessprache gezielt, um Modernisierungsprozesse außerhalb der universitären Gelehrsamkeit voranzutreiben. Doch blieb (Neu-)Latein vor allem in katholischen Ländern eine wichtige Wissenschaftssprache, da sie den internationalen Austausch erleichterte.
Noch stockender verliefen die Entwicklungen in Nord- und Osteuropa. Der deutsche Buchmarkt war in Skandinavien neben dem französischen präsent; ein eigener skandinavischer Markt hatte hier erschwerte Startbedingungen. In Osteuropa richtete sich der Adel westeuropäisch aus; Frankreich blieb hier Orientierungspunkt. Eine kommerzielle bürgerliche Kultur der Bildung bauten Osteuropas Nationen erst in den Nationalisierungsprozessen des 19. Jahrhunderts auf. Aufklärerische Potentiale gelangten hier über die aristokratische Oberschicht kaum hinaus.
Eine historisch-kritische Bibelrezeption setzte 1678 mit der Histoire critique du Vieux Testament von Richard Simon ein. Dieses Werk wurde beschlagnahmt und verbrannt, erzielte aber nachhaltige Wirkung. Über 1700 hinaus blieb die Theologie das zentrale Diskussionsfeld, wie sich schon an der Buchproduktion zeigte. Im Lauf des 18. Jahrhunderts etablierten die Naturwissenschaften Erkenntnisse im Gegensatz zur Bibel. Obskurantismus und Szientismus standen sich nun als Pole polemischer Kritik gegenüber. Die Belletristik schuf einen neuen Bereich breiter Lektüre, in dem sich die Bevölkerung mit persönlichen Leitbildern ausstattete. Die Geschichtsschreibung wurde der neue Ort gesellschaftsweiter Kontroversen um die historische Selbstverortung. In den 1760er Jahren wuchs die Produktion historischer und belletristischer Schriften enorm und drängte die Theologie an den Rand.
Um 1800 wurde die gesamte Bildung schrittweise in Europa reformiert und auf die modernen öffentlichen Debatten ausgerichtet. Die alte Teilung der Universitäten in die vier Fakultäten Theologie, Jurisprudenz, Medizin und Philosophie wich der Aufteilung in Naturwissenschaften und Technik, je einen Bereich der Sozialwissenschaften und der Geisteswissenschaften. Die letzten beiden Bereiche wurden dabei für die Debatten zuständig, die in den modernen Gesellschaften öffentlich geführt werden.
Während im Jahrhundert nach der Reformation vor allem in radikalen reformatorischen Kreisen die chiliastischen Strömungen des Mittelalters wieder auflebten und auch im Dreißigjährigen Krieg[13] Weltuntergangsszenarien grassierten, kam es nach dem Abklingen der Religionskriege und ihrer Grausamkeiten und mit der verbesserten wirtschaftlichen Entwicklung in der Periode des Absolutismus seit etwa 1670 zu einer optimistischeren Grundstimmung, einer Bevölkerungsvermehrung und unter dem Einfluss der Wissenschaften auch zu einem besseren Verständnis der Position des Menschen im Kosmos. Diese Entwicklung spiegelt sich vor allem in den Theorien über die Natur des Menschen. In den Zukunftsszenarien der 1770er-Jahre geht die Menschheit fortan der Tugend entgegen.
Die Leser, für die Thomas Hobbes 1651 seinen Leviathan verfasste, gingen offenkundig noch davon aus, dass die Natur des Menschen verderbt sei und dass nur die Angst vor Strafe die Menschheit davon abhalte, sich selbst zu zerfleischen. Dagegen glaubte der Leser, an den sich Shaftesbury 1696 mit seinem Inquiry Concerning Virtue or Merit richtete, dass der Mensch von Natur aus das größte Glück empfinde, wenn er in Harmonie mit seiner Umwelt lebe. Bernard Mandeville attackierte Shaftesbury in den erweiterten Fassungen seiner Fable of the Bees 1714 und 1723: Das stimme wohl, denn die meisten Menschen hielten sich in ihrem Innersten für tugendsam und zeigten sogar ein schlechtes Gewissen, wenn niemand ihre Untugend bemerke. Doch sage das nichts über die Natur des Menschen aus, sondern allenfalls über die Erziehung, die ihn solche Tugenden verinnerlichen lasse. In der Folge stabilisiere die Gesellschaft sich selbst, indem sie Menschen, bei denen die Erziehung glückt, mit verantwortlichen Positionen ködere und belohne.
Die Lehren Pufendorfs waren über Gershom Carmichael nach Schottland gelangt. Sein Schüler Francis Hutcheson knüpfte eng an Shaftesbury an und entwickelte mit dem „Moral Sense“ eine Moralpsychologie. Zugleich war er Mitbegründer der Schottischen Schule. In seiner Nachfolge bewegten sich auch Adam Ferguson, David Hume und Adam Smith mit ihren moralphilosophischen Arbeiten. Gegen den Skeptizismus Humes stellte Thomas Reid den „Common Sense“, vertrat aber in der Moralphilosophie ebenfalls einen psychologischen Standpunkt.
Das Verhalten änderte sich zwischen den 1690er- und den 1740er-Jahren. In Romanen des frühen 18. Jahrhunderts wird es noch als Tugend aufgefasst, wenn eine Heldin „Verschlagenheit“ beweist: die Kunst, ihre Affekte in Zaum zu halten und sich beim Verfolgen geheimer Pläne nichts anmerken zu lassen. Christian Thomasius theoretisiert in den 1690er Jahren, dass tugendsame und tugendlose Menschen sich derselben Taktiken der Verstellung bedienten – die einen zu guten und die anderen zu bösen Zwecken. Mitte des 18. Jahrhunderts kommen demgegenüber Dramen auf den Markt, deren Heldinnen erröten, wenn sie ein Geheimnis vor ihren Eltern oder Geschwistern hegen sollen.
In den 1770er Jahren kommen mit Romanen wie Henry Mackenzies Man of Feeling (1771) selbst Männer in Mode, die innerlich zerbrechen, wenn sie nicht mit der Welt in Einklang leben. Für andere Menschen zu leben, bereitet den neuen tugendsamen Helden Mitte des 18. Jahrhunderts das intimste Glück. Sie machen einander Geständnisse, wo ihre Vorgänger im frühen 18. Jahrhundert noch ihre Reputation voreinander verteidigen. Die Helden der Jahrhundertmitte sind von Natur aus zart besaitet, schwach, auf die Hilfe anderer angewiesen – und erhalten diese Hilfe, da sie einander offenherzig begegnen. Durch permanente Enthüllungen begegnet die Kunst des Schriftstellers, Schauspielers oder Malers dem traditionellen Vorwurf der Täuschung, am radikalsten in Rousseaus vor 1770 entstandener Autobiographie (Les Confessions). Dass Denis Diderot in seiner Satire Rameaus Neffe (etwa 1760–1775) einen zugleich sensiblen und zutiefst verwerflichen Helden erfindet, ist eine Provokation und lässt sich nicht mehr veröffentlichen. – Die Helden des frühen 18. Jahrhunderts zeigten dagegen Stärke, wenn es darum ging, die eigene Reputation offensiv und rücksichtslos öffentlich in Szene zu setzen. Auch die Aufwertung der Faustfigur von einem Verbrecher, den man insgeheim bewundert, zu einem aufklärerischen Vorbild, vollzieht sich in dieser Zeit.
Im hohen Drama erscheint die sinnliche Liebe schon seit 1700 nicht mehr nur als selbstsüchtige Leidenschaft, wie in Antoine Houdar de la Mottes Ballett Le Triomphe des Arts (1700), in dem Pygmalions entfesseltes Begehren auch die Seefahrt und die Landwirtschaft beflügelt. Allmählich wird das Begehren auch in der niederen Komödie zur bürgerlichen Liebe aufgewertet: Die Titelfigur der überaus erfolgreichen Opera buffa La serva padrona (1733) von Giovanni Battista Pergolesi wird noch durch pure Verschlagenheit zur Hausherrin, während die Heldin von Mozarts La finta giardiniera (1775) sich nur aus Liebe verstellt, was durch den deutschen Titel Die Gärtnerin aus Liebe noch zusätzlich betont wurde. In Deutschland schrieb Theodor Gottlieb Hippel, ein Freund Immanuel Kants (1792 und 1793) das satirische Traktat Über die Ehe,[14] in der er die Liebesheirat gegen die Vernunftheirat verteidigte.
Frauen- und Männerrollen werden zwischen 1650 und 1800 neu definiert. Um 1800 sind Kastraten, Hosenrollen und Travestien von der Bühne verbannt, um zwei „natürliche“ Geschlechter auftreten zu lassen, deren weiblicher Part passiv ist. Dass eine Frau ihre Reputation öffentlich verteidigt, nötigenfalls indem sie publiziert, um ihre Tugend in ein besseres Licht zu stellen, ist im 17. Jahrhundert statthaft. In Romanen fallen bis in das frühe 18. Jahrhundert Heldinnen auf, die sich gegen ihre Eltern stellen und sich, physisch angegriffen, mit Waffengewalt verteidigen. Das zwischen 1660 und 1720 moderne galante Verhalten gesteht es Frauen und Männern zu, einander im Gespräch gleichrangig zu begegnen. Mit den 1720er Jahren, in der Mode der Empfindsamkeit, wird vor allem ein Frauenbild modern, in dem die Frau als das schwache Geschlecht auf den Schutz der Gesellschaft angewiesen ist. Die publizistische Betätigung, die für Frauen wie Madeleine de Scudéry (1607–1701), Aphra Behn (1640–1689), Marie-Catherine d’Aulnoy (1650–1705), Anne-Marguerite Petit DuNoyer (1663–1719), Delarivier Manley (1663–1724) legitim war, wird im 18. Jahrhundert neuen Regeln öffentlichen Anstands unterworfen, die von der Frau natürliche Bescheidenheit und Zurückhaltung verlangen.
Hinter den Verhaltensangeboten der Romane und Dramen stehen die erwähnten gesellschaftlichen Veränderungen: Öffentliche Hinrichtungen als Demonstrationen herrschaftlicher Gewalt geraten im Verlauf des 18. Jahrhunderts als Verstoß gegen die Menschlichkeit und als Beleidigung des Mitgefühls in Verruf. Erziehungsratgeber ändern sich. Eine neue Pädagogik richtet sich im 18. Jahrhundert darauf aus, den Menschen zum moralischen Empfinden zu erziehen. Pädagogische Reformwerke überschwemmen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Markt.
Markant ändern sich nach etwa 1740 die Darstellungen des Privaten. Selbst Adlige lassen sich mit Kindern im Arm und dem Ausdruck der Zärtlichkeit und des Vertrauens porträtieren. Von natürlichen Gefühlen geprägte Bindungen sollten herrschen, wo früher ein schickliches Benehmen demonstriert wurde.
Eigene Gesellschaften werden im 17. und 18. Jahrhundert innerhalb der westlichen Gesellschaften gegründet, mit dem Ziel, erzieherisch auf die Moral und das Bewusstsein einzuwirken: Öffentlich agierende Gesellschaften wie die 1691 in London gegründete Society for the Reformation of Manners und sich der Öffentlichkeit entziehende wie der Illuminatenorden oder die Freimaurerlogen, die gegenüber den religiösen Glaubensangeboten neue, dem Deismus nahestehende philosophischere unterbreiten. Außerdem trafen sich die Aufklärer in Literarischen Salons, die zumeist von gebildeten Frauen geleitet wurden.
Die Sozialisierung wird neuen Idealen unterworfen, die Suche nach einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten, in der Seelenverwandtschaften ausgelebt werden, greift aus dem Bereich freikirchlicher religiöser, auf das religiöse Empfinden ausgerichteter Gruppierungen auf die breite bürgerliche Gesellschaft über. Sich mit Gleichgesinnten fest zu assoziieren, wird ein neues Ziel bürgerlicher Individualisierung in den damit zunehmend unüberschaubaren Gesellschaften, in denen Individuen ab dem 19. Jahrhundert deutlich von Orientierungslosigkeit bedroht sind: Der Einzelne muss im Zustand der Aufklärung in den 1770er Jahren und 1780er Jahren zunehmend suchen, um noch Menschen zu finden, mit denen er fühlen kann.
Im späten 17. Jahrhundert kam es mit königlicher Unterstützung zur Gründung wissenschaftlicher Gesellschaften: 1660 wurde die Royal Society in London gegründet, 1666 die Académie des sciences in Paris.
Nach Voltaires Bekunden zeichnete sich speziell Ludwig XIV. bei der Förderung der materiellen Unabhängigkeit frühaufklärerischer Literaten aus:
„Der König wartete nicht, bis man ihn lobte, sondern trug überzeugt, daß er solches Lob verdiente, seinen Ministern Lyonne und Colbert auf, ihm einige Franzosen und Ausländer zu nennen, die sich in der Literatur ausgezeichnet hatten und denen er deshalb seine Großzügigkeit zukommen lassen wollte.“[15]
Mit staatlicher Unterstützung formierten sich gelehrte Gesellschaften und Akademien als Einrichtungen, in denen Vertreter eines neuen Gelehrtentypus in wechselseitigem Austausch auf methodischer Grundlage nach Erkenntniserweiterung strebten. Vorreiter der Akademie-Gründungen in Deutschland war Gottfried Wilhelm Leibniz, dem 1700 mit kurfürstlicher Förderung die Schaffung einer wissenschaftlichen Akademie in Berlin gelang. Zu deren Zielen gehörte die Sammlung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse für praktische Zwecke, Impulse für Staat, Wirtschaft und Kultur sollten erarbeitet, die Sprach- und Geisteswissenschaften gefördert werden.[16]
Bezeichnend für das Selbstverständnis vieler frühaufklärerischer Gelehrter war eine kosmopolitische Ausrichtung, wonach die ganze Welt als Heimat und alle Menschen als Brüder angesehen wurden. Reisen und Reiseberichte erlaubten Vergleiche der politischen Verhältnisse und Lebensumstände und forderten eine Abkehr von der Ethnozentrik.[17] Der Schweizer Gelehrte Leonhard Euler zum Beispiel war erst an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg, dann an der Berliner Akademie, blieb beiden verbunden und wurde als technischer Beamter und Wissenschaftler lange Zeit von beiden Regierungen weiter bezahlt.[18]
Eine andere Form gelehrter Gesellschaften stellten die von Gottsched initiierten, hauptsächlich literarisch motivierten „Deutschen Gesellschaften“ dar. Ihnen gehörten vorwiegend Pfarrer, Lehrer und Professoren aus dem gebildeten städtischen Bürgertum an, auch Studenten und einige Adlige. In diesen Gesellschaften galten für den Diskussionsstil bestimmte Regeln, wonach zum Beispiel niemand dem anderen ins Wort fallen oder vom Thema abschweifen durfte.
„Jeder konnte nacheinander zu Wort kommen, sollte seine Kritik bescheiden und kurz vortragen und dabei jedes anzügliche Wort wie jede satirische Bemerkung vermeiden. Eine ‚gesittete‘ Diskussion bestimmte also die Runde.“[19]
Frühe Sammelpunkte für aufklärerisch Gesinnte waren neben Akademien und gelehrten Gesellschaften auch Organisationsformen, die sich abseits der das öffentliche Leben dominierenden Wirkungsbereiche von Fürstenhof und Kirche in Freimaurerlogen und Geheimgesellschaften organisierten. Ursprünglich in der Tradition der englischen mittelalterlichen Werkmaurerei und der von den Bauhütten beim Kathedralbau entwickelten Bräuche stehend, kamen als neuzeitliche Freimaurer nun Vertreter der gebildeten bürgerlichen Schichten und von Teilen des Adels in den Logen zusammen, um sich unter Einhaltung spezifischer Gemeinschaftsriten zu Staatsbürgern heranzubilden, die ihr Denken und Handeln in selbstbestimmter Weise an den Geboten einer aufgeklärten Vernunft ausrichteten. Von England ausgehend verbreitete sich die Freimaurer-Bewegung seit Anfang des 18. Jahrhunderts über ganz Europa.[20]
Im von der Öffentlichkeit abgeschirmten Raum der Logen galt die Gleichheit der Mitglieder, die einander Bruder oder Freunde nannten und in diesem Rahmen Standesunterschiede und konfessionelle Trennungen aufhoben. Das galt für Katholiken, Lutheraner und Calvinisten wie für Juden. „Die Sozietäten waren so frei von konfessionellem Geist, dass sie sich gleicherweise in katholischen wie protestantischen Territorien ausbreiten konnten.“[21]
Geheimbünde in diversen Ausprägungen hatten nach dem Zeugnis des Freiherrn Knigge Ende des 18. Jahrhunderts großen Zulauf. Knigge selbst gehörte dem von Adam Weishaupt 1776 gegründeten Illuminatenorden an, der zu Beginn der 1780er Jahre sich über Bayern hinaus in Nord- und Westdeutschland ausbreitete. Zu den Illuminaten stießen vielfach unzufriedene Freimaurer, auch Prominente wie z. B. Goethe, Herder und Herzog Karl August. Bereits 1784/1785 ereilten die Illuminaten aber Verbotsedikte des bayerischen Kurfürsten Karl Theodor, der beschlagnahmte Papiere Weishaupts publik machte und die darin propagierte radikale Aufklärung als staatsgefährdend betrachtete. So wurde der Illuminatenorden von der konservativen Reaktion später auch zum Entstehungsherd und Auslöser der Französischen Revolution gemacht.[22]
Aufklärerisches Staatsdenken und eine aktive, teils dirigistische Wirtschaftspolitik von Staats wegen entwickelten sich parallel; in England gingen die Anfänge der Industriellen Revolution Hand in Hand mit den theoretischen und praktischen Neuerungen der politischen Verfassung. Kaufleute, Bankiers und Unternehmer blieben einerseits zwar eingebunden in die für sie jeweils maßgeblichen Wirtschaftsstrukturen ihres Landes. Mit ihrer Offenheit für Impulse von außen, ihrer auf nützliche Neuerungen und Gewinnmöglichkeiten gerichteten Wissbegierde und ihrem der Lebenswirklichkeit verbundenen Pragmatismus waren sie einstweilen „unauffällige Vertreter einer Welt im Umbruch.“[23]
Zwar stellten Beamte, Universitätsprofessoren und die durch die Aufklärung häufig zu „Volkslehrern“ sich entwickelnden Pfarrleute und Prediger die Wortführer des aufgeklärten städtischen Bürgertums. Daneben und mit ihnen zunehmend durch Eheschließung verbunden, bezogen aber auch Kaufleute und Handwerksvertreter als traditionelle städtische Eliten aus der Aufklärung neue Reputation, da ihnen die Nützlichkeit für das Gemeinwesen nicht abzusprechen war, nun aber auch das ihnen zugeordnete Motiv des schnöden geldlichen Gewinnstrebens – im Zeichen einer weniger religiös geprägten Betrachtung ökonomischer Sachverhalte – sie nicht mehr aus der „guten Gesellschaft“ ausgrenzte. Das Bürgertum bildete fortan eine erweiterte Wertegemeinschaft, die Meinungsführerschaft in einer zunehmend gebildeten und reformorientierten Öffentlichkeit beanspruchte.[24]
Ständige Orte des geselligen Beisammenseins von Gelehrten und Gebildeten, des Gedankenaustauschs und engagierter Dispute im Zeichen aufklärerischen Denkens waren die zumeist von Frauen unterhaltenen Salons mit berühmten Beispielen in Paris und Berlin. Während Freimaurer und Lesegesellschaften Frauen ausdrücklich ausschlossen,[26] konnten sie im Rahmen der von ihnen geführten Salons an den gelehrten Erörterungen ihrer Gäste sowohl teilhaben als auch eigene Impulse setzen, beginnend bei der durch Einladung bestimmten Zusammensetzung ihrer Gäste-Runden. Ein Beteiligter erinnerte sich wie folgt an den von Mademoiselle Lespinasse zusammengestellten Kreis:
„Sie hatte sie hier und da in der Gesellschaft aufgelesen, dabei aber so gut ausgewählt, daß sie sich, wenn sie zugegen waren, wie die Saiten eines von geschickter Hand gestimmten Instruments im Gleichklang befanden. Den Vergleich weiterführend möchte ich sagen, daß sie dieses Instrument mit einer ans Geniale grenzenden Kunstfertigkeit spielte. Sie schien zu wissen, welchen Ton die Saite, die sie als nächstes anschlagen würde, von sich geben wird; ich meine, unsere Denkweisen und Charaktere waren ihr so wohlbekannt, daß sie nur ein Wort zu sagen brauchte, um sie ins Spiel zu bringen. Nirgends war das Gespräch lebhafter, glanzvoller und vortrefflicher geordnet als bei ihr.“[27]
Die verschiedenen Salons ergänzten sich zum Teil in Konkurrenz zueinander. Bei der Neugründung eines Pariser Salons durch Madame Necker kam nur mehr der Freitag für eine wöchentliche Zusammenkunft der gewünschten Gäste in Frage. An anderen Tagen der Woche waren sie bereits an andere Salons gebunden.[28] Edward Gibbon, der 1763 mit Empfehlungsschreiben aus London die Pariser Salons besuchte, war an vier Wochentagen regelmäßig Gast bei solchen Gesprächsrunden, die er teils als anregend, aber teils auch als befremdlich erlebte, wenn z. B. von der „Tyrannei der Madame Geoffrin“ oder vom „unduldsamen Eifer der Philosophen und Enzyklopädisten“ die Rede ist.[29]
Als in Deutschland verbreitetste Aufklärungsgesellschaften anzusehen sind die am Ende des 18. Jahrhunderts auf eine Gesamtzahl von 430 geschätzten Lesegesellschaften. Da Bücher relativ teuer und öffentliche Bibliotheken noch rar waren, schlossen Interessierte sich zu Sammelabonnements zusammen und bildeten Lesezirkel, in denen Bücher und Zeitschriften reihum gelesen wurden. In Lesekabinetten gab es nicht nur der Bibliothekslektüre vorbehaltene Räume, sondern auch separate Räumlichkeiten, die dem Gedankenaustausch und der Diskussion über das Gelesene dienten.[30]
Nach englischem Vorbild wurden literarische Kleinformen wie Essay und Traktat zu Hauptverbreitungsformen des aufklärerischen Denkens und neuer philosophischer Anschauungen. Ihr vorwiegender Erscheinungsort waren zu abonnierende Periodika, die zu einer „Leserevolution“ in Deutschland seit Mitte des 18. Jahrhunderts wesentlich beitrugen.[31]
Nicht in allen Ländern bildete sich eine Salonkultur. In Schweden führte die Abschaffung der Zensur und die weitgehende Meinungsfreiheit seit 1766 zu einer weiten Verbreitung von Druckerzeugnissen, die sich an der politischen Diskussion beteiligten.
Hervorragende Beispiele für in der Frühaufklärung aktive Frauen in Deutschland sind Friederike Caroline Neuber, die Begründerin des modernen Theaters, Christiana Mariana von Ziegler als Autorin im Umfeld der Gottscheds in Leipzig und Luise Adelgunde Gottsched als Ehefrau und aktive Mitarbeiterin des Verlegers, deren Wirken die Moral und Philosophie der Aufklärung weithin bekannt machte. In späteren Jahren waren Frauen immer stärker von der vollen Teilnahme am Aufklärungsdiskurs ausgeschlossen.[32]
Der Parallelaufschwung von Publikationsaktivitäten und Lesernachfrage brachte eine neue Öffentlichkeitsstruktur hervor. Die aufklärerische Schriftkultur sollte die Menschen zur Kritikfähigkeit und zu sozialer Verantwortung anhalten. Rede- und Pressefreiheit erschienen zunehmend als grundlegendes Menschenrecht. Publizität betrachtete man nun als unerlässlich für die Förderung vernunftgeleiteten Denkens. Als rechtmäßig war nur mehr das anzusehen, was sich auch öffentlich als vertretbar erwies. Mit den Worten Kants:
„Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit Publizität verträgt, sind unrecht.“[33]
Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wandten sich Teile des Bildungsbürgertums über die eigenen Kreise hinaus der Volksaufklärung zu. Ging es anfänglich vorwiegend um die Weitergabe naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu praktischen Zwecken an die Landbevölkerung, so zielte man in der Folge auch auf moralische, weltanschaulich-religiöse und politische Aufklärung. Neben den Bauern wurden auch Dienstboten, Hebammen, Wundärzte, Seeleute und Soldaten in die Volksaufklärung einbezogen.[34]
Zu den Trägern der Volksaufklärung gehörten patriotisch-gemeinnützige Gesellschaften, für die ein nach außen drängender Reformwille bezeichnend war. Wie die Freimaurer-Bewegung verbreitete sich dieser Gesellschaftstyp von England aus auch im deutschsprachigen Raum. Im Mittelpunkt stand in diesen Vereinigungen nicht gelehrtes Wissen, sondern die Verbreitung gemeinnützig-praktischen Wissens. Den größten Mitgliederanteil stellten die staatlichen Verwaltungsbeamten. Auch hier traten Standesunterschiede in den Hintergrund: Ausschlaggebend bei der Entscheidungsfindung war nicht die gesellschaftliche Stellung der Beteiligten, sondern das bessere Argument.[35]
Während die gemeinnützig-patriotischen Gesellschaften in Deutschland sich hauptsächlich der Sache eines reformorientierten, aufgeklärten Absolutismus verschrieben, schlugen die von den einschneidenden Vorgängen der Französischen Revolution erfassten Volksgesellschaften, etwa die Mainzer „Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit“ einen radikalpolitischen Aufklärungskurs ein. Ziel war hier die Vorbereitung einer bürgerlichen Demokratie im Zeichen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Die Mitglieder leisteten einen öffentlichen Eid, „frei zu leben oder zu sterben“. Dieser wie auch anderen ähnlichen Gesellschaften war jedoch nur ein kurzes Dasein beschieden: Nach der Gründung im Oktober 1792 kam im März 1793 bereits das Ende. Die Terrorphase der Französischen Republik wurde danach für Jahrzehnte als Menetekel gegen den Demokratiebegriff verwendet.[36]
Tendenzen zur Destruktion der eigenen Ideale trägt die Aufklärung bereits in sich, wie es neben den selbstkritischen Satiren auch die vernunftfeindliche Empfindsamkeit zeigt. Dass die Vernunft der französischen Klassik vielmehr in zahlreichen Normierungen und Regulierungen bestanden habe, wurde Michel Foucault (1926–1984) nicht müde zu erklären.[37] Dieser Verhaltensdruck brauchte seine Ventile: Ab dem späten 17. Jahrhundert breitete sich ein Menschenbild aus, das die Bedeutung vernunftgesteuerten Handelns einschränkte: Shaftesburys einen Moral Sense, einen „Sinn für das Moralische“ entfaltendes Individuum basierte bereits auf der Annahme, dass dieses letztlich von Gefühlen, nicht von Strategien und rationalen Erwägungen und damit von Vernunft bestimmt sei. Die Menschenbilder, die von Autoren wie Jean-Jacques Rousseau in den 1760er Jahren diskutiert wurden, sind von Idealvorstellungen eines natürlichen Verhaltens bestimmt, das sich gegen die Hofsitten richtet.
In den 1760er Jahren und 1770er Jahren gewann die Empfindsamkeitsdebatte radikale Ausläufer, die das Projekt der Aufklärung grundsätzlich in Frage stellten: Statt höfischer Öffentlichkeit wurde etwa der Rückzug ins Private auf die Spitze getrieben. Zum einen kamen radikal tugendsame Helden auf, die vereinsamen, statt dank ihrer Tugend Gemeinschaft zu stiften. Zum anderen kamen Helden in Mode, die gegen jedes zarte Gefühl rebellieren und ihre herrische Individualität zum neuen Maßstab machen. Mit den Begriffen Sturm und Drang im Deutschen und Romantik in der internationalen Diskussion wird ein Umbruch markiert, der keinen klaren Anfangspunkt hat und mit dem Wandel von der Nachahmungs- zur Ausdrucksästhetik zusammenhängt. Nicht mehr Gegenstände sollten nachgeahmt werden, sondern die Fülle der Empfindungen, die bei ihrem Anblick entstehen, wie es etwa Johann Jakob Engel formulierte (Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten, 1783). Doch schon in Romanen wie Les Aventures de***, ou les Effets surprenans de la sympathie (1712–1714) lassen sich Anfänge jener Ausdrucksästhetik entdecken, die sich am Ende des Jahrhunderts als Gegenströmung zur Aufklärung artikulierte.
Die Reformation löste in den von ihr betroffenen Gebieten Mittel-, West- und Nordeuropas neue theologische und politische Debatten aus, an denen sich große Bevölkerungsteile beteiligten (→ Aufklärungstheologie). Die aus der Reformation hervorgegangenen Konfessionen grenzten sich gegeneinander ab, distanzierten sich aber auch gemeinsam von der Wissenschaftstradition der Scholastik. In Syllogismen über die Folgen von Definitionen nachzudenken und gestützt auf Autoritäten, besonders Aristoteles, zu argumentieren wurde zum Zeichen einer mittelalterlichen Wissenschaftlichkeit. Traditionsbrüche legitimierten sich anfangs fast durchweg als Versuche, zum Urchristentum zurückzukehren oder die gegenwärtige Religionsausübung danach zu reformieren. Das Individuum wurde in diesen Debatten persönlich angesprochen und zur Stellungnahme aufgefordert. Da die Obrigkeiten die konfessionelle Bindung der Bevölkerung nicht allein bestimmen konnten und Gebietsgrenzen sich später veränderten, entstanden konfessionelle Minderheiten. Die Frage ihrer Loyalität gegenüber dem Staat und der Religion, die er privilegierte, wurde juristisch und staatstheoretisch interessant.
In lutherischen Gebieten übernahm der jeweilige Landesherr die Leitung der Landeskirchen. Die reformierte Kirche betonte die grundsätzliche Gleichheit aller Gläubigen und baute neue kirchliche Strukturen auf, teils im Einvernehmen mit der Obrigkeit (so etwa in Genf oder Schottland), teils in Opposition zur katholischen oder lutherischen Herrschaft.
Im zunehmend absolutistisch regierten Frankreich eskalierte der Konflikt zwischen dem katholischen Königshaus und der calvinistischen Minderheit, den Hugenotten, in den Religionskriegen des 16. Jahrhunderts. Nach der Aufkündigung des Ediktes von Nantes 1685 kam es zu einer Massenauswanderung der Hugenotten.
Die Niederlande hatten sich calvinistisch orientiert und republikanisch verfasst. Sie gerieten mit der Dordrechter Synode von 1618/19 in eine Zerreißprobe über die Frage weiterer Teilungen unter den reformierten Protestanten. Danach kam es zu einer fortschreitenden stillschweigenden Liberalisierung. Ab den 1640er Jahren wurden die Niederlande zum ersten Zufluchtsort für französische Hugenotten und verschiedenste Sekten und entwickelten einen gewissen Pluralismus.
In England trennte der König die Church of England zunächst aus politisch-dynastischen Motiven von Rom. Die theologische Reformation unter calvinistischen Vorzeichen folgte. Daher behielt diese Kirche trotz evangelischer Lehre einige katholische Formen und Riten bei. Der König hatte als ihr Oberhaupt einen besonders starken Einfluss auf deren Ausrichtung. Freikirchliche und reformierte Kreise gerieten deshalb in Konflikt mit Landeskirche und Staat zugleich und wurden verfolgt. Daraufhin wanderten viele Angehörige dieser religiösen Minderheiten nach Nordamerika aus. 1641/42 begann der englische Bürgerkrieg, der 1649 mit der ersten Hinrichtung eines Königs – Karl I. – endete. Mit dem Commonwealth of England folgte eine Militärdiktatur, an deren Ende (1660) das Parlament die Monarchie wiederherstellte (→ Karl II.).
Im Kontext dieser politischen Ereignisse fand die zentrale philosophisch-politische Debatte um das zukünftige Verhältnis zwischen Parlament, von ihm ausgehender Regierung, König, Kirche und Bürger statt. Die staatspolitischen Vorschläge von Thomas Hobbes 1651 und John Locke 1688/1689 wurden Meilensteine der Aufklärungsdiskussion. Die Problemlösungen wurden zuletzt nicht mehr in der Theologie, sondern der Philosophie und der von ihr inspirierten Rechtsdiskussion entschieden. Die Theologie verlor auch in den Niederlanden an Macht, wo man sich auf die Liberalisierung einließ, und in Frankreich, wo die Krone als bestimmende Instanz gewann.
Im christlich-orthodoxen Kulturraum Osteuropas dagegen wurde die Aufklärung zunächst vorwiegend vom Adel rezipiert.
Die Kontroversen um die Auslegungen der Bibel bereicherten die philosophischen Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts – vor allem in den Niederlanden, wo der Pluralismus konkurrierender Auslegungen auf engstem Raum gedieh. Die neuen theologischen Positionen warfen samt und sonders erkenntnistheoretische Fragen auf: Wie beweist man religiöse Positionen? Worauf kann sich das Individuum bei seiner persönlichen Antwort auf eine theologische Frage berufen? Detailfragen boten den Naturwissenschaften interessante Prämissen. Calvinisten und Lutheraner entzweiten sich mit Blick auf die Determination und die Frage des Freien Willens: Hatte Gott zu Beginn der Schöpfung als allmächtiger Gott den gesamten Lauf des Universums festgelegt, dann bestand theoretisch für das Individuum kein Raum, etwas zu denken oder zu entscheiden, was Gott nicht schon eben so festgelegt hatte. In der modernen naturwissenschaftlichen Forschung ist Determination eine interessante Prämisse: Gott könnte tatsächlich der Welt Naturgesetze gegeben haben, nach denen alle weiteren Geschehnisse zwangsläufig aufeinanderfolgen. Die Forschung kann sich dem Projekt widmen, diese Gesetze zu erfassen. Mit dem Zweifel der Antitrinitarier an der Dreifaltigkeit Gottes ging es – wieder philosophisch betrachtet – um mehr: um die Frage nach einem universellen Gottesbild, auf das sich eventuell alle Religionen einigen könnten, um die Möglichkeit eines Deismus, einer Vorstellung eines Gottes, die diesem keine menschlichen Züge mehr gibt, ihn eher philosophisch definiert.
Mit der Vielzahl der Strömungen und den Kontroversen der Reformation endete im 17. Jahrhundert zunehmend die Hoffnung, eine einzelne Konfession als die wahre Religion erweisen zu können. Skeptizismus rechtfertigte sich heimlich in Untergrundschriften mit Blick auf die Vielzahl der Positionen. Baruch de Spinoza vertrat in seinem theologisch-politischen Traktat von 1670 die These, Judentum und Christentum seien lediglich vergängliche Phänomene ohne absolute Gültigkeit. John Toland prägte den Begriff Pantheismus. Er behauptete 1696, die Bibel sei zum Teil eine menschliche Fälschung. In radikalen Schriften des Untergrunds diffamierten Autoren direkt oder indirekt Moses, Jesus und Mohammed als die drei „großen Betrüger der Menschheitsgeschichte“. Von der Zirkulation eines Buches De tribus impostoribus wurde berichtet, bis es schließlich 1716 als subversive Schrift auf den Markt kam. Gegenpositionen vertraten die als Bischöfe kirchlich gebundenen Philosophen Joseph Butler und George Berkeley.
Die zentralen Positionen, die im Laufe des 17. Jahrhunderts von „aufgeklärten“ Philosophen gegen Alleingültigkeitsansprüche einzelner Religionen in Anschlag gebracht werden, befinden sich in der theologischen Kontroverse: In der Reformation begegneten sich die Konfessionen wechselseitig mit Betrugsvorwürfen. Mit Blick auf außereuropäische Religionen teilten die Konfessionen die Anschauung, dass hier Religionen und Kulte auf dem Betrug von Priesterkasten basierten. Autoren wie Pierre Daniel Huet, katholischer Bischof von Avranches, stehen für die Aufklärung in der religiösen Debatte mit Versuchen, die Kulte der Antike zu enträtseln und dem aufgeklärten Leser verständlicher zu machen, wie sie funktionierten. Dass man in diesen Kulten hermetische Lehren vertrat, sollte sicherstellen, dass Priester ihr Wissen (oder ihren Betrug) nur in Initiationsriten weitergaben. Auf Priesterbetrug seien viele der Kulte gegründet gewesen, die nach der Sintflut eingerichtet wurden, um die Bevölkerung unwissend und in Ehrfurcht zu halten – so der aufklärerische, den Betrug entlarvende Gedanke.
Im späten 17. Jahrhundert wendet sich die um aufgeklärte Diskussionen ringende neue theologische Debatte unter der Hand gegen das Christentum als schlicht auf dem Glauben basierender Religion. Die Diskussion, dass das Christentum selbst Traditionen verhaftet ist und auf antiken Kulten fußt, bereitet sich in einer neuen kirchengeschichtlichen Forschung vor. Die neue Auseinandersetzung mit Religion führt im 18. Jahrhundert zu zunehmend freien Konkurrenzprojekten: Zum philosophischen Deismus als Vernunftoption, zur Gründung von Geheimgesellschaften, die neue Zeremonien ausgestalten und sich dabei Vergangenheiten in antiken Kulten geben. Der Markt ketzerischer Positionen erzeugte einen fruchtbaren Grund, auf dem die Grenzen tolerierten Nachdenkens kreativ und subversiv ausgeweitet wurden. Europa öffnete sich im selben Moment der Geschichte als fremdem Raum genauso wie der außereuropäischen kulturellen Vielfalt. Antike Kulte wurden nicht nur in ihren geheimen Grundlagen entlarvt, sie wurden im selben Moment rekonstruiert. Die Geschichte der Häresien wurde am Ende von Gottfried Arnolds ab 1699 in einer revolutionären Unparteyischen Kirchen- und Ketzer-Historie neu beleuchtet. Seltene Sekten und exotische Religionen gewannen ein Liebhaberinteresse, das von der zunehmenden Relativierung aller Standpunkte lebte. Reisende, die die Niederlande besuchten, sahen bei den interessantesten Sekten vorbei, in der Hoffnung, curieuse Besonderheiten in Riten geboten zu erhalten. Reisende, die in den 1770er Jahren den Pazifik und Nordamerika kennenlernten, begannen hier nach interessanten Glaubensvorstellungen zu suchen.
Bereits im 12. Jahrhundert gab es im Islam die Tendenz, den Einfluss der Theologie zu begrenzen und – unter Bezugnahme auf den Koran selbst – das Studium der Philosophie zur Pflicht der Gebildeten zu erklären. Dafür steht vor allem das durch die Aristoteles-Rezeption geprägte Werk des Averroes, das oft als Eckpfeiler einer frühen arabischen oder islamischen Aufklärung gilt.[38]
Das Verhältnis des Christentums zu den Weltreligionen entspannte sich im 18. Jahrhundert zunehmend. Meilensteine waren hier die Bemühungen der Jesuiten, ab den 1660er Jahren China zu missionieren. Sie erhielten dazu am chinesischen Hof die Möglichkeit, falls sie den Riten des Konfuzianismus tolerant begegnen. Im Ritenstreit halten ihnen konkurrierende Orden Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts vor, in China Vielgötterei zu betreiben. In ihren eigenen Publikationen hatten die Jesuiten dafür plädiert, den Konfuzianismus nicht als Religion, sondern als aufgeklärte Staatsphilosophie zu lesen. Gottfried Wilhelm Leibniz übersetzte jesuitische Schriften dieser Tendenz. Christian Wolff riskierte 1723 seine Position, nachdem er in einer Vorlesung über Chinesen die Auffassung vertreten hatte, auch Heiden könnten tugendhaft sein. Die Frage der Toleranz und des Verhältnisses zwischen Philosophie und Religion gewann mit der kulturellen Konfrontation neue Extrempositionen.
Der Islam wurde seit dem Mittelalter als Feind der Christenheit gehandelt. Nach der Zurückschlagung der Türken vor Wien 1683 setzte um 1700 eine öffentliche Mode islamischer Kultur ein. Die Übersetzung der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht (1704 ff.) erzeugte in Westeuropa die Sensation, Moslems könnten am Ende den Christen kulturell unterlegen, jedoch möglicherweise in ihrer Moral viel reiner und unschuldiger sein. Montesquieus Lettres Persanes (1721) spielten dieses Moment der Islam-Würdigung in einer Kritik an der Zivilisation des Westens und des Christentums aus: Ein persischer Beobachter betrachtet hier Europa aus der überlegenen Perspektive seiner Kultur und Religion. Eine Entwicklungslinie verläuft von Pierre Daniel Huets Erklärungen antiker und fremder Religionen bis zu Fiktionen der 1770er Jahre, die wie Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise (1779) den Gedanken interreligiöser Achtung auf die Bühnen brachten und öffentlich diskutierten. Es gab eine negative Kritik an der islamischen Kultur, die mit dem Satz „Der Islam kennt keine Aufklärung“ begründet wurde. Eine gegenteilige Hypothese geht davon aus, dass eine spezifische Aufklärungstradition in der islamischen Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts verborgen ist und diese durch die Rezeption der „europäischen“ Aufklärung durch muslimische Intellektuelle des 19. Jahrhunderts gleichzeitig bestätigt und verschüttet worden ist. Allerdings ist es schwierig für die Wissenschaftler, diese Hypothese zu bestätigen, da die Analyse eines asiatischen Kontextes (z. B. Islam) durch einen europäischen Terminus (z. B. Aufklärung) problematisch ist.
Im Hinduismus gab es eine ähnliche Diskussion wie im Islam. In dem Aufsatz, der von Paul Hacker zuerst 1957 veröffentlicht wurde, behandelte er das Thema „Inklusivismus“ in seinem Verhältnis zur Toleranz im Hinduismus, die ihren Ursprung in dem europäischen Deismus des 18. Jahrhunderts wegen dessen aufklärerischer Tendenz hatte. Der Begriff „Toleranz“ ist nach Wilhelm Halbfass als eine neuzeitliche europäische Idee oder Ideologie zu verstehen. Dies muss man berücksichtigen, wenn man den Begriff auf außereuropäische Traditionen bzw. auf Perioden vor der Neuzeit anwendet. D. h., die Diskussion, ob es Aufklärung im Hinduismus gab oder nicht, kann nicht genau überprüft werden, weil die Kriterien für die Diskussion unklar sind.
Das europäische Judentum schaltete sich in den 1770er Jahren in die neue Diskussion ein. Der hebräische Begriff Haskala bezeichnete von da an die neuen jüdischen Emanzipationsbestrebungen in West- und Mitteleuropa sowie in Osteuropa. Der Kreis um Moses Mendelssohn, Marcus Herz und David Friedländer bemühte sich um eine Trennung von Religion und Staat und zugleich um eine Integration der jüdischen Bürger in die deutsche Gesellschaft. Dieses Denken gab einen wesentlichen Impuls für die Judenemanzipation in Preußen. Dies war ein Grund, der die Haskala in West- und Mitteleuropa als erfolgreich gelten ließ, in Osteuropa scheiterte sie jedoch am Widerstand orthodox-jüdischer Kreise.
Für die Philosophen, die sich im 18. Jahrhundert als Aufklärer in die Diskussion um religiöse Vielfalt und Toleranz mischten, wurde der Gedanke bestimmend, dass es in allen Religionen und Konfessionen einen rationalen Kern des Glaubens gebe.[39] In Form des sich ausbreitenden Deismus als Vernunftreligion wurde diese Option im 18. Jahrhundert mit zunehmender Offenheit diskutiert. In Verbindung damit ergab sich die Zusatzoption einer Gotteserkenntnis aus den modernen Wissenschaften heraus. Diese, so hieß es nun, setzen Gott als Schöpfer voraus und bestätigen seine Weisheit in den Naturgesetzen. Von der Welt als „Uhrwerk“ wurde hier in einer beliebten Metapher gesprochen, die Gott aus dem aktuellen Weltgeschehen herausdrängt und damit Berichte von Wundern diskreditiert: Die deistische naturwissenschaftliche Option ist, dass Gott die Welt mit allen Naturgesetzen geschaffen habe und nun ihrer gesetzlichen Bewegung überlasse. Neben das Bild von Gott als handelndem Gegenüber traten abstraktere Bilder von Gott als Prinzip und von Gott als nicht mehr in die Welt eingreifender, sie den Menschen überlassender Instanz.
Die gesamte Diskussion ist im Rückblick eng gebunden an eine Diskussion der Scholastik – und erwies sich gerade deshalb als Diskussion, der das Christentum kaum kritisch begegnen konnte. Definierte man Gott über die Idee seiner Vollkommenheit, so konnte man aus dieser Idee beweisen, dass es ihn geben musste: Nur ein existierender Gott sei vollkommen. Die Idee, dass die von Gott geschaffene Welt perfekt sein müsse, entfaltete sich als neues attraktives Argument in dieser Debatte im späten 17. Jahrhundert: Sie findet sich bei Anthony Ashley Cooper, dem dritten Earl of Shaftesbury, verknüpft mit dem Gedanken, dass alle Lebewesen in der Natur in perfekt organisierten Gleichgewichten zusammenleben.[40] Gottfried Wilhelm Leibniz verband das Postulat in seinen Essais de théodicée mit Folgepostulaten wie demjenigen, dass es unendlich viele bewohnte Welten geben müsse: Die Welt, auf der wir leben, sei offenkundig nicht vollkommen, im Universum müsse es darum weitere bewohnte Welten geben, die gemeinsam das perfekte Universum Gottes bildeten. Shaftesbury verteidigte demgegenüber die bestehende Welt als perfekt und postulierte, dass dem Menschen letztlich lediglich das Wissen und die Perspektive fehlen würden, diese Perfektion zu erkennen. Man erfasse sie in der Regel allenfalls mit einer Ahnung, die einem ein Gefühl für die Harmonie der Schöpfung gebe. Mit der Theodizee-Debatte verband sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die spezifisch aufklärerische Fortschrittsdebatte um die Idee, die Welt erreiche erst im komplizierten Prozess der Aufklärung die Vollkommenheit, die Gott ermöglichte. Konkret wurde die Diskussion mit dem Erdbeben von Lissabon 1755, als Voltaire ein pessimistisches Gedicht über die Katastrophe von Lissabon verfasste und Rousseau ihn in einem Brief darauf hinwies, dass die Schäden nicht der Natur, sondern der Lebensweise des Menschen und seiner Art, eine Stadt zu bauen, anzulasten seien. Weder die Welt noch der Mensch seien von Natur aus böse.[41] In Deutschland wurden die unveröffentlichten Papieren mit der deistischen Religionskritik des Hermann Samuel Reimarus posthum von Gotthold Ephraim Lessing veröffentlicht, was einen Skandal hervorrief.
Der Deismus geriet in der Zeit der Romantik in den Ruf, eine kalte rationale Konstruktion zu sein, die dem Menschen keine religiöse Heimat geben könne. Er führte auf der anderen Seite im 19. Jahrhundert zu Versuchen, Religion gänzlich zu ersetzen, wie sie vor allem im Materialismus und im Positivismus im 19. Jahrhundert hervortreten.
Die Kontroversen um Staat, Religion und individuelle Freiheit der Religionsausübung, die sich mit der Neuordnung Europas im Anschluss an die Reformation, den Dreißigjährigen Krieg und die englischen Revolutionen von 1641/42 und 1688/89 ergaben, führten in eine gesamteuropäische Staats- und Rechtsdiskussion. Die Frage ist hier: woher nimmt der Staat das Recht zu Entscheidungen, von denen das Individuum in seiner Freiheit des Denkens und Glaubens betroffen ist? Wie ist der optimale Staat beschaffen – ein Staat, der seinen Bürgern in Kriegen Schutz bietet und der seine Bürger vor Krieg im Inneren bewahrt? Die diesbezüglichen Debatten wurden vor dem Hintergrund aktueller Konfrontationen geführt, aber auch vor dem Hintergrund eines Sittenwandels, den gerade die Aufklärer forderten. Vorstellungen davon, wie die Obrigkeit ihr Recht ausübt, Vorstellungen vom Sinn und Zweck von Bestrafungen und ihrer angemessenen Durchführung gerieten dabei in eine fundamentale Kritik.
Die zentrale von der Aufklärung diskutierte Rechtsposition brachte 1651 Thomas Hobbes mit der Veröffentlichung seines Leviathans auf den Punkt. In England hatte das Parlament soeben den König – Karl I. – hinrichten lassen. Die Nation versank in einen „Krieg aller gegen alle“, in dem es am Ende nur noch um das Überleben des Einzelnen ging. Der „Naturzustand“ war, so Hobbes, erreicht, der Zustand, in den der Mensch gerät, wenn er nicht den Gesetzen eines zivilisierten Zusammenlebens unterworfen wird.
Die Antwort auf den Naturzustand musste demnach die Unterwerfung des Menschen unter Macht ausübende Institutionen sein. Von diesen sei die „absolute“ Monarchie die wirksamste. Der Regent, der alle Macht in seiner Person gebündelt verteidigt, verteidigt gleichzeitig mit der Entschlossenheit, mit der er sein Leben verteidigt, den Staat und seine Macht in ihm. Er deklassiert im selben Moment alle anderen zum Besten aller. Sie können unter seiner Macht nicht mehr wie Tiere aufeinander losgehen.
Hobbes argumentierte nicht als Anhänger einer Konfession, sondern allein vernunftorientiert mit einer Philosophie des in der Konsequenz weitgehend atheistischen Materialismus. Der Mensch verteidige sein Leben als Materie. Die Existenzverteidigung sei moralisch weder gut noch schlecht, sondern die Folge des Bewusstseins, das das Individuum von der eigenen Existenz als seinem ersten und letzten Besitz hat. Der Staat dürfe daher den Menschen nicht ihr Leben abverlangen, da er zu ihrem Schutz da sei. Hobbes’ Position zog damit den Angriff von allen Seiten auf sich, regte in der Sache aber auch eine vielfältige Beschäftigung an. Man kann sein Buch als Meilenstein der Aufklärung ansehen: Es führt alle beobachtbaren Phänomene auf Gründe zurück, die jedem Leser plausibel sein sollen, der die grundlegenden Prämissen akzeptiert.
In der Kontroverse, in die Hobbes hineingeriet, wurde sein Menschenbild von einer neuen Richtung der Aufklärung angegriffen. John Locke leitete den für ihn zentralen Begriff der Gleichheit der Menschen im von ihm gedachten ursprünglich staatsfreien Naturzustand aus der biblischen Offenbarung ab und untersuchte die Konsequenzen, die sich daraus für Staat und Gesellschaft ergeben. Im Gegensatz zu Hobbes Annahme eines bedingungslosen Glücksstrebens der Einzelnen werden nach Locke die individuellen Rechte auf Freiheit und Eigentum durch die Freiheits- und Eigentumsrechte der anderen eingeschränkt. Niemand soll einem anderen an seinem Leben, seiner Gesundheit, seiner Freiheit oder seinem Besitz Schaden zufügen. Nur der werde glücklich, der sein Leben anderen widmen könne, deren Liebe erfahre, in Harmonie mit der Gesellschaft lebe, so Shaftesbury. Die von Hobbes entwickelte Idee des Gesellschaftsvertrags zwischen den Bürgern, die ihre Souveränität abtreten, und dem Staat, der unbeschränkte Gewalt ausüben kann, wird von Locke zur Idee eines Vertrags zwischen den freien bürgerlichen Eigentümern weiterentwickelt, die einen Teil ihrer Gewalt auf den Staat übertragen, um den Krieg aller gegen alle zu vermeiden. Die Gemeinschaft wird so zum Schiedsrichter nach festgesetzten Regeln. Diese Tätigkeit wird ausgeübt durch Männer, die von der Gemeinschaft mit Autorität zur Vollziehung dieser Regeln ausgestattet wurden. Der Staat kann daher die Bürger auch mit dem Tod bestrafen, aber die Bürger sind berechtigt, Widerstand zu leisten, wenn der Staat ihre Rechte nicht sichern kann.
John Locke leitete das Widerstandsrecht aus den politischen Ereignissen von 1688/89 ab: Die Glorious Revolution habe den historischen Beweis geliefert, dass ein Machtwechsel möglich sei, ohne einen Bürgerkrieg auszulösen. Moderne Nationen benötigten deshalb staatliche Strukturen, die einen solchen friedlichen Machtwechsel ermöglichten und den Bürgern Partizipationsmöglichkeiten böten. Diese Ideen zum Gesellschaftsvertrag wurden u. a. von Jean-Jacques Rousseau zum Konzept der Volkssouveränität fortentwickelt: Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes (1762).
Während Hobbes' Theorie primär auf der körperlichen Schutzbedürftigkeit der Menschen beruhte, welche durch den Staat gewährleistet werden müsse, vollzog sich bis hin zu Locke eine Entwicklung, die die Vielfalt der durch den Markt zu koordinierenden Interessen der Menschen betont, die aufgrund von Knappheit oder Ungleichheit in Konkurrenz treten können. Während der eigene Körper von Hobbes als unverletzliches Eigentum definiert wird, setzt Locke das Eigentum ganz allgemein als unverletzlich an. Darin deutet sich der rasche Wandel vom Absolutismus zu einer vom Besitzindividualismus geprägten liberalen Marktgesellschaft an.[43]
Die Debatte der 1690er Jahre floss in die weitgehend von Thomas Jefferson mit Rückgriff auf Locke, Montesquieu und Paine 1776 formulierte Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten ein, die erstmals ausdrücklich Menschenrechte mit einbezog, und 1787 auch in die Verfassung der Vereinigten Staaten. Die Französische Revolution nahm die Lösungsangebote 1789 auf. Eine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte ging hier 1791 in die Präambel der neuen Verfassung ein. Die Säkularisation, die im 19. Jahrhundert in Mittel- und Nordeuropa um sich griff, berief sich letztlich auf Debatten des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts.
Die Errungenschaft der von Hobbes in Gang gesetzten Debatte ist in langer Perspektive erstens die Neudefinition des Menschen als eines von Natur aus mit Rechten ausgestatteten Wesens. Zweitens wurde hier die Rechtsdebatte darauf verpflichtet, sich auf logische und vernünftige Erwägungen zurückzubeziehen. Ein Meilenstein der juristischen Debatte wurden in diesem Zusammenhang Samuel von Pufendorfs in der Nachfolge des frühen Naturrechtlers Hugo Grotius verfasste Schrift De iure naturae et gentium libri octo von 1672. Auf Deutsch erschien sie unter dem Titel Acht Bücher von Natur und Völkerrecht 1711. Der moderne Verfassungsstaat hat hier Wurzeln wie die Idee einer internationalen zwischenstaatlichen Verständigung. Modelle einer Europäischen Union werden in Europa 1712 erstmals öffentlich diskutiert.[44] Modelle eines „Weltbürgerrecht“ sind seit Kants Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 Teil der Aufklärungsdiskussion.
Mit der zunehmenden Abschwächung und teilweisen Ablösung des politischen Denkens in und von den herkömmlichen religiösen Mustern, oft verbunden mit einer Rückbesinnung auf überlieferte Modellvorstellungen aus der griechisch-römischen Antike, entstand eine Reihe nachhaltig einflussreicher Staatstheorien, die über die Aufklärung hinaus bis in die Gegenwart hinein maßgeblich die politische Theorie und Praxis beeinflussten. Die nachfolgende Darstellung ist deshalb weder allein auf einzelne Aufklärer gerichtet, noch besteht sie aus bloßen historisch-chronologischen Sequenzen, sondern gliedert den Stoff nicht zuletzt systematisch.
Dem Zeitalter der Aufklärung vorgelagert ist die Entstehung jener beiden in Spannung zueinander stehenden politischen Begriffe und Prinzipien, die ungeachtet aller seither eingetretenen gesellschaftsgeschichtlichen Umwälzungen und inmitten einer fortgeschrittenen Globalisierung fortwirken: als überdauernde Konstante einerseits die Staatsraison und in erneuerter Aktualität das Völkerrecht. Die Lehre von den Staatsinteressen, „d. h. der Autonomie politischer Entscheidungen gegenüber den Geboten der Moral, der Religion und des Rechts“,[45] geht auf Niccolò Machiavelli zurück und auf die von ihm reflektierten chaotischen Machtverhältnisse und Desorganisationserscheinungen in Italien am Übergang vom 15. zum 16. Jahrhundert. Zwecks Machterhaltung nach innen und zur Existenzsicherung des Staatswesens nach außen dürfe, ja müsse der Fürst (oder leitende Staatsmann) Moral und Recht bei Bedarf außer Acht lassen. Der Machiavelli nahestehende Historiker Francesco Guicciardini gebrauchte dafür den Begriff der ragion di stato (Staatsraison).[46]
Das Prinzip der Staatsraison konnte u. a. dazu dienen, den Souveränitätsanspruch des Fürsten zu begründen: sein ungeteiltes und beständiges Gewaltmonopol, seine Hoheit über Gesetze, Kriegserklärungen und Friedensschlüsse, die Ausschaltung aller regionalen oder ständischen Interessenvertretungen zwecks Herstellung eines herrschaftsdienlichen Untertanenverbands. Doch auch jenseits spezifisch frühneuzeitlicher Konstellationen wurde und wird die Staatsraison bei Bedarf von Interessierten bemüht – auch z. B. im Gewand des „Gemeinwohls“, der „öffentlichen Interessen“ oder der „Notwendigkeit“ –, um bestehende Rechtsverhältnisse und Rechtsnormen aufzulockern oder auszuhebeln.[47]
Auf überstaatlicher Ebene angesiedelt und das Prinzip der Staatsraison einschränkend bzw. ihm widerstreitend ist das Völkerrecht, wenn es zur Anwendung kommt. Das Völkerrechtskonzept wurde – ebenfalls in einer durch die historischen Umstände des niederländischen Freiheitskampfes gegen die spanische Krone geförderten Lage – von dem Holländer Hugo Grotius zuerst entworfen und vor allem durch sein Werk De iure belli et pacis verbreitet. Als Zeitgenosse auch des Dreißigjährigen Krieges trat Grotius für die persönliche Freiheit des religiösen Bekenntnisses ein und reklamierte für das Individuum einen „rechtlich gesicherten Platz innerhalb der großen Gemeinschaft eigenständiger Staaten“. Kriege aus beliebig gesuchtem Anlass wurden von Grotius geächtet. Doch auch die Neutralität verbietet sich aus seiner Sicht, wenn es gilt, Staatenverbrechen entgegenzutreten: „Der Staat als Verbrecher, als Bandit, als Räuber – das ist die Herausforderung des Grotius für den souveränen Staat, der bisher nur seiner Staatsraison folgte.“[48] Das Völkerrecht wurde in Preußen von Christian Wolff weiterentwickelt.
Die gegenüber religiös begründeten Dogmen zunehmend kritisch eingestellten Vertreter der Aufklärung gingen im staatstheoretischen Rahmen über das bis dahin von den christlichen Monarchen als Legitimationsgrundlage hauptsächlich in Anspruch genommene Gottesgnadentum hinweg. Nunmehr als Rechtfertigung ausgedient hatten die auch frühneuzeitlichen Herrschern noch bequemen Bibel-Aussagen des Apostels Paulus im Römerbrief:
„Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt… Deshalb ist es notwendig, Gehorsam zu leisten, nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern vor allem um des Gewissens willen.“
Eine dem Vernunftprinzip der Aufklärung verpflichtete Legitimation staatlicher Gewalt bedurfte fortan anderer Grundlagen. Eine solche entstand aus der Vorstellung eines Gesellschaftsvertrags: Alle Bürger eines Gemeinwesens bzw. die Staatsangehörigen wurden als Mitglieder einer durch vertraglichen Zusammenschluss gebildeten Gemeinschaft angesehen. Sie waren dadurch an die politischen Konsequenzen individuell gebunden, die sich aus dem Vertragsinhalt ergaben. Dieses neue Instrument der Herrschaftslegitimation, der fiktive Gesellschaftsvertrag, sollte in der Folge als theoretische Basis für ganz unterschiedlichen Formen des Staatsaufbaus dienen.
Anders als Grotius, der seine Völkerrechtslehre auf ein toleranzbasiertes Glaubensfundament gegründet hatte, entwickelte der auch als „Vater des Atheismus in England“ apostrophierte Thomas Hobbes seine Staatslehre vor dem Hintergrund einer Neugründung der philosophischen Disziplinen durch mathematische Methoden, Messung und empirische Demonstration.[49] Das neue Denken in naturwissenschaftlichen Bahnen sollte nun auch für Ethik und Politik fruchtbar gemacht werden.
Als erster einer Reihe von Staatstheoretikern entwickelt Hobbes die Vorstellung eines anfänglichen Naturzustands von menschlicher Gesellschaft. In seinem Modell des Naturzustands steht jedes Individuum allen Mitmenschen feindlich gegenüber (homo homini lupus) und hat einen dauernden Kampf um die eigene Sicherheit und Selbstbehauptung zu führen. Abhilfe aus diesem Dilemma kann nur die völlige Unterwerfung aller Individuen unter die Allgewalt des Staates bieten, der dadurch zum Garanten der Sicherheit aller wird und den Kriegszustand der Individuen untereinander (bellum omnium contra omnes) beendet. Indem die Menschen ihrem Sicherheitsbedürfnis bedingungslos folgen (Hobbes war Zeitgenosse des englischen Bürgerkriegs und der Hinrichtung Karls I.), verzichten sie auf jedes Eigenrecht als Bürger und statten den Herrscher mit unbeschränkter, absoluter Machtvollkommenheit aus.
Eine davon grundlegend abweichende Lehre vertritt der die politischen Umwälzungen Englands in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ebenfalls gespannt verfolgende John Locke. Für ihn, den Anwalt religiöser Toleranz und besitzbürgerlicher Interessen, gibt es schon im Naturzustand menschlichen Daseins ein Anrecht des Individuums auf Eigentumserwerb durch Arbeit. Sein die staatliche Ordnung begründender Gesellschaftsvertrag dient außer dem Schutz von Leib und Leben der Bürger auch der Wahrung ihrer Eigentumsrechte, die vom Parlament auch der monarchischen Spitze gegenüber vertreten werden. Gegen eine Tyrannei der Krone und gegen deren willkürlichen Zugriff auf Hab und Gut vermögender Bürger reklamiert Locke das Steuerbewilligungsrecht des Parlaments und im äußersten Fall ein Widerstandsrecht.
Als Bestandteil des ursprünglichen Gesellschaftsvertrags betrachtet Locke die Verpflichtung auf das Mehrheitsprinzip, da der Gesamtkörper nun einmal in die Richtung der größeren Kraft bewegt werden müsse. Speziell das Parlament stellt einen wichtigen Anwendungsbereich des Mehrheitsprinzips dar, da es als Gesetzgebungsorgan auf Entscheidungsfähigkeit gegründet sein muss. Zwischen dem Parlament als Legislativorgan und der allein für die ausführende Gewalt (Exekutive) zuständigen Krone sieht Locke eine ausbalancierte Gewaltenteilung vor.
Wie Locke war nach ihm auch der französische Adelsspross Montesquieu, der neben den französischen politischen Gegebenheiten seiner Zeit bei einem längeren England-Aufenthalt auch die britischen Verhältnisse gründlich studierte, Anhänger einer konstitutionellen Monarchie. Dem Modell einer Machtbeschränkung durch Gewaltenteilung (Le pouvoir arrête le pouvoir) zog er mit der Judikative die dritte tragende Säule ein.
Nach rechtswissenschaftlichen Studien in Bordeaux und Paris war Montesquieu für einige Jahre am Gerichtshof (Parlement) von Bordeaux im Amt und in dieser Funktion auch mit der kritischen Prüfung und Registrierung königlicher Erlasse befasst. Ausgeprägter Abstand zu dem im Niedergang befindlichen französischen Absolutismus spricht auch aus seinem 1721 veröffentlichten Werk, den Persischen Briefen (Lettres persanes), in denen die französische Monarchie nicht besser beurteilt wird als die auf literarischer Basis zum Vergleich herangezogene osmanische Despotie. Montesquieus auf diese Weise angelegter soziologisch-kultureller Relativismus mündet in die aufklärerische Formel:
„Wir können Gott als einen Monarchen betrachten, der mehrere Nationen in seinem Reich hat; sie kommen alle, ihm ihren Tribut zu bringen, und jede spricht zu ihm in ihrer Sprache.“[50]
Auch in seinem epochemachenden staatstheoretischen Standardwerk Vom Geist der Gesetze (De l’esprit des lois) stellt Montesquieu eine Fülle von Vergleichen zwischen Europa und dem Orient an, und zwar bezogen auf die Ebene damals geltender sowie ehedem erlassener Gesetze. Freiheit im politischen Sinne wird aus seiner Sicht nicht durch Volksentscheide bewirkt, sondern gründet in der Sicherheit durch generelle Gesetze.[51] Deren Geltung ist durch eine nach allen Seiten unabhängige Rechtsprechung zu gewährleisten, die allein an die Gesetze gebunden ist.
Gewisse unveräußerliche und schützenswerte Rechte der menschlichen Individuen im staatlichen Rahmen haben Vordenker aufklärerischen staatstheoretischen Denkens wie Grotius, Locke oder Montesquieu mit je unterschiedlichem Akzent in ihren Gesellschafts- und Herrschaftsmodellen bereits berücksichtigt. Als allgemeine Menschenrechte sind solche Vorstellungen in erweiterter Form eingegangen in die amerikanische Unabhängigkeitserklärung 1776, in die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die Französische Nationalversammlung 1789 und schließlich in die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen 1948.
Eine radikale Abkehr von jeglicher mit Elementen monarchischer Gewalt verbundenen staatlichen Souveränität vollzog der in Genf beheimatete und langzeitig in Frankreich lebende Kulturkritiker Jean-Jacques Rousseau. In seiner Vorstellung von einem Naturzustand der Menschheit lebten die Individuen in selbstgenügsamer Zufriedenheit nebeneinander und begegneten sich hauptsächlich im Begattungsakt.[52] Mit einsetzender Arbeitsteilung und der Bildung von Eigentum aber wurde die natürliche Eigenliebe der Menschen (amour de soi) zur gesellschaftsschädigenden und zerstörerischen Selbstsucht (amour-propre). Rousseaus Gesellschaftsvertrag (Du Contrat Social ou Principes du Droit Politique) dient dem Zweck der Selbstvervollkommnung einer vom Naturzustand unwiderruflich abgeirrten Menschheit.
Das aus dem Contrat Social hervorgehende einigende Band ist der allgemeine Wille (Volonté générale), in dem sich die positiven Strebungen aller dem Gemeinwesen angehörigen Individuen vereinigen. Die Ermittlung des allgemeinen Willens geschieht in Abstimmungen, bei denen sich die Sonderinteressen gegeneinander aufheben und das Allgemeininteresse zum Vorschein kommt. Rousseau legt zugrunde, dass das Volk hinreichend informiert und aufgeklärt ist, das Ganze im Blick zu haben, wiewohl er auch anmerkt: „Es bedürfte göttlicher Wesen, um den Menschen Gesetze zu geben.“[53]
Im allgemeinen Willen konstituiert sich die unteilbare und unveräußerliche Souveränität des Volkes. Parlamente, Parteien und Interessengruppierungen lehnt Rousseau ebenso ab wie Grundrechte oder eine verbindliche Staatsverfassung.[54] Gegen den festgestellten allgemeinen Willen gibt es für Rousseau keinerlei individuelles Vorbehalts- oder Widerstandsrecht. Da in ihm die individuelle Freiheit mit der Freiheit aller verbunden ist, bedeutet die gegebenenfalls zu erzwingende Befolgung der volonté générale die Lenkung eine Widerständigen zu seinem eigenen Besten. Dies gilt auch im Hinblick auf eine allgemein verpflichtende zivile Religion und Gottesverehrung abseits der etablierten Konfessionen und Kirchen: Wer sich dem verweigert, verdient laut Rousseau den Tod.[55]