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Fakultatives Referendum (Schweiz)

Instrument der direkten Demokratie in der Schweiz Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

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Das fakultative Referendum (frz. référendum facultatif; ital. referendum facoltativo) ist in der Schweiz ein Instrument der direkten Demokratie. Eine gewisse Anzahl an Stimmberechtigten (Wahlberechtigten) kann damit verlangen, dass ein staatlicher Akt zur Volksabstimmung gelangt. Scheitert er in der Volksabstimmung, kann der Akt nicht in Kraft treten. Mithin handelt es nicht um eine schlichte Volksbefragung, sondern um eine verbindliche Entscheidung über einen Akt.

Auf Bundesebene können die Stimmberechtigten verlangen, dass über die Änderung eines Bundesgesetzes oder einen völkerrechtlichen Vertrag das Volk abstimmen muss. Dafür müssen 50'000 Unterschriften in 100 Tagen gesammelt werden. Kommt das Referendum zustande, wird eine Abstimmung durchgeführt, bei der eine einfache Mehrheit dem Gesetz oder Vertrag zustimmen muss.

Die Terminologie ist in der Schweiz uneinheitlich. Als Referendum wird sowohl die Volksabstimmung selbst als auch das vorgelagerte Verfahren (Unterstellung des Aktes, Sammeln der Unterschriften) bezeichnet.[1]

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Geschichte

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Auf Bundesebene wurde das fakultative Gesetzesreferendum anlässlich der Totalrevision der Bundesverfassung 1874 eingeführt. Es konnte gegen «Bundesgesetze, sowie allgemein verbindliche Bundesbeschlüsse, die nicht dringlicher Natur sind», ergriffen werden (Art. 89 Abs. 2 BV 1874). Die Bundesversammlung umging das Referendum jedoch regelmässig, indem Bundesgesetze missbräuchlich für dringlich erklärt wurden. Im Jahr 1939 wurde die Bundesverfassung geändert und der Passus «die nicht dringlicher Natur sind» gestrichen; eine eingeschränkte Dringlichkeitsklausel fand sich nunmehr in Art. 89 Abs. 3 BV 1874, die nur für allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse galt.[2] Bis 1977 bedurfte es für das Referendum nur 30'000 Unterschriften – die Einführung des Frauenstimmrechts 1971 machte eine Erhöhung auf 50'000 notwendig.[3]

Bereits zuvor, im Jahr 1921, war das fakultative Staatsvertragsreferendum für völkerrechtliche Verträge, die «unbefristet oder für eine Dauer von mehr als fünfzehn Jahren abgeschlossen sind», eingeführt worden. Dessen praktische Bedeutung war indes gering. Gerade einmal drei Referenden gegen völkerrechtliche Verträge kamen von 1921 bis 1977 (Erweiterung des Staatsvertragsreferendums) zustande.[4] Mit der Revision von 1977 unterstanden nunmehr jene Verträge, die unbefristet und unkündbar waren, den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen oder einer multilaterale Rechtsvereinheitlichung herbeiführen. Die Bundesversammlung konnte überdies nach Belieben weitere Verträge dem fakultativen Referendum unterstellen.[5]

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Mechanismus

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Ein Referendum ist fakultativ, wenn die Abstimmung verlangt werden muss. Die Stimmbürger müssen in der Regel Unterschriften in einer bestimmten Frist sammeln. Dem fakultativen steht das obligatorische Referendum gegenüber, das von Amtes wegen durchgeführt wird. Die Verfassung regelt, über welche Fragen zwingend eine Abstimmung durchgeführt werden muss.[6]

In seiner Wirkung unterscheidet sich das fakultative nicht vom obligatorischen Referendum. In der Zeit zwischen Ankündigung des Referendums und tatsächlicher Volksabstimmung kann es aufschiebend (suspensiv) wirken. Einen Suspensiveffekt hat das Ergreifen des Referendums dann, wenn der Erlass erst in Kraft treten kann, nachdem er in der Volksabstimmung gutgeheissen worden ist. Er hemmt also das Inkrafttreten der Bestimmung, bis eine Abstimmung stattgefunden hat. Dies trifft auf die meisten fakultativen Referenden zu. Wenn der Erlass umgehend (aufgrund von Dringlichkeit) in Kraft gesetzt und bei der Abstimmung erst nachträglich überprüft wird, wirkt das Referendum in der Sache entscheidend (resolutiv) und, im Falle einer mehrheitlichen Ablehnung, auch aufhebend (abrogativ).[7]

Das fakultative Referenden richtet sich in Bund und Kantonen ausschliesslich gegen Parlamentsbeschlüsse. Nur im Kanton Nidwalden kann eine Volksabstimmung auch über Wasserrechtskonzessionen der Kantonsregierung verlangt werden. In den Gemeinden gilt das nicht, weil sie nicht gewaltenteilig organisiert sind und der Gemeinderat weitgehende Rechtsetzungsbefugnisse haben kann.[8]

Das Referendum kann nur als Ganzes und nicht gegen einzelne Bestimmungen des Erlasses ergriffen werden.[9]

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Bund

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Das fakultative Referendum ist in Artikel 141 der Bundesverfassung geregelt. Dort heißt es:

Art. 141 BV

1 Verlangen es 50 000 Stimmberechtigte oder acht Kantone innerhalb von 100 Tagen seit der amtlichen Veröffentlichung des Erlasses, so werden dem Volk zur Abstimmung vorgelegt:

a. Bundesgesetze;
b. dringlich erklärte Bundesgesetze, deren Geltungsdauer ein Jahr übersteigt;
c. Bundesbeschlüsse, soweit Verfassung oder Gesetz dies vorsehen;
d. völkerrechtliche Verträge, die:
1. unbefristet und unkündbar sind,
2. den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen,
3. wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert.

Verfahren

50'000 Stimmberechtigte (Personen mit aktivem und passivem Stimmrecht) oder acht Kantone können eine Volksabstimmung verlangen. Im Fall des Volksreferendums müssen 50'000 gültige Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht werden. Das Verfahren wird in den Art. 59a–67b BPR detailliert geregelt.

Für das Kantonsreferendum spielt es keine Rolle, ob es sich um Halbkantone handelt. Damit es zustande kommt, müssen acht Kantonsregierungen innerhalb der Frist das Begehren bei der Bundeskanzlei einreichen (Art. 59a in Verbindung mit Art. 67a Abs. 1 BPR). Welches Organ befugt ist, ein Referendum zu verlangen, entscheiden die Kantone. In den meisten Kantonen ist es das Kantonsparlament.[10] In das Praxis ist das Kantonsreferendum von äusserst geringer Bedeutung; bisher kamen nur zwei zustande – gegen das «Steuerpaket 2003»[11] und die Individualbesteuerung 2025.[12]

Das Verlangen auf ein Referendum kann im Unterschied zur Volksinitiative nicht zurückgezogen werden (Art. 59b BPR). Das liegt daran, dass unterschiedliche Gruppen parallel ein Referendum verlangen können und der Rückzug der einen keine Wirkung haben kann.

Gegenstand

Bundesgesetze

Der in der Praxis weitaus wichtigste Anwendungsfall ist das fakultative Referendum gegen Bundesgesetze. Alle Bundesgesetze ungeachtet ihrer Wichtigkeit unterstehen dem fakultativen Referendum. Ausserdem unterstehen ihm nicht nur neue Bundesgesetze, sondern sämtliche Änderungen und Aufhebungen. In der Praxis werden grössere Vorlagen manchmal aus taktischen Gründen auf mehrere Bundesgesetze und damit auf verschiedene Referenden aufgeteilt. Damit wird erreicht, dass ein Reformvorhaben potentiell auch dann Bestand haben kann, wenn ein (umstrittener) Teil bei der Abstimmung verworfen wird. Zuweilen ist es aus Gründen der Kompromissfindung nötig, verschiedene Änderungen in einer Vorlage, einem sogenannten Mantelerlass, unterzubringen (siehe etwa das Klimaschutzgesetz).[13] Solche «Pakete» sind dann nötig, wenn für eine Reform verschiedene Bundesgesetze geändert werden müssen, alle Änderungen einander jedoch bedingen – zum Beispiel wird durch ein Bundesgesetz die Finanzierung, durch ein weiteres die Umsetzung geregelt. Das eine funktioniert nicht ohne das andere. Diese Verknüpfung ist in der Lehre nicht ganz unumstritten, wird aber als zulässig erachtet.[14]

Dringlich erklärte Bundesgesetze

Bundesgesetze können für dringlich erklärt werden (Art. 165 BV). Sie treten dann am Tag nach den Schlussabstimmungen in den Eidgenössischen Räten in Kraft und nicht erst, wenn die Referendumsfrist unbenutzt abgelaufen ist oder das Bundesgesetz in der Volksabstimmung bestätigt wurde. Bei einem dringlichen Bundesgesetz ist das Referendum somit nachträglich bestätigend oder aufhebend. Kommt das Referendum zustande, so tritt das Gesetz ein Jahr nach Annahme durch die Bundesversammlung ausser Kraft, wenn es nicht innert dieser Frist vom Volk angenommen wird. Wird es abgelehnt, so tritt es nicht bereits mit dem Datum der Volksabstimmung, sondern ein Jahr nach Annahme durch die Bundesversammlung ausser Kraft.[15]

Während nicht dringlich erklärte Bundesgesetze in der Regel so lange gelten, bis sie der Gesetzgeber ändert oder aufhebt, müssen dringlich erklärte Bundesgesetze befristet werden. Sie treten somit automatisch nach Ablauf der Geltungsfrist ausser Kraft (etwa das Covid-19-Gesetz), ausser wenn ihre Geltungsdauer durch eine erneut dringlich erklärte Gesetzesänderung verlängert wird. Gegen dringlich erklärte Gesetze kann das Referendum nur ergriffen werden, wenn sie länger als ein Jahr gelten.[16]

Bundesbeschlüsse

Die Verfassung sieht vor, dass auch Bundesbeschlüsse dem Referendum unterstehen können – soweit Verfassung oder Gesetz das vorsehen. Der Bundesbeschluss ist eine Erlassform, mit der die Bundesversammlung nicht rechtsetzende Bestimmungen regeln kann. In der Regel unterstehen Bundesbeschlüsse damit nicht dem Referendum, weil die Rechte und Pflichten der Rechtsunterworfenen vom Bundesbeschluss unberührt bleiben. Nur wenn die Verfassung (Art. 53 Abs. 3; Art. 48a Abs. 2) oder das Gesetz (etwa Art. 28 Abs. 3 ParlG; Art. 48 Kernenergiegesetz) es vorsehen, unterstehen die Bundesbeschlüsse dem Referendum.[17]

Völkerrechtliche Verträge

Das fakultative Referendum kann gegen völkerrechtliche Verträge ergriffen werden, die 1) unbefristet und unkündbar sind, 2) den Beitritt zu einer internationalen Organisation vorsehen oder 3) wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthalten oder deren Umsetzung den Erlass von Bundesgesetzen erfordert.[18]

Das erste Kriterium (unbefristet und unkündbar) muss vollständig erfüllt sein – ein Vertrag, der nur unbefristet, aber kündbar (oder umgekehrt) ist, untersteht hingegen nicht dem Referendum. Ausserordentliche Beendigungsgründe (Art. 42 ff. VRK) wie die clausula rebus sic stantibus oder die erhebliche Vertragsverletzung durch eine Partei gelten nicht als Kündigungsgründe in diesem Sinne. Von 1977 bis 1. April 2021 wurden 24 Abkommen dem Referendum über Beitritte zu unbefristeten und unkündbaren Verträgen unterstellt, darunter der UNO-Pakt II.[19]

Internationale Organisationen im Sinne von Art. 141 Abs. 1 lit. d Ziff. 2 zeichnen sich durch vier Merkmale aus:

  • Sie haben ihre Grundlage in einem völkerrechtlichen Vertrag;
  • Ihre Mitglieder sind Staaten oder andere Völkerrechtssubjekte;
  • Sie besitzen Organe, die vom Willen der Mitgliedstaaten losgelöst sind (zum Beispiel der Generalsekretär der OECD);
  • Sie stellen eine eigenständige Völkerrechtspersönlichkeit dar und können eigene Verträge abschliessen.[20]

Als Beispiel für internationale Organisationen, die nicht schon vom obligatorischen Staatsvertragsreferendum erfasst werden, gelten die UNESCO, WHO, WTO, OECD oder der IWF. Von 1977 bis 1. April 2021 wurden 39 Abkommen dem Referendum über Beitritte zu internationalen Organisationen unterstellt.[20][21]

Der letzte Tatbestand – die wichtigen rechtsetzenden Bestimmungen und die Umsetzung durch Bundesgesetzgebung – enthält Kriterien, die nicht zusätzlich erfüllt sein müssen. Rechtsetzend sind Normen, «die in unmittelbar verbindlicher und generell-abstrakter Weise Pflichten auferlegen, Rechte verleihen oder Zuständigkeiten festlegen.» (Art. 22 Abs. 4 ParlG) Gegen rechtsgeschäftliche völkerrechtliche Verträge kann das Referendum mithin nicht ergriffen werden. Wann rechtsetzende Bestimmungen «wichtig» sind, ist unbestimmt. Eine Annäherung bietet Art. 164 Abs. 1 BV, der gewisse Materien nennt, die aufgrund ihrer Wichtigkeit in einem Bundesgesetz geregelt werden müssen. Die Lehre schliesst daraus, dass völkerrechtliche Verträge, die eine dort genannte Materie betreffen, «wichtige rechtsetzende Bestimmungen» im Sinne von Art. 141 Abs. 1 lit. d Ziff. 3 BV enthalten. Es handelt sich jedoch um ein inhaltliches Kriterium: Nur wenn der Vertrag inhaltlich ins Gewicht fällt, ist er referendumspflichtig.[22]

Unerheblich ist, ob die Bestimmungen direkt anwendbar (self-executing) sind oder nicht. Zwischen dem 1. August 2003 und dem 1. April 2021 wurden 272 Abkommen dem fakultativen Staatsvertragsreferendum wegen Ziffer 3 unterstellt; nur gegen einen Bruchteil wurde es tatsächlich ergriffen.[23]

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Kantone

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Den Kantonen steht es frei, ein fakultatives Referendum einzuführen – sie sind nur verpflichtet, die Verfassungsinitiative und das obligatorische Verfassungsreferendum zu gewährleisten (Art. 51 BV). Abgesehen vom Kanton Glarus sehen alle Kantone ein fakultatives Referendum vor (dort wird an der Landsgemeinde über Akte abgestimmt, die in den anderen Kantonen regelmässig dem Referendum unterstehen).[24] 18 Kantone kennen das suspensive fakultative Gesetzesreferendum, neun das abrogative. Fünf Kantone kennen ein Referendumsrecht für Parlamentsverordnungen, 16 das fakultative Staatsvertragsreferendum, 21 ein Finanz- oder Ausgabenreferendum sowie vereinzelt ein Referendum gegen Verwaltungsakte.[25]

In sämtlichen Kantonen mit fakultativem Referendum kann eine bestimmte Anzahl an Stimmberechtigten – von 100 in Obwalden bis 12'000 in der Waadt – eine Volksabstimmung verlangen. Die Westschweizer Kantone (ø 3,5 % der Stimmberechtigten[26]) und das Tessin (3,2 %) sehen erheblich höhere Anforderungen an das Zustandekommen des Referendums als die Deutschschweizer Kantone (ø 1 %) vor.[27] Die meisten Kantone stellen höhere Ansprüche, als sie für das fakultative auf Bundesebene gelten. Die Fristen für die Sammlung der Unterschriften variieren zwischen 30 (Appenzell Innerrhoden) und 90 Tagen (zehn Kantone). Acht Kantone kennen eine sechzig tägige Sammelfrist.[28]

In gewissen Kantonen sind Parlamentarier befugt, eine Volksabstimmung zu verlangen (ein Drittel im Kanton Zug, § 34 Abs. 4 KV/ZG); im Kanton Tessin kann es von einem Fünftel der Einwohnergemeinden ergriffen werden (Art. 42 KV/TI).[29]

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Wirkung auf das politische System

Das fakultative Referendum hat weitreichende Folgen für den politischen Prozess. In erster Linie wirkt es – ganz im Gegensatz zur Volksinitiative – als bremsendes Element. Unmittelbar hat das Referendum zur Folge, dass alle, die sich an einem Parlamentsbeschluss stören, ihn zu Fall bringen können. Das gibt Personen, die sich nicht durch die politischen Behörden vertreten fühlen, die Möglichkeit, dennoch Einfluss zu nehmen.[30]

Darüber hinaus hat das Referendum erhebliche Vorwirkungen. Die alleinige Tatsache, dass ein Referendum ergriffen werden könnte, kann die Bundesversammlung veranlassen, Kompromisse einzugehen, um das Risiko eines erfolgreichen Referendums zu vermindern. Bei der Ausarbeitung des Erlasses müssen die bedeutenden Akteure aus Politik und Zivilgesellschaft angehört werden – daher hat die Vernehmlassung eine grosse Bedeutung für das politische System. Die den Kompromiss fördernde Funktion des Referendums hatte zur Folge, dass sich die Schweiz zu einer Konkordanzdemokratie entwickelt.[31] Die zahlreichen Referenden, die die Konservativen im ausgehenden 19. Jahrhundert ergriffen, durchbrachen die liberale Hegemonie.[32]

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Literatur

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Einzelnachweise

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