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Art und Weise der Überlieferung von Wissen, Ideen, Techniken, Überzeugungen u. Ä. Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Mündliche Überlieferung oder Oralität bezeichnet die erzählende Weitergabe und Schaffung von geschichtlichen, gesellschaftlichen und religiösen Informationen – insbesondere in Form von Geschichten, Sagen, Mythen und Traditionen. Sie spielt in allen Kulturkreisen eine große Rolle, insbesondere in jenen, die keine oder erst in Ansätzen eine schriftliche Überlieferung (Schriftlichkeit bzw. Literalität) kennen. Das Fehlen der in einer Kultur verankerten Lese- bzw. Schreibfähigkeit wird als Illiteralität bezeichnet. Mündliche Überlieferungen können ein Kulturgut sein.
Der Satz: „Du weißt, was du im Gedächtnis trägst“ ist ein Schlüsselsatz, um die Methoden des Erinnerns und des Wissens in einer primären oralen Kultur zu beschreiben. Walter J. Ong unterscheidet hier klar die primären oralen Kulturen von der sekundären Oralität, die sich in der heutigen Zeit durch Radio, Fernsehen und Telefon entwickelt hat. Völker, die gänzlich ohne das geschriebene Wort auskommen und deren Erinnerungen und Gedächtnis aus rein oralen Strukturen bestehen, sind solche einer primären Oralität. Schriftliche Kulturen führen das organisierte Wissen fast ausschließlich aus Schriften herbei, während orale Völker nur das wissen, was sie im Gedächtnis tragen. Aber wie konservieren sie dieses Wissen?
Im Stadium totaler Schriftlosigkeit gibt es kaum Möglichkeiten, den gleichen Gedankengang noch einmal zu produzieren oder eine komplizierte Erklärung im selben Wortlaut noch einmal entstehen zu lassen. Der Gesprächspartner ist deshalb sehr wichtig, um Wissen zu teilen und sich sein Wissen auch bewusst zu machen.
Schon Sokrates hat in Platons Dialog Phaidros den Wertverlust der Kommunikation beklagt, der durch die Schriftlichkeit aufgekommen ist.
„Denn dies Bedenkliche, Phaidros, haftet doch an der Schrift, und darin gleicht sie in Wahrheit der Malerei. Auch deren Werke stehen doch da wie lebendige, wenn du sie aber fragst, um das Gesagte zu begreifen, so zeigen sie immer nur ein und dasselbe an. Jede Rede aber, wenn sie nur einmal geschrieben, treibt sich allerorts umher, gleicherweise bei denen, die sie verstehen, wie auch bei denen, für die sie nicht passt […].“
Um sicherzustellen, dass mündliche Formen der Überlieferung die Zeiten überdauern, hat man verschiedene Methoden verwendet. Oft werden wichtige Erzählungen in Rituale eingebaut, die sich dann wegen ihrer nonverbalen Inhalte den Beteiligten besonders ins Gedächtnis einprägen. Ein bekanntes Beispiel ist die jährliche Verlesung der Weihnachtsgeschichte in vielen Familien und im Gottesdienst – und ihre Verstärkung durch das Nachspielen der Kinder – die sich auch in „Hirtenspielen“ oder in unzähligen Volksliedern dokumentiert.
Um für Erinnerungen leicht memorierbare Bilder zu schaffen, wurden sogenannte Mnemotechniken verwendet, die das Erinnern erleichterten. Wiederholungen, Antithesen, Alliterationen, Assonanzen oder andere formelhaftige Ausdrücke, sowie Sprichwörter und Reime bildeten Hilfestellungen, um sich Wissen einzuverleiben und wiedergeben zu können. Das menschliche Gedächtnis ist jedoch begrenzt, darum übten sich primär orale Völker auch in Homöostase. Die Realität bewahrt dabei ihr Gleichgewicht, indem sie für die Gegenwart nicht relevantes Wissen wieder ausscheidet.
Die Wissenschaftler Jack Goody und Ian Watt beobachteten diese strukturelle Amnesie bei dem Volk der Gondsha in Ghana.
„Um die Jahrhundertwende von den Briten angefertigte Niederschriften beweisen, dass die mündliche Tradition der Gondsha damals dem Begründer des Gondsha-Staates, Ndewura Jakpa, sieben Söhne zubilligte, von denen ein jeder Herrscher über einen der sieben Distrikte des Landes war. Als die Mythen des Staates sechzig Jahre später erneut aufgezeichnet wurden, waren zwei der sieben Distrikte verschwunden, einer durch Eingliederung, der andere durch eine Grenzlinienveränderung. Diese späten Mythen berichteten lediglich von fünf Söhnen des Ndewura Jakpa […]. […] der Teil der Vergangenheit, der keinen unmittelbar erkennbaren Bezug zur Gegenwart hatte, war schlichtweg vergessen worden.“[1] Der Bezug zu Erinnern und Vergessen findet in einer anderen Art und Weise statt. Wichtig zu Erinnern war das, was auch zur Gegenwart einen Bezug hatte. Ansonsten wurde es sofort wieder gelöscht.
Brockmeier weist zudem auf den Zusammenhang zwischen individuellem und gesellschaftlichem Vergessen als ein Problem der strukturellen Amnesie hin, weil die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch die individuellen Formen des Vergessens beeinflussen.[2] Dies ist z. B. auch ein Problem des Holocausts, in dem viele national-jüdische Traditionslinien unterbrochen wurden, während die Initiativen des Staates Israel vor allem die zionistischen Traditionen begünstigten.[3]
Hilfreich für eine dauerhafte Überlieferung war, wie schon erwähnt, die Gedichtform, weil Reim und Versmaß verhindern, dass einzelne Wörter leicht vergessen und verändert werden können. Allerdings werden gerade Gedichte aktuellen Bedürfnissen bewusst angepasst.
Es gilt als gesichert, dass große Teile des Alten Testamentes mündlich überliefert wurden, bevor man sie aufschrieb. Auch die Evangelien des Neuen Testaments wurden über einige Jahrzehnte mündlich überliefert, bevor ihre Form von einigen Zeitzeugen schriftlich niedergelegt wurde. „Irad zeugte Mahujael, Mahujael zeugte Methusael, Methusael zeugte Lamech.“ Diese biblische Passage ist offensichtlich ein schriftlicher Bericht, der jedoch einen mündlichen Ursprung zu haben scheint. Diese Art von oraler Struktur zeigt, dass die Formelhaftigkeit der Erzählungen wichtig war, um diese auch wiedergeben zu können. Wäre ein Text in dieser Art schriftlich abgefasst, würde dies sehr befremdlich wirken.
Auch die Heldenepen und generell die Dichtungen aus frühen Kulturen (bekannteste Beispiele: Mahabharata, Ilias und Odyssee, vgl. Homerische Frage) finden ihre Anfänge in einer mündlichen Überlieferung, und bis ins 20. Jahrhundert hat sich die Tradition der Guslaren auf dem Balkan vielfach nur auf mündliche Weitergabe der Epen gestützt.
In der deutschen Romantik entstanden die beiden wichtigsten Sammlungen mündlich überlieferter Texte: Die Märchen der Brüder Grimm (Kinder- und Hausmärchen) und Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Bei beiden Werken ist allerdings zu beachten, dass die Herausgeber ihre Quellen nach ihren Bedürfnissen bearbeiteten. 1976 gab Peter Rühmkorf seine Sammlung Über das Volksvermögen heraus, in der er mündlich überlieferte Aphorismen, Gedichte und Abzählreime vereinigte. Rühmkorf betonte dabei die derbe, brutale und sexuelle Seite dieser Überlieferung.
In der arabischen Welt hat sich eine bedeutende Tradition des Geschichtenerzählers etabliert. Der syrische Schriftsteller Rafik Schami beschreibt in seinen Büchern diese Kunst, wie sie in den Kaffeehäusern von Damaskus tradiert wurde. Schami beschreibt in seinen Erzählungen über das Erzählen die Wechselwirkungen von Erzähler und Zuhörern, die sich in der Kunst des Fabulierens wechselseitig steigern.
Bedeutende Untersuchungen zur mündlichen Überlieferung stammen u. a. von Milman Parry, Eric A. Havelock und Walter Jackson Ong sowie Jack Goody und Ian Watt. Ein Beispiel für mündliche Überlieferung, die genauer dokumentiert ist, ist die mündliche Dichtung der Atoin Meto.
In der Geschichtswissenschaft kann mündliche Überlieferung die wichtigste Quelle für Zeiten und Kulturen sein, in denen es keine schriftliche Überlieferung gibt oder sie (etwa durch Kriegseinwirkungen) verloren ging. Dann muss der Historiker versuchen, den „wahren Kern“ in Sagen und Legenden zu finden. Viele Wissenschaftler haben auf diesem Wege dazu beigetragen, in Form methodischer Textkritik auch manche schriftliche Überlieferung ihrer Urfassung näher zu bringen.
Oral History bezeichnet eine spezielle Methode der Geschichtswissenschaft, bei der die Ergebnisse der offiziellen Geschichtsschreibung durch Befragung von Zeitzeugen ergänzt werden. Damit gehört Oral History nicht zur mündlichen Überlieferung, denn vergangene Ereignisse werden nicht überliefert, sondern als eigenes Erlebnis der Zeugen geschildert. Die Methode ist seit jeher für die Volkskunde wichtig und heute vermehrt für die Lokal- und Sozialgeschichte relevant. Der Terminus kam in den 1930er-Jahren auf und wird seit den 1960er-Jahren auch im deutschen Sprachraum verwendet.
Die „Oral formulaic Poetry“ bezeichnet eine relativ junge literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung und beschäftigt sich mit allen Formen mündlichen Erzählens, mündlich tradierter Literatur. Dabei wird besonderes Augenmerk auf Umgangssprachliches und sog. Volksgut gelegt. Vergleiche Epische Formel, Homerische Frage, Märchen, Variabilität (Volksdichtung), Volksballade und Volksbuch.
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