Philosemitismus
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Philosemitismus (von griech. philos – „Freund“ – und Semitismus) ist seit etwa 1880 ein Sammelbegriff für eine den Juden, dem Judentum oder seinen Kulturleistungen gegenüber wohlgesinnte Haltung, deren konkrete Inhalte und Motivationen vielfältig sind. Ursprünglich wurde es als abwertendes Schlagwort vor allem von Antisemiten verwendet.
Der Ausdruck war ursprünglich ein Kampfbegriff deutscher Judengegner gegen ihre nichtjüdischen Gegner. Er setzt den Begriff des Antisemitismus voraus, der in Deutschland und Österreich um 1865 aufkam.
Heinrich von Treitschke sprach im Zusammenhang des von ihm ausgelösten Berliner Antisemitismusstreits 1880 erstmals vom „philosemitischen Eifer“. Er schrieb diesen der Deutschen Fortschrittspartei zu, die sich den Forderungen der damaligen Antisemitenpetition widersetzte. Zuvor hatte sein Kontrahent Theodor Mommsen von „pro- und antisemitischen Stimmungen“ gesprochen, und Wilhelm Endner hatte nichtjüdische Deutsche, die sich aus seiner Sicht „jüdische Grundsätze“ aneigneten, als „Judengenossen“ abgewertet. Bis 1912 wurde der Begriff Philosemitismus vorwiegend in diesem Sinne zur Polemik gegen den Linksliberalismus verwendet.
Der Judenmissionar Johann F. A. de la Roi bezeichnete 1884 Christen als Philosemiten, die im notwendigen „Vernichtungskampf“ zwischen Juden und Christen „eine Liebe fordern, welche nicht mehr die Wahrheit zum Siege führen will“, die also das Ziel der Bekehrung aller Juden zu Jesus Christus aufgäben.
Der Sozialist Franz Mehring benutzte den Begriff seit 1890 als Polemik gegen konservative und liberale Publizisten: Ihr Philosemitismus sei „nichts als die letzte ideologische Verkleidung des Kapitalismus“; die sozialistische Presse müsse „kapitalistische Philosemiten“ ebenso wie „philosemitische Kapitalisten“ bekämpfen.[1] Wenn liberale Juden sich über judenfeindliche Übergriffe erregten wie 1891 über den Xantener Fall eines angeblichen Ritualmords, sei das geheuchelt:
„Im Judenthum vertheidigen die Mosse und Genossen die Möglichkeit, die Voraussetzungen des Schachers, auf denen die Herrlichkeit der kapitalistischen Welt beruht; deshalb drücken sie schmunzelnd beide Augen zu, wenn ein Jude zerstampft wird, weil sein Judenthum dem Kapitalismus irgendwie in die Quere kommt, aber deshalb erheben sie auch ein Jammergeschrei, wenn eine antikapitalistische Bewegung einem Juden um seines Judenthums willen zu nahe tritt. Der Antisemitismus ist eine antikapitalistische Bewegung, nichts weiter.“[2]
Diese Haltung traf innerhalb der Sozialdemokratie auf Kritik von Eduard Bernstein, der in der Neuen Zeit warnte, dass durch die Verwendung des mehrdeutigen Schlagworts „Philosemitismus“ in der Arbeiterbewegung den Antisemiten Recht gegeben würde.[3] Mehring wird wegen dieser und ähnlicher Äußerungen von den Historikern Robert S. Wistrich und Götz Aly heute für antisemitisch gehalten.[4]
Walter Rathenau bezeichnete 1897 in seinem Aufsatz Höre Israel diejenigen als Philosemiten, die die Existenz einer Judenfrage im Kaiserreich bestritten. Auch er meinte damit Liberale, die ein die deutsche Nation angeblich schädigendes Verhalten nicht allen, sondern einzelnen Juden nachsagten und dafür nur die Anwendung oder allenfalls moderate Verschärfung bestehender Gesetze forderten. Ihnen gab Rathenau Recht.[5]
Judenfeinde des späten 19. Jahrhunderts nannten auch die Vertreter der Aufklärung des 18. Jahrhunderts „Philosemiten“, die diesen Begriff nicht kannten: etwa John Toland mit seiner Schrift Gründe für die Einbürgerung der Juden in Großbritannien und Irland unter Gleichstellung mit allen anderen Nationen (1714), Gotthold Ephraim Lessing mit seinem Drama Nathan der Weise (1779) oder Christian Konrad Wilhelm von Dohm mit seiner Programmschrift Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781–1783). Der Antisemitismusforscher Alex Bein lehnt diesen Bezug des Begriffs als ahistorische Rückprojektion ab,[6] da viele Aufklärer die Besonderheiten der jüdischen Religion als zu überwindende Hemmnisse betrachtet und demzufolge das Festhalten gläubiger Juden daran als Problem und störrische Unbelehrbarkeit abgelehnt oder diese Ablehnung begünstigt hätten.[7]
Seit 1945 wird der Ausdruck allgemein als wohlwollende Haltung von Nichtjuden gegenüber Juden verstanden bzw. gegenüber dem, was Nichtjuden als typisches und wertvolles Anliegen der Juden betrachten. In diesem Sinne wurde Philosemitismus oft als „umgekehrter Antisemitismus“ gedeutet und kritisiert, der nur das gelten lasse, was Nichtjuden an Juden sympathisch finden.[8] Wie der Antisemitismus sei er eine Perspektive, aus der Juden auf irgendeine Weise außergewöhnlich seien.[9]
Hans-Joachim Schoeps verstand Philosemitismus seit 1952 als eine judenfreundliche Haltung aus ganz verschiedenen Motiven. Er unterschied fünf Typen:[10]
Brenner ergänzt als sechsten Typ einen nach 1945 aufgekommenen Philosemitismus, der durch ein Schuldgefühl gegenüber Überlebenden des Holocaust getragen sei, sich deshalb intensiv mit der jüdischen Kultur beschäftige und die Solidarität mit dem Staat Israel betone, wobei auch Eigeninteressen einflössen.[11] Daran anknüpfend kritisierte Henryk M. Broder anlässlich des 2005 von Oliver Hirschbiegel inszenierten Films Ein ganz gewöhnlicher Jude eine kitschige, wirklichkeitsfremde Vorstellung über das Judentum bei Philosemiten.[12] Bereits 1991 hatte Broder in einem Artikel in der tageszeitung bemerkt, dass „Gutmenschen“ ihren Philosemitismus wie eine Monstranz vor sich hertrügen.[13] Claudia Curio zufolge diente in der Nachkriegszeit ein philosemitischer Diskurs oftmals dazu, sich nach der NS-Zeit selbst Absolution für Täterschaft oder Mitläufertum zu erteilen oder sich gegenüber der Besatzungsmacht Vorteile zu verschaffen. Antisemitische Einstellungen wurden dabei durchaus beibehalten, richteten sich dann jedoch eher gegen osteuropäische jüdische Displaced Persons, wohingegen die im Deutschland nach dem Nationalsozialismus kaum noch anzutreffenden deutschen Juden philosemitisch überhöht wurden. In einer einfachen Umkehrung antisemitischer Vorurteile habe man sich laut Curio aufgrund einer den Juden zugeschriebenen wirtschaftlichen Begabung oder ihres vermeintlich leichten Zugangs zu Kapital materielle Vorteile beim Wiederaufbau versprochen. Auf den konkreten Umgang mit jüdischen Remigranten habe sich dies jedoch nicht ausgewirkt, auch sei es zu keinen verstärkten Bemühungen zur Rückkehr jüdischer Vertriebener gekommen. In der philosemitischen abstrakten Stilisierung und Idealisierung des Judentums innerhalb christlicher Kreise der Nachkriegsgesellschaft sei zudem der christliche Antijudaismus nicht in Frage gestellt worden und der Ermordung der europäischen Juden sei ein Platz im heilsgeschichtlichen Plan eingeräumt worden. Zugleich seien Juden zu moralischen Instanzen erklärt worden, für die höhere Standards als für andere Menschen zu gelten hätten. Beispiele für Bemühungen um Verbesserung des gegenseitigen Verhältnisses ohne philosemitische Überhöhung seien die von den Besatzungsmächten gegründeten Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit.[14]
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