Top-Fragen
Zeitleiste
Chat
Kontext

Kulturareal

Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Kulturareal
Remove ads
Remove ads

Kulturareal (von lateinisch arealis Fläche), Kulturkomplex oder Kulturprovinz bezeichnet in der Ethnologie ein geografisch abgegrenztes Gebiet, in dem verschiedene Ethnien leben, die eine gewisse Anzahl typologisch ähnlicher oder vergleichbarer Kulturelemente oder Kulturgüter aufweisen.[1] Die Ursache dafür sind homologe Entwicklungen durch gemeinsame Abstammung, Kulturtransfer zwischen benachbarten Ethnien und (weitaus kontroverser diskutiert) analog entstandene Übereinstimmungen, die auf gleichartige Lebensbedingungen zurückgeführt werden.

Thumb
Das älteste und heute noch populärste Modell für Kulturareale deckt Nordamerika ab und stammt von Clark Wissler (1912) in der Überarbeitung von Alfred Kroeber (1939)
Thumb
Weniger bekannt ist die Arbeit von Melville J. Herskovits für den afrikanischen Kontinent (1945)

Die außereuropäischen Kulturareale in Gebieten ehemaliger europäischer Kolonien verweisen grundsätzlich auf Vorstellungen einer jüngsten historischen Verbreitung und Lebensweise der „eingeborenen“ Völker vor der Kolonialisierung bzw. vor der Bildung der modernen Nationalstaaten. Eine Ausnahme bilden die Kulturareale Europas: Obgleich sie sich explizit auf die historische Entwicklung beziehen, bilden sie dennoch Realitäten ab, die gegenwärtig noch zutreffen.[2] Das Gleiche gilt eingeschränkt für die meisten Areale Südasiens.

Viele traditionelle Lebensweisen und indigene Kulturelemente existieren heute nur noch als Substrat unter der vorherrschenden Kultur, so dass Kulturareal-Karten für die Gegenwart in vielen Regionen der Welt die kulturellen Minderheiten hervorheben. Beispielsweise bezieht sich das nordamerikanische Kulturareal „Prärie und Plains“ auf die Völker der Prärie-Indianer; diese leben nach wie vor dort, obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung nur noch etwa drei Prozent beträgt und sie schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr von der traditionellen Bisonjagd leben.

Die moderne Ethnologie führte die Bezeichnung Kulturareal ein, nachdem die „Kulturkreislehre“ aufgegeben wurde, weil sie mit der Rassenideologie des Dritten Reiches in Verbindung gebracht wurde. Das von den US-amerikanischen Ethnologen Franz Boas, Robert Lowie und Clark Wissler zu Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Konzept der culture area wurde später von verschiedenen Autoren übernommen.

Die Modelle der Kulturareale basieren auf der Out-of-Africa-Theorie sowie der genetisch rekonstruierten Ausbreitung des Menschen und des „Wanderverhaltens“ menschlicher Populationen. So wird angenommen, dass sich kleine, vorgeschichtliche Gruppen aufgrund unwirtlicher Lebensbedingungen und/oder der Erschöpfung der Ressourcen weit über die Erde verstreut haben. In günstigen Gebieten kam es zur Ansiedlung und im Laufe der Zeit zu einer immer besseren Anpassung an die jeweiligen ökologischen Verhältnisse. Auf diese Weise entstanden die ältesten Kulturen. Die effiziente Nutzung der Umwelt führte wiederum zu einem starken Bevölkerungszuwachs und somit zu einer sternförmigen Ausbreitung und Etablierung der Kulturen innerhalb des jeweiligen Großlebensraumes. Nach der Theorie blieben die wesentlichen Merkmale der Kulturen dabei erhalten. Bei den „Ablegern“ kam es lediglich zur Differenzierung von Details. Vor diesem Hintergrund sei es möglich, räumlich abgrenzbare Kulturareale zu definieren.

Außerhalb der ethnologischen und historischen Wissenschaften spricht man von Kulturräumen oder Kulturerdteilen, die im jeweiligen Zusammenhang ihrer Fachwissenschaft die gegenwärtige Situation abbilden.

Remove ads

Problem der Abgrenzung

Zusammenfassung
Kontext
Thumb
Das nordamerikanische Kulturareal „Nordwestküste“ lässt sich relativ leicht durch den typischen Kunststil abgrenzen
Thumb
Ganz anders bei den drei ozeanischen Kulturarealen: Lokale Variationen sind (nach Hunter und Whitten) so zahlreich, dass es schwierig ist, die abgelegenen, isolierten Inselkulturen über die gesamte Weite des Pazifiks zu generalisieren

Jegliche Festlegung eines Kulturareales beruft sich auf die Ergebnisse der kulturvergleichenden Sozialforschung aus einer einseitigen europäischen Sicht. Während die Grenzziehung zwischen einigen wenigen Kulturen relativ leicht gelingt, ist die Einteilung ganzer Kontinente in abgegrenzte Areale jedoch schwierig und problematisch: So stimmen die von verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zeiten gezeichneten Karten häufig nicht miteinander überein; sie zeigen ungleiche Anzahlen, Größen und Grenzen der einzelnen Kulturareale. Das liegt vor allem an der jeweils recht willkürlichen Auswahl derjenigen Kulturelemente, die für ein bestimmtes Kulturareal als charakteristisch angesehen wurden und werden. Dazu kommt der ständige Kulturwandel in vielen Gebieten der Welt.

Die größte Schwierigkeit bei der Abgrenzung ist die Festlegung, welche Kulturgüter tatsächlich für ein Areal spezifisch sind und welche übergreifend für mehrere Kulturen gelten. Kulturgüter in diesem Sinne sind beispielsweise Sprache, Kunstformen, Familienstrukturen, gesellschaftliche Organisation, Kalender, Körperschmuck, Folklore, Wohnformen, Subsistenzweisen; mithin die ideologischen Systeme einer Kultur. Eine wesentliche Grundlage für kontinentale Modelle bilden zudem die ökologischen Bedingungen der jeweiligen Lebensräume.

Obwohl die Festlegung von Kulturarealen aus den genannten Gründen heute umstritten ist, bietet sie die Möglichkeit, die Kulturvielfalt zu strukturieren und eine Basis für kulturvergleichende Untersuchungen zu schaffen.[3] Die Einteilung in Kulturareale stellt ein heuristisches Werkzeug dar, einen Hilfsgedanken (bon à penser) im Sinne des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss.[4]

In diesem Sinne sind die Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen (historischen) Autoren trotz der vorgenannten Einwände wiederum groß genug, um alle Modelle zu einem „Weltmodell der Kulturareale“ zusammenzuführen, wie es D. Hunter und P. Whitten 1976 für die „Encyclopedia of Anthropology“ formuliert haben.

Remove ads

Kulturareale der Erde: Spiegelbild der Vegetationszonen und traditionellen Landnutzung

Zusammenfassung
Kontext

Die 43 „Culture Areas of the World“ von Hunter und Whitten basieren auf der Theorie, Kultur vor allem als einen Mechanismus der gemeinsamen Anpassung an unterschiedliche Lebensräume zu betrachten. Sie formulierten somit folgende Definition:

„Ein Kulturareal ist ein abgrenzbarer Teil der Erdoberfläche, in dem mehr oder weniger verwandte Gruppen von Menschen leben, bei denen der Anpassungsprozess über Jahrtausende zu einer großen Vielfalt von Überlebensstrategien geführt hat; jedoch ausgehend von einem gemeinsamen Erbe: Ähnliche ökologische Bedingungen, ähnlich wirtschaftliche, soziale und ideologische Systeme sowie verwandte Sprachen.“

D. Hunter und P. Whitten[5]

Bis auf wenige Ausnahmen decken sich die Areale demnach mit den maßgebenden globalen Vegetationszonen (vgl. Karte: Die Vegetationszonen der Erde). In Bezug zu den jeweils dort entstandenen Wirtschaftsformen kann das Modell ebenso als schematische Landkarte der traditionellen Landnutzung der Erde betrachtet werden.

Die Autoren weisen explizit darauf hin, dass es sich bei den Grenzen nicht um konkrete indigene Territorien handelt, sondern nur um schematisch gezogene Grenzen, um die Schnittstellen zwischen den fließend ineinander übergehenden Kulturen zu kennzeichnen. In diesem Sinne sind nur die kulturellen Unterschiede zwischen den jeweiligen Zentren der Areale signifikant, nicht die hüben und drüben der Grenzen!

Überdies räumen die Autoren die Abgrenzungsprobleme ein und bezeichneten die Auswahl der verwendeten Kriterien aus der Vielzahl der ethnographischen Aufzeichnungen als (zu einem großen Teil) willkürlich.

Die folgende Karte mit den folgenden Tabellen der stichwortartig aufgeführten (oft historischen) Kulturelemente entsprechen der Beschreibung von Hunter und Whitten in der Encyclopedia of Anthropology.[Anmerkung 1] Die Autoren unterscheiden drei Maßstabsebenen: Über den Kulturarealen stehen die „Hauptareale“, die an die Einteilung in „Kulturerdteile“ des deutschen Geographen Albert Kolb oder an die Karte der „Civilisations“ von Samuel P. Huntington erinnern. Einige Areale werden nach unten noch weiter in „Subareale“ gegliedert.

ThumbOzeanienNordamerikaOzeanienSüdliches AsienNördliches AsienAfrikaNaher OstenEuropaSüdamerikaNordamerika
Die Kulturareale der Erde nach Hunter und Whitten (die Karte ist anklickbar und führt zu den jeweiligen Hauptarealen)
Farblegende: Wirtschaftsformen
Ackerbau, Hirtennomadismus und Fernhandel sesshaft, nomadisch und halbsesshaft
Bodenbau und Fernhandel sesshaft
Traditioneller Ackerbau sesshaft
Ackerbau, Gartenbau und Grünlandwirtschaft sesshaft
Landwechselbau sesshaft
Wanderfeldbau halbsesshaft
Gartenbau, Wanderfeldbau und Jagd oder Fischerei zumeist halbsesshaft
Transhumanz und Bodenbau Bodenbau sesshaft, Viehwirtschaft halbsesshaft
Agropastoralismus sesshaft, halbsesshaft oder halbnomadisch
Spezialisierte Sammelwirtschaft zumeist halbsesshaft
Spezialisierte Jagd oder Fischerei Fischerei sesshaft, Jagd halbnomadisch
Rentiernomadismus halbnomadisch
Hirtennomadismus nomadisch, teilweise halbnomadisch
Unspezialisierte Jagd, Fischerei und Sammelwirtschaft nomadisch, Fischerei halbnomadisch

Hauptareal Nordamerika

→ vergleiche: Nordamerikanische Kulturareale nach Wissler und Kroeber
Weitere Informationen Lebensraum und (historische) Gemeinsamkeiten, Ethnien (Beispiele) ...

 zurück zur Karte

Hauptareal Südamerika

→ vergleiche: Indigene Kulturareale nach Münzel
Weitere Informationen Lebensraum und (historische) Gemeinsamkeiten, Ethnien (Beispiele) ...

 zurück zur Karte

Hauptareal Europa

→ vergleiche: Historische Regionen Europas nach Christian Giordano
Weitere Informationen Lebensraum und (historische) Gemeinsamkeiten, Ethnien (Beispiele) ...

 zurück zur Karte

Hauptareal Naher Osten

Weitere Informationen Lebensraum und (historische) Gemeinsamkeiten, Ethnien (Beispiele) ...

 zurück zur Karte

Hauptareal Afrika

Weitere Informationen Lebensraum und (historische) Gemeinsamkeiten, Ethnien (Beispiele) ...

 zurück zur Karte

Hauptareal Nördliches Asien

Weitere Informationen Lebensraum und (historische) Gemeinsamkeiten, Ethnien (Beispiele) ...

 zurück zur Karte

Hauptareal Südliches Asien

Weitere Informationen Lebensraum und (historische) Gemeinsamkeiten, Ethnien (Beispiele) ...

 zurück zur Karte

Hauptareal Ozeanien

→ vergleiche: Kulturareale der Aborigines nach Nicolas Peterson
Weitere Informationen Lebensraum und (historische) Gemeinsamkeiten, Ethnien (Beispiele) ...

 zurück zur Karte

Remove ads

Siehe auch

Literatur

  • David E. Hunter, Phillip Whitten (Hrsg.): Encyclopedia of Anthropology. Harper and Row, New York u. a. 1976, ISBN 0-06-047094-1, Stichworte: „Culture Area“ S. 104, „Culture Areas of the World“ S. 104–111.
  • Dieter Haller: Dtv-Atlas Ethnologie. 2., vollständig durchgesehene und korrigierte Auflage. dtv, München 2010, ISBN 978-3-423-03259-9.
  • Egon Renner: Zur Entstehung, Entwicklung und Funktion des Begriffs „culture area“. In: Magazin für Amerikanistik. Nr. 1, Verlag für Amerikanistik, Wyk auf Foehr 1998.
Remove ads
  • Elke Mader: Der „culture area approach“ (Lateinamerika). In: lateinamerika-studien.at: Kultur- und Sozialanthropologie Lateinamerikas – Eine Einführung. Lateinamerika-Studien Online, Februar 2012, abgerufen am 9. April 2014 (der Autor ist Dozent am Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Uni Wien).

Anmerkungen

  1. Unklare oder fehlende Zuordnungen wurden ergänzt im Abgleich mit der Karte Vegetationszonen.png und dem TaschenAtlas Völker und Sprachen von Willi Stegner (Hrsg.), Klett-Perthes, Gotha 2006.
  2. Spärliche Angaben bei Hunter u. Whitten ergänzt nach Wolfgang Lindig und Mark Münzel: Die Indianer. Band 2: Mittel- und Südamerika. 3. Auflage. dtv Wissenschaft, München 1985.

Einzelnachweise

Loading content...
Loading related searches...

Wikiwand - on

Seamless Wikipedia browsing. On steroids.

Remove ads