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Körperintegritätsdysphorie

krankhafter Wunsch, eine körperliche Behinderung zu erlangen Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

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Körperintegritätsdysphorie (KID) (engl. Body Integrity Dysphoria (BID)), auch Body Integrity Identity Disorder (BIID) genannt, bezeichnet den krankhaften Wunsch, eine körperliche Behinderung zu erlangen, etwa Blindheit, Querschnittslähmung, oder Amputation eines Körperteils. Die seit den 2000er-Jahren zunehmend in der psychiatrischen Literatur beschriebene, gleichwohl sehr seltene Erkrankung wurde 2019 in die ICD-11 aufgenommen.[1] Auch neuropsychologische, ethische und philosophische Betrachtungen wurden veröffentlicht.[2][3]

Schnelle Fakten Klassifikation nach ICD-11 ...

Die Erkrankung soll in der Kindheit oder Jugend beginnen. Betroffene fantasieren oder simulieren die entsprechende Behinderung. Nur in Einzelfällen kommt es tatsächlich zu mutilierenden Selbstverletzungen oder medizinisch nicht begründeten Operationen.

Ein verwandtes Phänomen ist die Xenomelie, „das bedrückende Gefühl, dass ein oder mehrere Glieder des eigenen Körpers nicht dem eigenen Selbst angehören.“[4] In der ICD-11 wird diese als Inklusiva der Diagnose „Körperintegritätsdysphorie” angegeben.

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Geschichte

Erste Fälle von Personen, die den Wunsch nach Amputation eines ihrer gesunden Körperteile verspüren, wurden 1977 (Money et al.) und 1983 (Everaed et al.) veröffentlicht. Initial wurde dies als Paraphilie verstanden – die Annahme war, dass dem Wunsch nach Behinderung eine psychologische Ursache zugrunde lag. Money etablierte 1977 den Begriff „Apotemnophilia“, der 2005 von M. First durch Body Integrity Identity Disorder abgelöst wurde.[3]

Die 2022 in Kraft getretene ICD-11 führte den Begriff Body Integrity Dysphoria bzw. Körperintegritätsdysphorie ein.[5]

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Klassifikation

Zusammenfassung
Kontext

Vor der Veröffentlichung der ICD-11 war die Einstufung der Körperintegritätsdysphorie als psychische Störung umstritten. Es gab eine Debatte darüber, ob sie in das DSM-5 aufgenommen werden sollte, was jedoch nicht geschah. Auch in die ICD-10 wurde sie nicht aufgenommen.[6] Letztendlich fand sie Eingang in die ICD-11.

ICD-11

Die ICD-11 ordnet die Körperintegritätsdysphorie den „Somatischen Belastungsstörungen oder Störungen der Körpererfahrung“ zu.

Folgende Diagnosekriterien gelten für die Diagnose:

„Die Körperintegritätsdysphorie ist gekennzeichnet durch den intensiven und anhaltenden Wunsch, in bedeutsamer Weise körperlich behindert zu sein (z. B. Amputation einer großen Gliedmaße, Querschnittslähmung, Erblindung), der bereits in der frühen Adoleszenz beginnt und von anhaltendem Unbehagen oder intensiven Gefühlen der Unangemessenheit in Bezug auf die derzeitig nichtbehinderten Körperbereiche begleitet wird.

Der Wunsch, körperlich behindert zu sein, hat schädliche Folgen, was sich einerseits in der übermäßigen Beschäftigung mit dem Wunsch zeigen kann (einschließlich der Zeit, die damit verbracht wird, so zu tun, als sei man behindert) oder in der bedeutsamen Beeinträchtigung der Produktivität, der Freizeitaktivitäten oder des sozialen Funktionsniveaus (z. B. ist die Person nicht bereit, eine enge Beziehung einzugehen, weil es schwierig wäre, eine Behinderung vorzugeben). Die Versuche tatsächlich behindert zu sein, können andererseits auch dazu geführt haben, dass die Person ihre Gesundheit oder ihr Leben in bedeutsame Gefahr gebracht hat.

Die Störung lässt sich nicht besser durch eine andere psychische Störung, eine Verhaltensstörung oder eine neuromentale Entwicklungsstörung, eine Krankheit des Nervensystems oder einen anderen medizinischen Zustand oder durch Simulation erklären.“[7]

Eine Diagnose von Geschlechtsinkongruenz muss ausgeschlossen werden.[8]

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Symptomatik

Erlebt wird das oft überwältigende Bedürfnis, ein oder mehrere Gliedmaßen zu amputieren oder das Rückenmark zu durchtrennen oder eine andere Funktion (Hörfähigkeit, Sehfähigkeit) aufzuheben und damit den realen Körper in Einklang mit der als „richtig“ empfundenen Querschnittlähmung, Gehörlosigkeit, Erblindung usw. zu bringen. Betroffene verspüren ein Gefühl der „Unvollkommenheit.“[3]

Ursachen

Die Ursachen der Körperintegritätsdysphorie werden diskutiert. Es gibt sowohl neuroanatomische Veränderungen funktioneller Hirnregionen als auch entwicklungspsychologische Ansätze, nach denen sich schon im Kindesalter eine Störung des Körperschemas etabliert. Für beide Deutungen spricht die Tatsache, dass sich bei einem Großteil der Menschen mit einer Körperintegritätsdysphorie anamnestisch eine Manifestation der Erkrankung im frühen Jugendalter nachweisen lässt.

McGeoch et al. vermuteten 2011, dass BIID-Betroffene das jeweilige Körperteil zwar visuell und somatosensorisch wahrnehmen könnten, aber dieses aufgrund einer Dysfunktion des Parietallappens nicht in das eigene Körperbild integriert würde.[3]

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Therapie

Eine ursächliche Behandlung ist derzeit nicht bekannt. Kröger et al. konnten 2014 zeigen, dass Psychotherapie das psychische Leid mindern kann.[9]

Der schottische Arzt Robert Smith hat im Jahr 2000 zwei Beinamputationen bei Patienten mit einer Körperintegritätsdysphorie vorgenommen. Nach Indiskretionen und einem Bericht des Fernsehsenders BBC verbot die britische Ärztekammer nach Aufforderung durch das Schottische Nationalparlament weitere Amputationen. Als Grund wurde angegeben, dass die Öffentlichkeit solche Eingriffe missbilligen würde; darüber hinaus wurde ein Ansturm ausländischer BIID-Betroffener befürchtet.

Eine deutsche Studie von 2014 an 21 Betroffenen, deren Bemühung um einen veränderten Körper aus ihrer Sicht erfolgreich war, scheint darauf hinzudeuten, dass das Durchführen der erwünschten Veränderung ein erfolgreicher Therapieansatz sein kann, wenn andere Therapieformen keine Wirkung zeigten.[10]

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Siehe auch

Literatur

  • Nikki Sullivan, Samantha Murray: Somatechnics: queering the technologisation of bodies. UK 2009.
  • A. Stirn, A. Thiel, S. Oddo: Body Integrity Identity Disorder: Psychological, Neurobiological, Ethical and Legal Aspects. 1. Auflage. Pabst Science Publishers, 2009, ISBN 978-3-89967-592-4 (englisch)
  • A. Stirn, A. Thiel, S. Oddo: Body Integrity Identity Disorder (BIID) Störungsbild, Diagnostik, Therapieansätze. 1. Auflage. Beltz Psychologie Verlags Union, 2010, ISBN 978-3-621-27761-7.
  • Gregg M. Furth, Robert Smith: Apotemnophilia: information, questions, answers, and recommendations about self-demand amputation. 1stBooks, Bloomington (Indiana/USA) 2002, ISBN 1-58820-390-5. (englisch)
  • D. Groß, S. Müller, J. Steinmetzer (Hrsg.): Normal – anders – krank? Akzeptanz, Stigmatisierung und Pathologisierung im Kontext der Medizin. Humandiskurs – Medizinische Herausforderungen in Geschichte und Gegenwart. 1. Auflage. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Berlin 2007, ISBN 978-3-939069-28-7. (u. a. Fachbeitrag mit dem Thema: Body Integrity Identity Disorder (BIID). Amputationswunsch: autonome Entscheidung oder neuropsychologische Störung?)
  • Andreas Manok: Body Integrity Identity Disorder – Die Zulässigkeit von Amputationen gesunder Gliedmaßen aus rechtlicher Sicht. Leipziger Juristische Studien Band 8 – Medizinrechtliche Abteilung, EN9783865836625
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Einzelnachweise

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