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Aethicus

Protagonist einer frühmittelalterlichen Reisebeschreibung mit kosmographischen Elementen Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

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Aethicus oder Ethicus ist der angebliche Verfasser mehrerer antiker, heidnischer Schriften, darunter einer griechischen Reise- und Weltbeschreibung mit dem Titel Cosmografia, die später – so der Anspruch der vorgeblichen Übersetzung – vom Kirchenvater Hieronymus redigiert, teils ins Lateinische übersetzt, ausführlich kommentiert und unter dem Titel Incipit liber Ethico translato philosophico edito oraculo Hieronimo presbytero dilatum ex chosmografia id est mundi scriptura veröffentlicht worden sei. In dieser Schrift erscheint Aethicus als ein Skythe und Philosoph edler Abkunft, der nicht nur als Verfasser der antiken Vorlage fungiert, sondern auch als Protagonist der Geschichte, welcher, gleichsam dem philostratischen Apollonios von Tyana, als Reisender und Forscher die gesamte Oikumene durchquert.

Die Existenz einer antiken Vorlage, die historische Realität der Reise des Aethicus sowie die Abfassung der angeblichen Übersetzung durch Hieronymus wurden in den frühen, Mitte des 19. Jh. entstandenen Editionen von Marie Armand Pascal d’Avezac und Heinrich Wuttke noch unkritisch übernommen. Bereits kurz nach der Veröffentlichung dieser beiden Ausgaben geriet jedoch die Authentizität der Schrift infolge neuer textkritischer Untersuchungen ins Wanken, im Zuge derer sich herausstellte, dass es sich bei dem überlieferten Werk weder um eine auf antike Vorlagen gestützte geographische Beschreibung noch um die Überlieferung eines tatsächlichen antiken Philosophen handelt, sondern vielmehr um eine bewusste, nach 636 entstandene Konstruktion eines anonymen Autors aus der Merowinger- oder der Karolingerzeit, der offensichtlich nur vorgibt, Hieronymus zu sein, und sich bei seiner Arbeit auch auf keine griechische Vorlage stützte.

Die daraus resultierende Frage nach dem Autor führte zu zahlreichen Spekulationen; eine bekannte, heute weitgehend widerlegte Theorie von Heinz Löwe identifizierte Virgil von Salzburg als Verfasser. Auch der Versuch Vittorio Peris aus dem Jahr 1984, die Annahme einer doppelten Autorschaft sowie die Existenz eines historischen Philosophen Aethicus erneut zu stützen, scheiterte.

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Darstellung des Aethicus in der Kosmographie und mögliche Vorlagen

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Beginn der Kosmographie in der St. Gallener Sammelhandschrift Sang. 133, p. 197; aus dem 8./9. Jh.

Die Figur des Aethicus, bzw. Ethicus[1] tritt ausschließlich in der sogenannten Kosmographie des Aethicus des Pseudo-Hieronymus aus dem 7. oder 8. Jh. auf.[2] Möglicherweise wurde sie durch verschiedene literarische Vorbilder inspiriert. So könnte der Autor Anleihen bei Philostrats Apollonios von Tyana genommen haben, wobei er diesen möglicherweise nur aus Hieronymus’ Briefen kannte, deren Gebrauch gesichert ist.[3] Ebenso denkbar ist eine Beeinflussung durch den sogenannten Kosmas Indigopleustes, dessen Werk dem Kosmographen unter Umständen in einer in England angefertigten lateinischen Übersetzung vorlag.[4] Es lässt sich zudem die Frage stellen, ob Virgilius’ Figur Estrius (oder Istrius), der als vir Hispanus beschrieben wird, Einfluss auf die Entstehung der Gestalt des Aethicus Ister hatte. Nach Virgil verfasste Estrius (Istrius) historische Werke und trat als Moralist auf. Eine Stelle bei Virgil, in der Estrius die Habgier tadelt, scheint eine Parallele in einer Passage der Kosmographie zu besitzen.[5] Allerdings kann der Gebrauch von Virgil durch den Kosmographen keineswegs als gesichert gelten. Heinz Löwe hat – im Rahmen seines Versuchs Virgil von Salzburg als Autor der Pseudographie auszumachen – hingegen versucht, den Namen Aethicus mit dem Kloster Iona bei der Insel Tiree – der Ethica insula – oder mit dem irischen Namen Etich in Verbindung zu bringen.[6]

In der Kosmographie erscheint Aethicus als ein Skythe edler Abkunft, der als Philosoph, Ingenieur und Verfasser mehrerer Werke der Antike tätig gewesen sei und die gesamte Oikumene als Forscher bereist habe. Weiterhin wird Aethicus als „Istrier“ vorgestellt, wobei hier anscheinend Istrien an der Adria und die spätrömische Privinz Skythia minor – möglicherweise absichtlich – vermischt werden.[7] „Hieronymus” behauptet, dass sich die ethische Philosophie vom Namen des Skythen ableite.[8] Zwar erscheint Aethicus als Heide, doch habe er die Heilige Schrift gelobt, jedoch in seinem Werk auf eine Wiederholung ihrer Inhalte verzichtet und sich stattdessen jenen Themen zugewandt, über die die Bibel schweigt.[9] Diese Fiktion verfolgt wohl das Ziel, die Redaktion eines heidnischen Textes durch den Kirchenvater zu legitimieren und zugleich dessen in Epistula 22 abgelegtes Gelübde[10] zu relativieren.[11]

Auf seiner Reise, die von Taprobane über die Säulen des Herkules bis in die unbekannten Regionen des hohen Nordens führt, begegnet Aethicus[12] allerlei Fremdem, Unbekanntem und Exotischem. Zahlreiche Völker und Landschaften werden beschrieben, wobei die Beschreibungen vielfach mythologische und fantastische Züge aufweisen. Am Beginn des Werks steht eine Kosmographie, wobei an deren Ende betont wird, dass Aethicus neben dem Austronothicum auch die eben beschriebenen Himmelsportale, Weltscharniere und den Abgrund selbst untersucht habe; dies ist zugleich der Übergang zum Reiseteil des Werkes.[13]

Im Werk wird dem Aethicus der heilige Hieronymus zur Seite gestellt, der nicht nur als angeblicher Übersetzer, sondern zugleich als moralischer Zensor und Kommentator auftritt. Innerhalb dieses literarischen Rahmens entfaltet der Autor eine bemerkenswerte stilistische Differenzierung, die sich in drei deutlich voneinander abgesetzten Sprachebenen manifestiert. „Hieronymus“ fungiert als auktorialer Ich-Erzähler, unterbricht die Handlung durch autobiografische Einschübe und Hetzreden und nimmt eine ambivalente Haltung gegenüber Aethicus ein. Einerseits verwirft er dessen Berichte teils als unglaubwürdig und dem Glauben abträglich, andererseits würdigt er Aethicus’ Kühnheit, Gründlichkeit und Originalität.[14] Die Passagen, in denen „Hieronymus“ Aethicus mit polemischer Hetze attackiert, sind sprachlich besonders schlicht gehalten.

Aethicus selbst spricht in den wenigen Textstellen, in denen er direkt zitiert wird, in einem pathetischen, schwülstig-orakelhaften Stil, der von dichterischer Bildhaftigkeit und Anspielungsreichtum geprägt ist. Demgegenüber orientieren sich die Passagen des „Hieronymus“ am Vokabular der Vulgata und der patristischen Literatur. Auffällig ist auch die Verwendung charakteristischer Ausdrücke des historischen Hieronymus. Von größter Eindringlichkeit ist eine Szene, in der der „Hieronymus“, sich selbst für das Studium des Aethicus geißelnd, auf die oben bereits erwähnte berühmte Vision des wahren Hieronymus anspielt.[15] In den Abschnitten, in denen Aethicus’ Schilderungen zusammengefasst werden, entsteht der Eindruck, „Hieronymus“ ahme dessen überladenen Stil bewusst nach.[16] Das angeblich von Aethicus entwickelte „Geheimalphabet“,[17] die verquaste Sprache seiner direkten Reden – durchzogen von Gräzismen und griechisch anmutenden Kunstworten – sowie die fingierten Quellen verleihen dem Werk den Anschein tiefgründiger, schwer zugänglicher Gelehrsamkeit und erwecken die Illusion einer griechischen Vorlage.[18] Diese kunstvolle Inszenierung des Werkes als von Hieronymus kritisch redigierte, übersetzte und zensierte antike Schrift trug wesentlich dazu bei, dass der fiktive Charakter der angeblichen Vorlage sowie der pseudographische Charakter des vorliegenden Textes bis weit ins 19. Jh. verborgen blieb.[19]

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Forschungsgeschichte

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Frühe Deutungen und historische Zuschreibungen

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Authentizität der „Kosmographie“ nicht hinterfragt. Die ersten Herausgeber, Marie Armand Pascal d’Avezac (1852) und Heinrich Wuttke (1853), ordneten das Werk dem heiligen Hieronymus zu und nahmen an, dass dieser eine reale griechische Vorlage eines Aethicus, bzw. Aithikos/αἰθικός übersetzt und bearbeitet habe. Auch nahmen beide an, dass die geographischen Beschreibungen mindestens zum Großteil auf tatsächlichen Erkundungen des skythischen Philosophen beruhten. Ein wesentlicher Teil des kritischen Apparats von Wuttke widmete sich dem Versuch, die Reisen des Aethicus geographisch zu verorten. Karl August Friedrich Pertz vermutete in Aethicus einen slawischen Gelehrten, aufgrund vermeintlicher Hinweise auf glagolitische Schriftzeichen im Werk.[20]

Frühe Kritische Neubewertungen

Der erste bedeutende Bruch in der Forschungsgeschichte zur „Kosmographie“ erfolgte bereits unmittelbar nach der Veröffentlichung der beiden Editionen. In einer umfassenden Rezension der Arbeiten von d’Avezac und Wuttke hob Friedrich Kunstmann[21] hervor, dass das Werk Passagen enthielt, die wörtlich von Alcimus Avitus, einem Bischof des 6. Jhs., übernommen wurden. Diese Beobachtung widersprach damit der Annahme, dass das Werk aus der Feder des Hl. Hieronymus (gest. 420) stammen könne. Kunstmanns Erkenntnisse rüttelten damit an der Vorstellung einer historischen Grundlage des Werkes und warfen erstmals Fragen zur Historizität des Aethicus und dessen Reisen auf. Die Verteidigung von Wuttke,[22] der für die Echtheit des Werkes plädierte, vermochte den Forschungswandel nichtmehr aufzuhalten. Darüber hinaus wies Ludwig Roth[23] nach, dass die Sprache der „Kosmographie“ auffallend vulgarisiert ist und mehr dem Sprachgebrauch in frühmittelalterlichen fränkischen Urkunden als dem gepflegten klassischen Latein des Kirchenvaters entspricht. Auch zeigte er, dass die „Kosmographie“ in weiten Teilen aus Isidors Etymologiae schöpft. Diese Ergebnisse stellten die Grundlage für die Erkenntnis, dass weder Hieronymus der Verfasser sein konnte noch die „Kosmographie“ auf einer griechischen Vorlage eines Aethicus basierte.

Gab es Aethicus doch? Vittorio Peris Theorie der doppelten Autorschaft

In der Folgezeit konzentrierte sich die Aethicusforschung vor allem auf die Quellenfrage. 1951 stellte Heinz Löwe die Theorie auf, der Verfasser des vorliegenden Werkes, der sich als Hieronymus ausgibt, sei in Wirklichkeit Virgil. Dieser habe das Werk als eine Art Abrechnung mit Bonifatius verfasst, mit dem er kurz nach seiner Ankunft in Bayern in Konflikt geraten war.[24] Aethicus, so Löwe, sei eine literarische Selbstprojektion Virgils. Löwes Aufsatz löste eine breite Welle von Publikationen aus.[25] Die Theorie fand zunächst große Zustimmung in der Fachwelt, stieß jedoch bald auch auf deutlichen Widerspruch.[26] Löwe hat seine Theorie daraufhin in mehreren Aufsätzen verteidigt.[27]

Im Jahr 1984 unternahm der italienische Historiker und Scriptor Graecus an der Vatikanischen Apostolischen Bibliothek, Vittorio Peri, den Versuch, die seit Mitte des 19. Jh. als widerlegt geltende These einer doppelten Autorschaft sowie die Annahme einer historischen, antiken Vorlage der Kosmographie zu rehabilitieren.[28] In seinem Aufsatz führt Peri die Kosmographie auf einen Reiseberichte eines ansonsten unbekannten, vom Christentum unberührten Autor zurück, den er als „Anonymus Danubianus“ bezeichnet und im Raum des Schwarzen Meeres verortet. Dieses ursprüngliche, heidnische Werk sei als spätantikes Breviarium überliefert und später von einem ansonsten unbekannten mittelalterlichen Exzerptor mit dem Namen Hieronymus zwischen 764 und 784 zur heute erhaltenen Cosmografia verarbeitet worden. Auch Isidor von Sevilla habe, so Peri, in seinen Etymologiae auf diese ältere Quelle zurückgegriffen. Die Annahme, der mittelalterliche Kompilator habe bewusst die Autorität des hl. Hieronymus zur Legitimation seines Werkes genutzt, weist Peri zurück. Zudem sieht er einen Zusammenhang zwischen dem glagolitischen Alphabet und dem sogenannten Aethicus-Alphabet am Ende des Exzerpts. Bereits im Erscheinungsjahr der Arbeit wurde Peri von Patrick Gautier Dalché[29] entschieden widersprochen. In seiner Untersuchung zeigte er erneut auf, dass die vorliegende Cosmografia in erheblichem Maße von Isidors Etymologiae abhängig ist. Dies belegt er durch zahlreiche wörtliche Übernahmen sowie strukturelle Übereinstimmungen, die sich nicht durch eine gemeinsame Vorlage erklären lassen. Die von Peri angeführten Textstellen bei Isidor, die seiner Auffassung nach auf eine ältere, unabhängige Fassung der Cosmografia hinweisen, führt Dalché plausibel auf andere Quellen zurück.

Darüber hinaus unterstreicht Dalché mit überzeugenden Argumenten, dass der Verfasser der Cosmografia durchaus gezielt auf die Autorität des Hieronymus rekurriert, etwa durch explizite Bezüge auf dessen Briefe und seine Auseinandersetzungen mit heidnischen Schriften. Schließlich kritisiert er auch Peris geographische Argumentation als spekulativ: Bezeichnungen wie Histria seien mehrdeutig und erlaubten keine eindeutige Lokalisierung des Autors. Dennoch ist die Theorie von Peri insbesondere in der italienischen Forschung im der Folgezeit gelegentlich aufgegriffen und weiterentwickelt worden.[30]

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Literatur

  • Friedrich Kunstmann: Besprechung. Die Schriften über Aethicus von Avezac, Pertz und Wuttke. In: Gelehrte Anzeigen, hrsg. von Mitgliedern der K. Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 38 (1854), Sp. 249–75.
  • Karl Ludwig Roth: Besprechung der Edition von Wuttke und des Werkes von Pertz. In: Heidelberger Jahrbücher der Literatur, Bd. 47 (1854) S. 269–77.
  • Vittorio Peri: La Cosmographia dell’ Anonimo di Histria e il suo compendio dell’ VIII secolo. In: Vestigia. Studi in onore di Giuseppe Billanovich, Tbd. 2, hrsg. v. Rino Avesani u. a., Rom 1984, S. 503–58.
  • Patrick Gautier Dalché: Du nouveau sur Aethicus Ister? À propos d’ une théorie récente. In: Journal des savants, Jg. 1984, S. 175–86.
  • Michael W. Herren: Wozu diente die Fälschung der Kosmographie des Aethicus? In: Lateinische Kultur im VIII. Jahrhundert. Traube-Gedenkschrift, hrsg. v. Albert Lehner/Walter Berschin, St. Ottilien 1989.
  • Otto Prinz: Die Kosmographie des Aethicus (= MGH, Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters, Bd. 14), München 1993.
  • Michael W. Herren: The Cosmography of Aethicus Ister, Edition, Translation, and Commentary, Turnhout 2011.

Anmerkungen

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