Wilhelm II. (Deutsches Reich)
deutscher Kaiser und König von Preußen (1888–1918) / aus Wikipedia, der freien encyclopedia
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Wilhelm II., mit vollem Namen Friedrich Wilhelm Viktor Albert von Preußen (* 27. Januar 1859 in Berlin; † 4. Juni 1941 in Doorn, Niederlande), aus dem Haus Hohenzollern war von 1888 bis 1918 letzter Deutscher Kaiser und König von Preußen. Im sogenannten Dreikaiserjahr folgte der 29-jährige Wilhelm II. seinem nur 99 Tage herrschenden, 56-jährigen Vater Friedrich III. und seinem 90-jährigen Großvater Wilhelm I. auf den Thron Preußens und des Deutschen Reiches. Durch seine Mutter Victoria von Großbritannien und Irland war er Enkel der britischen Königin Victoria.
Aufgrund seiner traditionellen Herrschaftsauffassung zeigte Wilhelm II. wenig Verständnis für das Wesen der konstitutionellen Monarchie und bestand darauf, die Regierungspolitik persönlich zu leiten. Durch sein als undiplomatisch und großspurig empfundenes Auftreten verursachte er mehrfach innen- und außenpolitische Krisen. Der von ihm stark forcierte Ausbau der Kaiserlichen Marine und die damit verbundene sogenannte Weltpolitik wurden zum Markenzeichen der wilhelminischen Ära, trugen aber auch zum Konfliktpotenzial bei, das sich im Ersten Weltkrieg entlud. Erst im Oktober 1918, unter dem Eindruck der unabwendbaren Niederlage Deutschlands und der mit ihm verbündeten Mittelmächte, stimmte Wilhelm der Parlamentarisierung des Reiches zu. Nach den Oktoberreformen war der Reichskanzler nicht mehr ihm, sondern dem Reichstag verantwortlich.[1]
Im Weltkrieg war der Kaiser von der Obersten Heeresleitung unter den Generälen Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff weitgehend kaltgestellt und auf repräsentative Aufgaben beschränkt worden. Er verlor zusehends an Ansehen, und angesichts der drohenden Niederlage wurde seine Stellung vollends unhaltbar. Zudem verlangte US-Präsident Woodrow Wilson vor der Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen kaum verklausuliert den Thronverzicht des Kaisers. Als die Novemberrevolution am 9. November 1918 auch Berlin erfasste, gab Reichskanzler Max von Baden die Abdankung Wilhelms ohne dessen Zustimmung bekannt. Wenige Stunden später, am Mittag des 9. November, erfolgte die Ausrufung der Republik in Deutschland.
Am Tag darauf floh der Kaiser vom Großen Hauptquartier im belgischen Spa, wo er sich seit dem 29. Oktober aufgehalten hatte, ins niederländische Exil. Erst dort dankte er am 28. November formell ab. Königin Wilhelmina und die Regierung der Niederlande gewährten ihm Asyl und lehnten 1919 die von den Entente-Mächten verlangte Auslieferung als Kriegsverbrecher ab. Wilhelm ließ sich in Haus Doorn nieder und bemühte sich erfolglos um eine Restauration der Monarchie in Deutschland. Er starb 1941 im Alter von 82 Jahren, ohne jemals wieder deutschen Boden betreten zu haben.
Familie
Wilhelm wurde am 27. Januar 1859 als ältester Sohn des Prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen und dessen Frau Victoria geboren, die 1861 zum Kronprinzenpaar wurden. Wilhelm war der Enkel der britischen Königin Victoria (1819–1901) sowie infolge der Verbindung seiner Großtante Charlotte mit Nikolaus I. von Russland auch ein Onkel dritten Grades von Zar Nikolaus II. Der britische König Georg V. war sein Cousin ersten Grades. Sein Bruder Prinz Albert Wilhelm Heinrich von Preußen war Großadmiral der Kaiserlichen Marine. Zum Zeitpunkt seiner Geburt stand er auf Platz drei der preußischen Thronfolge sowie auf Platz sechs der britischen. Bei seiner Geburt war klar, dass er wohl einmal preußischer König werden würde.
Geburt, Komplikationen und die Folgen
Bei der Geburt des Prinzen im Berliner Kronprinzenpalais waren, wie bei Thronfolgergeburten üblich, hohe Beamte anwesend, um die Geburt zu bezeugen. Er kam als Steißgeburt zur Welt und überlebte nur durch den als ultima Ratio hinzugezogenen Direktor der Entbindungsanstalt im Charité-Krankenhaus Berlin, Eduard Arnold Martin, und durch das couragierte Eingreifen einer Hebamme, die das scheinbar leblose Baby ganz gegen das Protokoll mit einem nassen Handtuch schlug. Martin musste die seit Stunden verschleppte Geburt voranbringen und setzte das dafür neuartige Narkosemittel Chloroform ein.[2]
Er drehte den Thronfolger intrauterin und schaffte es, die Beine voranzubringen, sodass das Gesäß und der Unterleib hervortraten. Der Nabelschnurpuls war fast nicht mehr fühlbar, daher musste der Geburtsvorgang beschleunigt werden. Es gelang Martin noch, den linken Arm zu wenden und parallel zum Torso zu legen, um dann mit kräftigem Zug den Kopf mit dem noch hochgeschlagenen rechten Arm zu entbinden. Infolge der stundenlangen fruchtlosen Wehen und der zügig zu bewerkstelligenden Notentbindung (ein Kaiserschnitt hatte damals häufig den Tod der Mutter zur Folge, was in diesem Falle völlig indiskutabel war) überlebte der Säugling zwar, aber es kam zu einer linksseitigen Armplexus-Lähmung. Einige Tage danach bemerkte man, dass das Kind diesen Arm nicht bewegen konnte. Der Arm blieb fortan in seiner Entwicklung deutlich zurück und war im Erwachsenenalter deutlich kürzer als der rechte und nur eingeschränkt beweglich. Durch die Komplikationen während der Geburt stellte sich bei Wilhelm etwas später eine Torticollis (Schiefhals) heraus.[3] Es ist umstritten, ob Martin dem Kind das Leben rettete oder die Behinderung zu verantworten hatte.[4]
Obwohl Victoria anfangs die „hervorragende“ Leistung von Eduard Arnold Martin mit viel Lob und einem „kostbaren“ Ring belohnte, entwickelte sie, als der Geburtsschaden wenig später bemerkt wurde, einen Hass auf Martin. Sie schrieb ihrer Mutter: „Du weißt, liebe Mama, daß Wilhelms Arm nicht verletzt worden wäre und ich eine solche Tortur nicht durchgemacht hätte, wenn ich in der Obhut eines aufgeklärten englischen Arztes gewesen wäre! Es war Martin, der mich behandelte!“ Wilhelm kam später zu der Überzeugung: „ein englischer Arzt tötete meinen Vater, und ein englischer Arzt verkrüppelte meinen Arm – und das ist die Schuld meiner Mutter, die keine Deutschen um sich duldete!“.[5] Um seine Behinderungen zu beheben, wurden Kuren wie das Einnähen des kranken Armes in ein frisch geschlachtetes Kaninchen oder die Elektrisierung des Arms durchgeführt. Sie verliefen allerdings erfolglos. Der Schiefhals wurde später durch eine Operation behoben.[3][6]
Wie im Hochadel üblich, traten seine Eltern als unmittelbare Erzieher ganz hinter seinem calvinistischen Lehrer Georg Ernst Hinzpeter zurück, der über die Volljährigkeit Wilhelms hinaus einen sehr großen Einfluss auf ihn hatte.[7][8][8] Seine Mutter und Hinzpeter waren sich einig, dass die Erziehung von Wilhelm von sehr strenger Natur sein solle, um ihn auf seinen „Beruf“ vorzubereiten. Friedrich III. war in diese Entscheidung nicht involviert, auch weil er in den Jahren der Reichseinigung anderweitig gebunden war. Er setzte volles Vertrauen in seine Frau und ihr Urteil. Die sehr strenge Erziehung hatte jedoch wenig Erfolg. Hinzpeter klagte 1874 über die Unkonzentriertheit und den „fast krystallinisch hart gefügten Egoismus“, der „den innersten Kern seines Wesens“ bilde.[9]
Als Siebenjähriger erlebte er den Sieg über Österreich 1866 mit der daraus resultierenden Vorherrschaft Preußens in Deutschland. Mit zehn Jahren, im damals üblichen Kadettenalter, trat er beim 1. Garde-Regiment zu Fuß formell als Sekondeleutnant in die preußische Armee ein. Als Zwölfjähriger wurde er mit der Gründung des Deutschen Kaiserreiches nach dem Sieg über Frankreich 1871 auch zweiter Anwärter auf den deutschen Kaiserthron.
Schul- und Studienzeit
Auf Vorschlag Hinzpeters wurde Wilhelm trotz der Ablehnung von Wilhelm I. 1874 auf das Lyceum Fridericianum (heute Friedrichsgymnasium) in Kassel geschickt. Victoria und Hinzpeter verfolgten dabei drei Ziele: Wilhelm solle laut Victoria „eine moderne Erziehung genießen, er sollte möglichst lange dem Hof- und Militärleben Berlins entzogen bleiben, und er sollte vor allem infolge des freien Konkurrenzkampfes mit begabten Bürgersöhnen gedemütigt, das heißt zur Einsicht gezwungen werden, daß er keinerlei Grund zur Überheblichkeit hatte.“ Wilhelms Alltag im Gymnasium wurde von Hinzpeter streng eingeteilt.[10] Nach dem Abitur am Friedrichsgymnasium trat er am 9. Februar 1877 seinen wirklichen Militärdienst bei seinem Regiment, der 6. Kompanie unter Hauptmann Ernst von Petersdorff, an. 1880 wurde er am 22. März, dem Geburtstag seines Großvaters Kaiser Wilhelm I., zum Hauptmann befördert. Bereits in diesen Jahren bildete sich bei ihm ein Verständnis seiner monarchischen Rolle, das den liberal-konstitutionellen Vorstellungen seiner Eltern zuwiderlief.
Seine folgenden Lebensstationen sind unter dem Aspekt einer Erziehung zum Monarchen zu sehen: Er sollte möglichst vielerlei Erfahrungen sammeln, erhielt aber in keinem Feld, nicht einmal im militärischen, die Chance, sich beruflich solide einzuarbeiten. Zum Studium von vier Semestern von Oktober 1877 bis 1879 bezog er die von seinem Urgroßvater gegründete Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, wo er 1878 dem Corps Borussia Bonn beitrat.[11] Wilhelm blieb der Borussia und dem Corpsstudententum zeitlebens verbunden. Da er aber als Mitglied eines regierenden Hauses keine scharfen Mensuren fechten durfte, gehörte er der Borussia erst als Inhaber der Corpsschleife an, ehe ihm am 8. März 1886 das Band verliehen und er Alter Herr wurde. Dies war durch eine Sondergenehmigung des Kösener SC-Verbandes möglich geworden.[12] Wilhelm beherrschte mühelos Englisch.[13]
Militärdienst
Bis 1888 war er wechselnden Regimentern zugeordnet, dem 1. Garde-Regiment zu Fuß, dann dem Garde-Husaren-Regiment und dem 1. Garde-Feldartillerie-Regiment, wurde schnell bis zum Generalmajor befördert und zuletzt Kommandeur der 2. Garde-Infanterie-Brigade. Der Militärdienst wurde immer wieder durch Beurlaubungen unterbrochen, damit er sich auch soweit möglich mit der zivilen Verwaltung vertraut machen konnte. Sehr gründlich konnte dies nicht geschehen, denn immer mehr Eile war geboten: Sein Großvater stand im höchsten Alter, und sein Vater war mittlerweile todkrank.
Kronprinz
Das Jahr 1888 ging als Dreikaiserjahr in die Geschichte ein. Nach dem Tod Wilhelms I. am 9. März 1888 regierte der „99-Tage-Kaiser“ Friedrich III. auf Grund seines bereits fortgeschrittenen Kehlkopfkrebses nur drei Monate und starb am 15. Juni in Potsdam. Durch den Tod Friedrichs III. wurde Wilhelm am 15. Juni 1888 König von Preußen und damit Deutscher Kaiser und Oberster Kriegsherr.[14]
Für die Regierungsgeschäfte war die mangelnde Erfahrung des Kronprinzen weniger problematisch, da bereits seit 1862 Otto von Bismarck, zunächst als preußischer Ministerpräsident, ab 1871 als Reichskanzler, die politische Macht fest in seiner Hand konzentriert hatte. Bismarck war nach drei siegreichen Kriegen (1864, 1866, 1870/71) und als Vereiniger Deutschlands zur stärksten kontinentaleuropäischen Macht ein weltweit respektierter Staatsmann. Wilhelm I. und Friedrich III. hatten ihm gelegentlich widersprochen, aber am Ende stets vertraut. Von diesem Vertrauen hing nach der Reichsverfassung der Reichskanzler auch ab, nicht vom Vertrauen des Reichstags. Bismarck baute selbstbewusst darauf, auch den dritten Kaiser lenken zu können.
Die Wilhelminische Epoche (im Überblick)
Die dreißigjährige Herrschaft Wilhelms II. im Deutschen Reich (von 1888 bis 1918) wird auch als die wilhelminische Epoche bezeichnet. Wesentliches Merkmal war das Streben des Kaisers, das Reich als politische Größe unter den bestehenden Weltmächten zu sichern. Eng verbunden mit diesem Anspruch war die militärische Aufrüstung des Kaiserreichs sowie die Forcierung der Kolonialpolitik in Afrika und der Südsee. Dies und die Verwicklung Deutschlands in internationale Krisen – zum Beispiel die Geschehnisse um die Krüger-Depesche 1896, der Doggerbank-Zwischenfall 1904, die Marokkokrisen 1904–1906 und 1911 sowie die Daily-Telegraph-Affäre 1908 – führten zu einer Destabilisierung der Außenpolitik.
Die Vorliebe Wilhelms für militärischen Prunk, die sich beispielsweise in zahlreichen Paraden zu den unterschiedlichsten Anlässen ausdrückte, führte auch gesellschaftlich zu einer Überbetonung des Militärs und der militärischen Hierarchie bis hinein ins zivile Leben der deutschen Gesellschaft, in der für eine berufliche Laufbahn – nicht nur im Verwaltungsapparat – die Ableistung des Militärdienstes und der militärische Rang eines Menschen von entscheidender Bedeutung war (Militarismus). Einen Rang als Reserveoffizier innezuhaben galt im wilhelminischen Bürgertum als Eintrittskarte in die „bessere Gesellschaft“; ebenso war das Fehlen eines militärischen Ranges ein Karrierehindernis.
Der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands während Wilhelms Herrschaft, verbunden mit technologischem, naturwissenschaftlichem und industriellem Fortschritt, begünstigte eine auch vom Kaiser mitgetragene, allgemein verbreitete Technik- und Fortschrittsgläubigkeit. Innenpolitisch setzte er die für ihre Zeit als modern und fortschrittlich geltende Sozialpolitik Bismarcks fort und erweiterte sie. Er setzte sich für die Abschaffung des Sozialistengesetzes ein und suchte, teilweise erfolglos, den Ausgleich zwischen ethnischen und politischen Minderheiten.
Wilhelm wollte sowohl die Innen- als auch Außenpolitik des Reiches wesentlich stärker beeinflussen als sein Großvater Wilhelm I. Das „persönliche Regiment“ des Kaisers war jedoch oft eine von häufig wechselnden Beratern gesteuerte Politik, die die Entscheidungen Wilhelms – auch im Urteil der meisten Historiker – oft widersprüchlich und letztlich unberechenbar erscheinen ließen.
Dazu gehört auch, dass er sich nach dem Attentat von Sarajevo über eingegangene Bündnisverpflichtungen zu einem Krieg entschloss, der in der Folge zum Ersten Weltkrieg führte. Grundlage war auch seine Überschätzung Deutschlands militärischer Stärke zu Lande und auf See. Die Marokkokrisen und die Erklärung des unbeschränkten U-Boot-Krieges sind weitere Beispiele für Entscheidungen, die den Ruf Wilhelms II. belasten.
Auch war seine Amtszeit von politischen Machtkämpfen zwischen den einzelnen Parteien geprägt, die es den amtierenden Kanzlern schwer machten, längerfristig im Amt zu bleiben. So wurden im Kampf zwischen dem sogenannten Bülow-Block aus Nationalliberaler Partei und Deutschkonservativer Partei und den Sozialdemokraten fünf von sieben Kanzlern unter kritischem Mitwirken des Reichstags von ihm entlassen.
Während des Ersten Weltkriegs von 1914 bis 1918 wurde Wilhelms strategische und taktische Unfähigkeit offenbar. Ab 1916 enthielt er sich zunehmend relevanter politischer Entscheidungen und gab die Führung des Reiches faktisch in die Hände der Obersten Heeresleitung, namentlich in die der Generale von Hindenburg und Ludendorff, die die konstitutionelle Monarchie während der letzten Kriegsjahre mit starken Zügen einer Militärdiktatur versahen. Als sich Wilhelm II. infolge der Novemberrevolution, die zum Ende der Monarchie und zur Ausrufung der Republik führte, zur Abdankung bewegen ließ und in die Niederlande ins Exil ging, hatte das Deutsche Kaiserreich den „Großen Krieg“ bereits verloren. Etwa 10 Millionen Menschen waren auf den Schlachtfeldern gefallen.
Soziale Reformen
Wilhelm II. weigerte sich 1889, Soldaten zur Niederschlagung eines Bergarbeiterstreiks im Ruhrgebiet zu schicken. Zur Begründung erklärte er:
„Die Unternehmer und Aktionäre müßten nachgeben, die Arbeiter seien seine Untertanen, für die er zu sorgen habe; wollten die industriellen Millionäre ihm nicht zu Willen sein, so würde er seine Truppen zurückziehen; wenn dann die Villen der reichen Besitzer und Direktoren in Brand gesteckt, ihre Gärten zertreten würden, so würden sie schon klein werden.“[15]
Bismarck, der dieses Zitat überliefert, nannte Wilhelms Haltung „patriarchalischen Absolutismus, für die Zeit von 1888 ein Anachronismus“ und „sentimental“.[16] In der Arbeiterschaft aber weckten solche Aussagen des jungen Kaisers und die Februarerlasse von 1890 in den ersten Jahren seiner Regentschaft zeitweilig Hoffnungen auf einen sozialen Wandel im Reich. Die Sozialpolitik lag Wilhelm II. durchaus am Herzen. Allerdings folgten seinen sozialen Reformen keine strukturellen Veränderungen im Reich. Im Gegenteil, er baute seinen politischen Einfluss noch aus und lehnte eine Demokratisierung der Verfassung ab. Preußen behielt das seit Anfang der 1850er Jahre bestehende Dreiklassenwahlrecht, das eine repräsentative Landtagsvertretung verhinderte. Nach wie vor wurde der Regierungschef nicht vom Reichstag gewählt, sondern vom Kaiser ernannt oder entlassen. Die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag wurden dazu allenfalls mitberücksichtigt. Es war dem Kanzler aber nicht möglich, ohne Mehrheit im Parlament Gesetze zu erlassen oder den Haushalt zu beschließen.
Noch während Bismarcks Kanzlerschaft, am 178. Geburtstag Friedrichs des Großen, verkündete Kaiser Wilhelm II. in einer Proklamation an sein Volk die Devise „Je veux être un roi des gueux“ (dt. „Ich will ein König der Bettler sein“) und forderte das Verbot der Sonntagsarbeit, der Nachtarbeit für Frauen und Kinder, der Frauenarbeit während der letzten Schwangerschaftsmonate sowie die Einschränkung der Arbeit von Kindern unter vierzehn Jahren.[17] Außerdem forderte er bei dem zur Erneuerung anstehenden „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ („Sozialistengesetz“) die Streichung des Paragraphen, der es der Landespolizeibehörde erlaubte, „Verurteilten den Aufenthalt in bestimmten Bezirken und Ortschaften“ zu versagen. Bismarck kommentierte dies als „Humanitätsduselei“ und verweigerte sich dem (in seinen Forderungen durch den Reichstag unterstützten) Kaiser. Seine Forderungen konnte der junge Kaiser erst mit Leo von Caprivi, dem Nachfolger Bismarcks, verwirklichen. Allerdings war Wilhelm II. bei allen sozialen Ambitionen so wenig ein Freund der Sozialdemokratie, wie Bismarck es gewesen war.[17] Er hoffte, durch seine Reformen die Sympathien für die trotz des Sozialistengesetzes erstarkte Sozialdemokratie zu schwächen und durch die Aufhebung des repressiven Sozialistengesetzes der 1890 von SAP in SPD umbenannten Partei ihren Märtyrerbonus zu nehmen. Heinrich Mann schrieb während des Zweiten Weltkriegs im kalifornischen Exil:
„Nein, er war weder ausdrücklich gerecht, noch brach er das Recht mit Vorbedacht. Den Arbeitern glaubte er mit sozialen Gesetzen – Gnaden zu erweisen. Respekt glaubte er allein dem Besitz zu schulden. Dieser Kaiser mit der Seele eines Parvenu hofierte unentwegt die reichsten Leute, Deutschlands und der Welt.“[18]
Die Sozialdemokraten blieben unter August Bebel aus ihrem antimonarchistischen Selbstverständnis heraus jedoch weiter in Fundamentalopposition. Obwohl sie den Fortschritt der im Arbeitsschutzgesetz zusammengefassten Reformen sahen, stimmten sie im Reichstag dagegen. Sie forderten grundlegende strukturelle Veränderungen, wie zum Beispiel eine Verfassungsänderung, Demokratisierung, ein ausgeweitetes Wahlrecht, Vorrang des Parlaments bei politischen Entscheidungen, eine Umstrukturierung des Haushalts, deutliche Senkung der Rüstungsausgaben, Freiheit für die Kolonien und anderes mehr – für den Kaiser unerfüllbare Anliegen, die seine Abneigung gegen die Sozialdemokratie stärkten.
Der Wohlstand der deutschen Arbeiterschaft stieg von Jahr zu Jahr, doch gelang es Wilhelm II. nicht, den Arbeitern in den Städten das Gefühl zu geben, anerkannte Mitglieder der Gesellschaft zu sein. Bei vielen Reichstagswahlen und Landtagen wuchs der Stimmenanteil der SPD.
Diese Vorgänge ließen in Wilhelm II., der immer noch „ein König der Armen“ sein wollte, die These reifen, dass eine Versöhnung mit den Sozialdemokraten nicht möglich sei. Er rief schließlich in Königsberg „zum Kampf für Religion, Sitte und Ordnung, gegen die Parteien des Umsturzes!“ auf. Schon 1887 hatte er, noch als Prinz, mit seiner Gemahlin den Evangelischen Kirchlichen Hilfsverein für Berlin gegründet, weil er glaubte, durch Förderung der Kirchen die „soziale Frage“ lösen zu können; dem folgte 1890 der Evangelische Kirchenbau-Verein, Berlin, mit dessen Hilfe er auch außerhalb Berlins auf Kirchneubauten im Reich Einfluss nahm (etwa auf die Erlöserkirche in Bad Homburg). Zugleich manifestierte er damit seine Vorstellung einer neuen Verbindung von „Thron und Altar“ in Fortführung einer Linie von Konstantin dem Großen über Otto den Großen zu ihm selbst.
Entlassung Bismarcks und Antritt Caprivis
In der letzten Periode der Regierungszeit Bismarcks hatte das Deutsche Reich einer „Kanzlerdiktatur“ geglichen, deren politische Ziele nicht die des jungen Kaisers waren. Bismarck wollte Russland als einen starken Verbündeten, Wilhelm II. vertraute hingegen nur auf Österreich-Ungarn. Bismarck wollte den „Kulturkampf“ gegen den politischen Katholizismus fortsetzen, der Kaiser war strikt dagegen. Bismarck wollte das Sozialistengesetz verschärfen, Wilhelm II. es abschaffen: „Ich will meine ersten Regierungsjahre nicht mit dem Blut meiner Untertanen färben!“ Als der Reichskanzler hartnäckig blieb, schickte der Kaiser am Morgen des 17. März 1890 den Chef seines Militärkabinetts, General von Hahnke, in die Reichskanzlei: Der Kanzler solle am Nachmittag ins Schloss kommen und sein Abschiedsgesuch mitbringen. Dieses wurde dem Kaiser aber erst im Verlauf des nächsten Tages durch einen Boten überbracht.[19] Bismarcks – immer auch als Rechtfertigung und Gegenangriff zu lesende – Darstellung betont das Entwürdigende der Maßnahme. Bismarck schreibt im erst postum erschienenen dritten Band seiner Memoiren, dass er sich im Kabinett schon vor der Entlassung isoliert oder gar verraten gefühlt habe und dass sein Stellvertreter Karl Heinrich von Boetticher in seiner Abwesenheit und ohne seine Billigung mit dem Kaiser in dessen Sinne verhandelt habe,[20] sodass er genötigt gewesen sei, eine 38 Jahre alte Kabinettsorder Wilhelms I. heranzuziehen, die es preußischen Ministern untersagte, ohne Billigung des Ministerpräsidenten mit dem Souverän zu sprechen.[21] Mit Bismarcks Entlassung machte der Kaiser den Weg frei zu seinem persönlichen Regiment.
Am 20. März 1890 entließ Wilhelm II. den „eisernen Kanzler“. Bismarck akzeptierte dies innerlich nie und sorgte indirekt durch vielfach lancierte Kritik an den „Hintermännern“ der wilhelminischen Politik und durch sein Memoirenwerk Gedanken und Erinnerungen für nachhaltige Kritik an Wilhelm II. Deren dritter Band, in dem Bismarck seine Entlassung darstellte, wurde wegen seiner politischen Brisanz erst 1919 veröffentlicht. Der Rücktritt Bismarcks war damit zwar primär innenpolitisch begründet, aber langfristig gesehen vor allem außenpolitisch fatal. Aus Wien erinnerte Kaiser Franz Joseph I. eingedenk des 1866er Friedens von Wien in einem Brief sofort und explizit an Bismarcks Verdienste. Als Bismarcks Nachfolger ernannte Wilhelm II. General Leo von Caprivi, der vom Kaiser als „Mann der rettenden Tat“ gefeiert und ob seiner Leistungen in den Grafenstand erhoben wurde. Mit Caprivi glaubte Wilhelm II. eine anerkannte Persönlichkeit gefunden zu haben, mit der er seine geplante Politik der inneren Versöhnung sowie das Arbeitsschutzgesetz durchzusetzen hoffte.[22]
Ein wichtiges außenpolitisches Ereignis fiel (gleichsam „genau passend“) in das Jahr des Kanzlerwechsels. Der Rückversicherungsvertrag mit Russland widersprach teilweise den Bedingungen des Dreibundpaktes mit Italien und Österreich-Ungarn. Der Kaiser war gegen ein Verletzen des letztgenannten Paktes, während Bismarck den Rückversicherungsvertrag seinerzeit für unbedingt notwendig gehalten hatte. Jetzt ging es um seine Verlängerung. Von der Öffentlichkeit unbemerkt (es handelte sich um einen Geheimvertrag) und von Caprivi hingenommen, wurde der 1890 auslaufende Rückversicherungsvertrag vom Deutschen Reich bewusst nicht erneuert. In Russland nahm man realistischerweise einen deutschen Kurswechsel an und begann sich Frankreich anzunähern.[23]
Caprivis Kanzlerzeit war durch entschiedene Englandfreundlichkeit geprägt. Innenpolitisch war er einer der Hauptverantwortlichen für den Wandel des Deutschen Reiches von der Agrarwirtschaft zur industriellen Exportwirtschaft. Die Reformen in diesem Zeitraum trugen dazu bei, dass Deutschland wenig später Großbritannien überholen und zur Weltwirtschaftsmacht Nr. 1 aufsteigen konnte. Der Begriff „Made in Germany“ wurde zu dieser Zeit ein Synonym für höchste Qualität.
Integrationspolitik
Die turbulente Ersetzung des alten Deutschen Bundes durch das neu geschaffene Deutsche Reich ohne die deutschen Österreicher – die kleindeutsche Lösung – brachte einige Probleme mit sich. Die rheinländische, süddeutsche und polnische Opposition gegen die preußische Vorherrschaft stützte sich auf das sich politisierende katholische Bürger-, Arbeiter- und Bauerntum. Als Partei des politischen Katholizismus hatte sich im Jahr 1870 die Deutsche Zentrumspartei formiert. Die Versuche Bismarcks, die katholischen Parteien in ihrer Arbeit zu behindern, führten zu Eingriffen in das Leben der Katholiken.[24] Auch die Judenintegration, die es vorher außer in Preußen nur in wenigen anderen Staaten gab, war jung, und der merkliche soziale Aufstieg der jüdischen Bevölkerung nährte Neid und Antisemitismus in der Bevölkerung. In den östlichen Gebieten Preußens, vor allem in der Provinz Posen, gab es eine starke Unterdrückung der polnischen Minderheit, die zu Unruhen und Gefühlen der Ungerechtigkeit führte.[25] Der Kaiser erkannte die Ernsthaftigkeit dieser Probleme und zählte sie zu seinen Hauptaufgaben.
Am besten gelang die Integrationspolitik gegenüber den Katholiken. Sie waren zuvor durch den Bismarckschen Kulturkampf benachteiligt und an der Teilnahme am politischen Leben sowie an der freien Ausübung ihrer Religion gehindert worden. Schon zu seiner Prinzenzeit war Wilhelm gegen diese Praktiken und befürwortete die Beendigung des Kulturkampfes. Um die Einigkeit zwischen Protestanten und Katholiken im Reich zu verbessern, zahlte das Reich die den Opfern vorenthaltenen Gelder zurück, hob allerdings nicht alle gefassten Beschlüsse und Gesetze aus dem vorangegangenen Kulturkampf wieder auf.
Die östlichen Provinzen Preußens (Ostpreußen, Westpreußen und Schlesien) waren mehrheitlich von Deutschen, minderheitlich von Polen sowie regional von Kaschuben und Masuren bewohnt. In der Provinz Posen stellten die Polen die Mehrheit. Seit der Bismarckzeit versuchte der Staat, die hier lebenden Polen zu germanisieren, was allerdings misslang und in offenen Protest mündete. Wilhelm II. hob viele dieser Repressionen auf, die vor allem die Unterrichtssprache und später auch die des Gottesdienstes regelten, und erkannte die Polen als eigenes Volk und Minderheit im Deutschen Reich an.
Bei seiner Integrationspolitik kam Kaiser Wilhelm II. der Parlamentarismus im Reich entgegen. Die Wahl wurde in Einmannwahlkreisen mit absolutem Mehrheitswahlrecht durchgeführt. So besaßen die Dänen (ein bis zwei Abgeordnete), Elsass-Lothringer (acht bis 15 Abgeordnete) und Polen (13 bis 20 Abgeordnete) von 1871 bis zur letzten Wahl 1912 stets eigene Fraktionen im Reichstag. Juden dagegen organisierten sich nicht in einer eigenen Partei. Das Wahlsystem grenzte aber auch politische Minderheiten nicht aus. Dies sorgte dafür, dass sich auch die preußenfeindlichen Welfen, aber vor allem die Antisemiten aus der Christlichsozialen Partei und der Deutschen Reformpartei organisieren konnten. Die Zahl ihrer Abgeordneten überschritt aber nie die Zahl der Abgeordneten aus den Parteien der ethnischen Minderheiten.
Wirtschaftspolitik und rüstungspolitische Prioritäten
Caprivi setzte einen weiteren von Bismarck verwehrten Wunsch Wilhelms durch, die progressive Einkommensteuer, die höhere Einkommen stärker belastete: die Miquelsche Einkommensteuerreform von 1891. Durch die industriefreundliche und exportorientierte Eindämmung des Protektionismus zog sich Caprivi die Feindschaft der im Bund der Landwirte organisierten Grundbesitzer („Ostelbier“, „Junker“) zu, die eng mit der Deutschkonservativen Partei verbunden waren. Die nach Abschaffung der Schutzzölle wachsenden Agrarexporte der USA bewirkten für sie einen Preisverfall. Durch die Förderung des Einsatzes von Landmaschinen konnte man die Verluste zwar teils auffangen, erhöhte aber die agrarprotektionistischen Ansprüche der ohnehin unterkapitalisierten und zu Investitionen genötigten Großgrundbesitzer.
1893 löste Wilhelm II. den 1890 gewählten Reichstag auf, weil der die auch von ihm gewünschte Aufrüstung des Heeres abgelehnt hatte. Bei den darauf folgenden Wahlen siegten die Befürworter der wilhelminischen Politik aus der Konservativen und Nationalliberalen Partei. Auch die gegen Caprivis Widerstand von Alfred von Tirpitz propagierte Aufrüstung der Kaiserlichen Marine, im Volk durchaus populär, erkennbar etwa am allgegenwärtigen Matrosenanzug für Knaben, wurde in der Folgezeit von Wilhelm gefördert.[26]
Im Januar 1894 kam es zu einem Aussöhnungstreffen mit Bismarck. Als dieser 1896 den geheimen Rückversicherungsvertrag mit Russland in der Presse veröffentlichte, wollte Wilhelm ihn dann aber in der ersten Erregung wegen Landesverrats verhaften und in die Zitadelle Spandau verbringen lassen.[27]
Persönliches Regiment des Kaisers
Am 26. Oktober 1894 wurde Caprivi entlassen. Wilhelm berief erstmals einen Nichtpreußen, den bayerischen Fürsten (und seinen Onkel, wie er in seinen Memoiren Ereignisse und Gestalten schreibt) Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten. Er sollte anders als seine beiden Vorgänger keinen Führungsehrgeiz entwickeln.[29]
1895 wurden der Kaiser-Wilhelm-Kanal, der heutige Nord-Ostsee-Kanal, fertiggestellt und die Marinehäfen Kiel und Wilhelmshaven in großem Maßstab ausgebaut. In diesem Zusammenhang besetzte und pachtete das Deutsche Reich die chinesische Hafenstadt Tsingtao auf 99 Jahre.[30]
Wilhelm erkannte trotz seiner Englandfreundlichkeit nicht, dass damit die weltweite Hegemonialmacht Großbritannien aufs Äußerste beunruhigt wurde. Der anhaltende deutsche Kolonialismus – gegen den Bismarck und Caprivi sich noch gewehrt hatten – wurde von ihm nicht als riskant gegenüber den Großmächten England und Frankreich erkannt und gebilligt: 1899 erwarb das Reich die Karolinen, Marianen, Palau und 1900 Westsamoa. 1896 versäumte Hohenlohe-Schillingsfürst es, Wilhelm von der „Krüger-Depesche“ abzuhalten, einem Glückwunschtelegramm an die Buren zur Abwehr des britischen Jameson Raid, die in Großbritannien mit Empörung aufgenommen und nachhaltig als Abkehr von der englandfreundlichen Politik Caprivis gedeutet wurde. In seinen Memoiren betonte Wilhelm, dass er gegen die Depesche gewesen sei, aber vom Kanzler Hohenlohe-Schillingsfürst zur Unterschrift genötigt worden sei. Seit 1897 war Hohenlohe-Schillingsfürst durch die Entlassung wichtiger Mitarbeiter weitgehend kaltgestellt worden, es verstärkte sich nun das persönliche Regiment des Kaisers.
Wilhelm setzte Hohenlohe-Schillingsfürst am 17. Oktober 1900 ab und berief Graf Bernhard von Bülow zum Reichskanzler, der weder die anstehenden innenpolitischen Reformen betrieb noch die sich neu gruppierenden außenpolitischen Konstellationen zu meistern vermochte, die in Deutschland zunehmend als „Einkreisungspolitik“ empfunden wurden.[31] Das Verhältnis zu Frankreich wurde jedenfalls nicht verbessert, England nun auch durch die Flottenpolitik herausgefordert und Russland auf dem Balkan nicht gegen die Österreichisch-Ungarische Monarchie unterstützt. Wilhelm vertraute Bülow, der ihm nachhaltig zu schmeicheln wusste, lange, bis zur Daily-Telegraph-Affäre 1908 und den Eulenburg-Prozessen.
Bauprojekte
Neben der Flottenaufrüstungspolitik mit Marinegebäuden wie der Marineschule Mürwik, für die Wilhelm bekannt ist, erfolgten diverse weitere Bauprojekte. Im Jahre 1899 schenkte die Stadt Schlettstadt Wilhelm die Hohkönigsburg im Elsass. Wilhelm ließ sie in den Jahren 1901–1908 durch den Berliner Architekten und Burgenforscher Bodo Ebhardt restaurieren. Der Bau kostete über zwei Millionen Mark, die zum großen Teil von Elsass-Lothringen bezahlt werden mussten. Am 13. Mai 1908 fand im Rahmen einer großen Feier mit festlicher Musik und historischen Kostümen bei Regenwetter die Einweihung statt, an der auch Tochter Viktoria Luise von Preußen teilnahm. Ebenso auf Veranlassung Wilhelm II. wurde das Residenzschloss Posen in den Jahren von 1905 bis 1913 im neoromanischen Stil errichtet und die Ordensburg Marienburg von 1896 bis 1918 renoviert.
Bisweilen verstand sich Wilhelm auch als Architekt. Prominentestes Beispiel aus der Rheinprovinz sind hier die Anmerkungen des Kaisers auf dem Fassadenentwurf zum Regierungsgebäude in Koblenz. Vom Architekten Paul Kieschke (1851–1905) entworfen und zwischen 1902 und 1905 realisiert, erhielt der Regierungsbaumeister den Plan mit eigenhändigen Abänderungen des Kaisers in Bezug auf die Ausführung der geplanten Türme zurück.[32]
Wilhelm veranlasste 1913 den Bau des Cecilienhofes in Potsdam – diesen letzten Schlossbau vor dem Sturz der Monarchie in Deutschland als Wohnstätte für die Familie seines ältesten Sohnes, des Kronprinzen Wilhelm, der 1905 Cecilie von Mecklenburg-Schwerin geheiratet hatte, nach der das Schloss benannt wurde.
- Postkarte der Hohkönigsburg aus dem Jahre 1914
- Kaiser-Friedrich-Museum mit Reiterstandbild Friedrichs III., 1905
- Berliner Dom auf einer Postkarte um 1900, davor der Lustgarten
- Halle des „Kaiserbahnhofs“
- Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, um 1900
- Ansicht vom Schloßplatz 1906, mit dem originalen Standort des Neptunbrunnens und der originalen Fassade des Neuen Marstalls
- Landseite der „Marineschule Mürwik“ in Mürwik, 1910
- Ansicht des Residenzschlosses Posen
- Gebäude der Bezirksregierung Koblenz
Zwei weitere Bauten aus der wilhelminischen Ära, die das Zentrum Berlins prägen, sind die Königliche Bibliothek, die in den Jahren 1901–1914 entstand, und der Neue Königliche Marstall am Schlossplatz in Berlin, der 1897–1900 errichtet wurde. Eines der das Kölner Stadtbild am stärksten prägenden Bauwerke, die Hohenzollernbrücke, stammt aus wilhelminischer Zeit. Sie wurde von 1907 bis 1911 von Franz von Schwechten (Architekt der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche) in direkter Sichtachse des Kölner Doms im neoromanischen Stil mit dekorativen Brückentürmen und Portalen erbaut.
Außenpolitische Probleme unter Bülow
Mit Ausbruch des Russisch-Japanischen Kriegs im Februar 1904 und dem Abschluss der Entente Cordiale zwischen Frankreich und Großbritannien am 8. April 1904 veränderte sich das europäische Machtgefüge fundamental. Mit dem englisch-französischen Kolonialausgleich war die Freihandelspolitik offenbar gescheitert. In der Wilhelmstraße wurde überlegt, wie man auf die französisch-britische Annäherung reagieren sollte, ohne selbst an politischem Handlungsspielraum zu verlieren und außenpolitisch isoliert zu werden. Nach den schweren Niederlagen Russlands im Sommer 1904 und den scharfen Spannungen zwischen London und St. Petersburg nach dem Doggerbank-Zwischenfall (21./22. Oktober 1904) wurde Russland als ein möglicher Partner weiter interessant.[33]
Im November 1904 unterbreitete Wilhelm dem Zaren Nikolaus II. ein Defensivbündnis. Frankreich sollte erst nach Abschluss des Vertrages von dem Bündnis in Kenntnis gesetzt werden. Die russische Regierung widersetzte sich aber einem solchen Bündnis.[34] In der Ersten Marokkokrise (1904–1906) standen bald darauf wieder die Spannungen zwischen Frankreich und Deutschland im Fokus. Friedenspolitisch ergriff Wilhelm II. im Juli 1905 eine Initiative: Im Sinne einer Wiederannäherung an Russland, das gerade seinen Krieg gegen Japan zu verlieren drohte, schloss er mit Nikolaus II. den Freundschaftsvertrag von Björkö. Frankreich sollte einbezogen werden.
Der Vertrag von Björkö wurde allerdings schon 1907 von Russland für gegenstandslos erklärt, weil er mit der französisch-russischen Annäherung, die inzwischen stattgefunden hatte, nicht vereinbar war.[35] Diese Annäherung hatte sich ergeben, nachdem Wilhelm II. im März 1905 in der Ersten Marokkokrise Tanger besucht hatte (Näheres hier). Resultat war überdies eine Verschlechterung der Beziehungen zu Japan, das Preußen–Deutschland bisher als wissenschaftlichen und militärischen Lehrmeister angesehen hatte.
1908 wurde Wilhelms Hilflosigkeit durch die Daily-Telegraph-Affäre deutlich: Er beschwerte sich in einem Interview mit der Zeitung über seine eigene Regierung – sie sei nicht englandfreundlich genug. Bismarck war ein Meister darin gewesen, seine Politik medial zu flankieren. Bei Wilhelm II. dagegen sollten das Interview und markige Reden die Politik ersetzen. Ein besonders eklatantes Beispiel hatte der Kaiser mit der bereits am 27. Juli 1900 in Bremerhaven gehaltenen Hunnenrede gegeben. Mit dem Interview im Daily Telegraph fiel er nunmehr der Reichspolitik in den Rücken, indem er darin erklärte, er sei ein guter „Beschützer Englands“, hielte er doch die anderen europäischen Mächte immer davor zurück, England zu provozieren. Dies wurde in England als Ärgernis empfunden: Es lasse sich von niemandem beschützen und empfand das Interview als Anmaßung. Wilhelm knickte angesichts des deutschen Pressesturms ein und versprach, sich künftig außen- wie auch innenpolitisch zurückzuhalten.[36]
Zunehmende Kritik am Kaiser und Entlassung Bülows
Inzwischen hatte die öffentliche Meinung bereits lange vor der Daily-Telegraph-Affäre begonnen, den Kaiser grundsätzlich kritisch zu sehen. Schon 1902 hatte er sich mit der Swinemünder Depesche in die bayerische Innenpolitik eingemischt, zudem ohne sich mit dem Reichskanzler vorher abzustimmen, und so einen Skandal verursacht. Eine Kampagne schadete Wilhelm konkret: 1906 griff der Journalist Maximilian Harden, ein außenpolitischer Hardliner, der bereits 1905 einen Präventivkrieg gegen Frankreich gefordert hatte, in seiner Zeitschrift Die Zukunft die angebliche „Kamarilla“ um den Kaiser an.
Der Liebenberger Kreis, ein seit zwei Jahrzehnten bestehender Freundeszirkel um Wilhelm und den Fürsten Philipp zu Eulenburg, der den Kaiser angeblich zu seinem „persönlichen Regiment“ bewogen haben soll, wurde als „homoerotische Tafelrunde politischer Weichlinge“ dargestellt, die den Kaiser vom „männlichen“ Kurs Bismarcks abbringen und zu einer dauerhaften Friedenspolitik gegenüber Frankreich und Großbritannien bewegen wolle und daher sogar über die Rückgabe des annektierten Reichslandes Elsaß-Lothringen diskutiere. Harden zog alle Register des Sensationsjournalismus, indem er Eulenburgs Homosexualität (nach § 175 damals ein Straftatbestand) enthüllte und anprangerte.[37] Er erreichte durch Manipulationen, dass Eulenburg sich in einen Meineid verstrickte und schließlich festgenommen wurde. Es folgten drei Sensationsprozesse gegen Eulenburg, die trotz Freisprüchen das Ansehen des Kaisers beschädigten und in die auch Reichskanzler Bülow hineingezogen wurde.[38] Die von 1906 bis 1909 schwelende Harden-Eulenburg-Affäre wuchs sich zu einem der größten Skandale des Kaiserreiches aus und erregte auch international Aufsehen.
1909 zerbrach der sogenannte Bülow-Block, in dem sich die regierungsunterstützenden linksliberalen Parteien sowie die Nationalliberale und die Deutschkonservative Partei zusammengeschlossen hatten. Auslöser war der Versuch Bülows, das preußische Wahlrecht zu reformieren, worauf ihm die im preußischen Landtag dominierenden Konservativen die Gefolgschaft verweigerten.[39] Sozialdemokraten und Zentrumspartei, die diesen Versuch in seinen Grundsätzen unterstützen, verweigerten trotzdem die Zusammenarbeit mit Bülow. Sie warfen ihm Prinzipienlosigkeit vor, da er erst kurz zuvor in Zusammenarbeit mit den Konservativen neue Repressalien gegen die polnische Minderheit durchgesetzt hatte. Die Germanisierungspolitik wurde auf Betreiben Kaiser Wilhelms eingeschränkt. Dass Bülow nun aber, um sich die Loyalität der Konservativen Partei zu sichern, die Enteignung von polnischen Gütern erleichterte, ignorierte der Kaiser zunächst, um die stabile Parlamentsmehrheit nicht zu gefährden. Doch entließ er Bülow und ernannte am 7. Juli 1909 Theobald von Bethmann Hollweg zum Reichskanzler.[40]
Außenpolitische Probleme unter Bethmann Hollweg
Wilhelm überließ dem neuen Kanzler nach dem Krisenjahr nun die Außenpolitik, die aber ihre Ziele – Wiederannäherung an England und Distanzierung von der antirussischen Balkanpolitik Österreich-Ungarns – nicht erreichte. Die antifranzösische Politik wurde 1911 in der zweiten Marokkokrise durch deutschen Interventionismus im „Panthersprung nach Agadir“ verschärft. Heer und Flotte wurden weiter verstärkt. Markante Eingriffe Wilhelms unterblieben. Der Kaiser war zwar Militarist, aber kein Bellizist, er wollte trotz seiner kriegerischen Reden im Grunde keinen Angriffs- oder Präventivkrieg. Er tat aber auch wenig, um dies deutlich zu machen.
Insgesamt ist Wilhelms II. Anteil an der deutschen Außenpolitik umstritten. Während John C. G. Röhl in ihm eine wirkungsmächtige Instanz hervorhebt, die in die Politik des Reiches eigenständig eingriff, sieht die Mehrzahl der Historiker wie Wolfgang J. Mommsen die zivile Reichsleitung im Zentrum der Verantwortung. Unbestreitbar ist, dass der Kaiser nicht als Koordinator zwischen Außen-, Heeres- und Flottenpolitik wirkte. So kam es, dass Reichskanzler, Heeres- und Marineleitung jeweils unterschiedliche Ziele verfolgten, die miteinander nicht vereinbar waren. Vor allem schuf der Aufbau der Flotte ein außenpolitisches Problem.
Erster Weltkrieg
Julikrise
In der Julikrise 1914 spielte Wilhelm II. eine ambivalente Rolle. Er versuchte einerseits, den Frieden durch einen fieberhaften Briefwechsel mit dem russischen Zaren („Lieber Nicky!“ – „Lieber Willy!“) zu retten, der bei der nunmehr objektiven Kriegsentschlossenheit sämtlicher Kontinental-Großmächte gar nichts bewirkte. Andererseits drängte er zum Losschlagen. Faktisch steigerte der Kaiser letztlich die Kriegsgefahr, denn er ermächtigte Bethmann Hollweg nach dem Attentat von Sarajewo am 28. Juni 1914, Österreich-Ungarn eine Blankovollmacht für dessen aggressive Politik gegen Serbien zu erteilen.
Obwohl die Stärke Deutschlands immer mehr zugenommen hatte, hielt Wilhelm, mit seinen Ängsten vor „Sozialismus“, „gelber Gefahr“, „slawischer Flut“ und seiner Idee vom „unvermeidlichen Gegensatz von Slawen und Germanen“, die Zeit für die letzte Abrechnung gekommen. Dabei unterschätzte er den serbienfreundlichen Panslawismus, mit dem seit 1905 die russische Politik die Unruhen im eigenen Reich zu bändigen fest entschlossen war.[41] Der deutsche Botschafter in Wien Heinrich von Tschirschky drängte auf Wilhelms Anweisung zu einer Aktion gegen Serbien: Er solle „mit allem Nachdruck erklären, daß man in Berlin eine Aktion gegen Serbien erwarte und daß es in Deutschland nicht verstanden würde, wenn wir die gegebene Gelegenheit vorübergehen ließen, ohne einen Schlag zu führen“.[42]
Faktisch wurde nach der österreichisch-ungarischen Kriegserklärung an Serbien die Außenpolitik von Kaiser und Kanzler dem deutschen Generalstab überlassen: Die Mobilmachung im Russischen Reich erlaubte es nach dem Urteil der Generalität dem Deutschen Reich nicht, mit der Kriegserklärung an Russland und Frankreich länger zu warten, da sonst der deutsche Schlieffen-Plan, bei einem Zweifrontenkrieg erst schnell Frankreich, dann Russland zu schlagen, undurchführbar zu werden drohte. Wilhelm mischte sich in der Folge nicht in militärische Zielsetzungen ein, überließ diese aber nicht verfassungsgemäß dem Reichskabinett, sondern der Obersten Heeresleitung (OHL).
Kriegsbeginn und zunehmender Machtverlust
Im Verlauf des Ersten Weltkrieges 1914–1918 wurde die Bedeutung des Kaisers immer geringer. Besonders mit der Dritten Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und dem dominierenden Ludendorff wurde er 1916–1918 zunehmend von den politisch-militärischen Entscheidungen ausgeschlossen. Jedoch schob die Heeresleitung ihm 1917 die auch im Reich umstrittene Entscheidung über die Wiederaufnahme des nach dem „Lusitania-Zwischenfall“ 1915 eingestellten „uneingeschränkten“ U-Boot-Kriegs zu. Er schloss sich – gegen den Rat seines Reichskanzlers – der Meinung der Militärs an, was im April 1917 zur Kriegserklärung der USA führen sollte. Diese machten später die Abdankung des Kaisers zur Bedingung für die Eröffnung von Friedensverhandlungen. Am 13. Juli 1917 trat Bethmann Hollweg zurück. Nun hatte Ludendorff eine faktisch diktatorische Position. Auf weitere Reichskanzlerwechsel, zunächst von Bethmann Hollweg zum unerfahrenen Georg Michaelis und noch im selben Jahr zum betagten bayerischen Zentrumspolitiker Georg von Hertling, nahm Wilhelm II. keinen Einfluss, die 1918er Reform der Reichsverfassung in Richtung auf eine parlamentarische Monarchie wurde ohne ihn versucht. Die „stille Diktatur der OHL“ war auch durch die Schwäche Kaiser Wilhelms bedingt, der in den beiden letzten Kriegsjahren immer hilfloser agierte, was die Position der OHL stärkte.[43]
Kriegsziele
Am 13. Mai 1917 präsentierte Wilhelm seinem Staatssekretär für Äußeres ein Kriegszielprogramm, das die Bestrafung aller Gegner, sogar der USA, in Form von Reparationen vorsah. Neben ausgedehnter kolonialer Expansion – Malta, Zypern, Ägypten, Mesopotamien sollten an das Osmanische Reich fallen, Madeira, die Kapverden, Azoren und der Kongo an Deutschland – erwartete er die Anbindung von Polen, Kurland, Litauen, Ukraine, Livland und Estland an sein Reich. Außerdem forderte er unrealistische Kriegsentschädigungen von allen Kriegsgegnern.
Allerdings stand Wilhelm II. gerade in dieser Zeit eher im Hintergrund, er hatte selten ein entscheidendes Wort mitzureden, sodass sein Programm in Kreuznach nicht sehr ernst genommen wurde und nur, was den kolonialen Bereich betraf, überhaupt in der politischen Planung berücksichtigt wurde.[44] Im Rahmen einer Balkanreise begeisterte sich der Kaiser über die reichen Gebiete Rumäniens. Das eroberte Land hatte ihm „außerordentlich gefallen“, „bei guter Verwaltung würde das Land zu einer Quelle größten Reichtums werden“.[45]
1918 autorisierte er den Plan, Russland nach Abtretung Polens, des Baltikums und des Kaukasus in vier unabhängige „Zarentümer“ zu teilen, nämlich Zentralrussland, Sibirien, die Ukraine sowie einen Südostbund als antibolschewistisches Gebiet zwischen der Ukraine und dem Kaspischen Meer. Diese Form der Beherrschung hätte eine „Brücke nach Zentralasien zur Bedrohung der britischen Stellung in Indien“ ergeben. Der Plan eines „Südostbundes“ stand dabei in Konkurrenz zu osmanischen Absichten.[46] Kanzler Hertling, der Livland und Estland „in gewisser Ferne als freundschaftlich uns angeschlossene Staaten“ bezeichnete, wurde von Wilhelm zurückgewiesen: „Unsinn! Das Baltikum ist eins, und ich werde sein Herr und dulde keinen Widerspruch, Ich habe es erobert und kein Jurist kann es mir nehmen!“[47]
Wilhelm sah sein protestantisches Kaisertum, vor allem im Gegensatz zum Haus „Habsburg-Parma“, zunehmend als seine Sendung an:
„Das ultrabigotte Haus Parma erstrebt eine konfessionelle Einkreisung des vom verhaßten Hohenzollernhaus regierten Deutschlands. Unter Wiens Führung, sollen im Bündnis mit ihm, Italien – durch Rückgabe von Trentino und Tirol gewonnen – Frankreich, Polen und Litauen bis ans Meer vereinigt werden! Daher Polens Selbständigkeit und die Wiederaufnahme der in Homburg beseitigten austropolnischen Lösung. Daher ein selbständiges Litauen unter katholischen Fürsten; daher der Widerstand gegen unsere Angliederung des Baltikums inklusive Liv- und Estland, die Litauen angeschlossen und katholisiert werden sollten, um uns vom Meer abzuschneiden.“
Der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, der diesen Interessen diene, sei „ein schurkenhafter Verräter, der unschädlich gemacht werden“ müsse.[48]
Sturz und Flucht in die Niederlande
Nach der gescheiterten Frühjahrsoffensive im Westen 1918, den Erfolgen der Westalliierten an der Westfront und dem drohenden Zusammenbruch des verbündeten Österreich-Ungarn verlangte die Oberste Heeresleitung am 28. September 1918, ein Waffenstillstandsgesuch an die Kriegsgegner zu richten und zugleich die Regierung des Deutschen Reichs auf eine breitere Grundlage zu stellen.[49]
In mehreren diplomatischen Noten machte US-Präsident Woodrow Wilson die Gewährung des Waffenstillstands indirekt von einer Abdankung des Kaisers abhängig. Die USA weigerten sich, vorher Friedensverhandlungen aufzunehmen. Da sie infolge von Wilsons 14-Punkte-Programm als die gemäßigtste der kommenden Siegermächte galten, fand seine Forderung Widerhall in Deutschland.
Am 30. September erging ein Erlass des Kaisers zur Parlamentarisierung.[50] Nachfolger Hertlings als Reichskanzler wurde am 3. Oktober Prinz Max von Baden. Am 16. Oktober 1918 empfahl die Fortschrittliche Volkspartei Wilhelm II. die freiwillige Abdankung. Reichskanzler Prinz Max von Baden betrieb diese seit dem 28. Oktober; am Tag darauf reiste Wilhelm auf Anraten insbesondere Friedrich von Bergs von Berlin nach Spa (Belgien). Er residierte dort im La Fraineuse und versuchte eine Pendeldiplomatie zwischen sich und der OHL (deren Sitz im Hotel Britannique war). In Anbetracht der Stimmung im Volk und der Meinung des Kabinetts hielt Wilhelm die Armee noch am ehesten für loyal. Diese Hoffnungen zerschlugen sich im Laufe des Kieler Matrosenaufstands und der Novemberrevolution. Um radikaleren Forderungen der Revolutionäre die Spitze zu nehmen, verlangten auch die Mehrheitssozialdemokraten ab dem 7. November den Rücktritt von Kaiser und Kronprinz. Am Tag darauf sprach sich auch die Zentrumspartei für die Abdankung aus.[51] Im Zuge der Novemberrevolution proklamierte gleichzeitig Kurt Eisner am 7. November 1918 in München den Freistaat Bayern und erklärte Ludwig III. als bayerischen König für abgesetzt. Damit war der erste deutsche Bundesfürst durch die Revolution vertrieben worden.
Der zu diesem Zeitpunkt politisch paralysierte Monarch sah sich nun mit drei Optionen konfrontiert. General Wilhelm Groener vertrat, auch gestützt auf das Ergebnis einer Befragung von 39 Generälen und Regimentskommandeuren, die Auffassung, das Heer sei nicht mehr in der Hand der Befehlshaber; ein militärisches Vorgehen gegen die Revolution sei zwar wünschenswert, aber vorerst unmöglich, insbesondere mit dem Kaiser an der Spitze. Groeners Analyse, die implizit nahelegte, dass der Kaiser verschwinden müsse, wurde – nach dem Krieg eine ständige Quelle der Verlegenheit – de facto von Hindenburg gedeckt und fand in Paul von Hintze und Werner Freiherr von Grünau zwei energische Fürsprecher, die auch die „Holland-Lösung“ ins Gespräch brachten. Eine andere Gruppe um General Friedrich Graf von der Schulenburg, Stabschef der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz, hielt dagegen einen „Marsch auf Berlin“, also die militärische Zerschlagung der Revolution, für durchführbar. Dieser Position neigte zunächst auch Wilhelm zu. Die dritte Möglichkeit wurde von der militärischen Entourage des Kaisers nur in Andeutungen ausgesprochen: Der Monarch solle sich „nach vorn“, also zur Front begeben, um dort den Tod zu suchen. Eine solche Geste würde, so die Spekulation vor allem jüngerer Generalstabsoffiziere, einen völligen Meinungsumschwung zugunsten der Dynastie bzw. der Monarchie als Institution herbeiführen. Vorbereitungen für ein derartiges Unternehmen hatten Groener und Major Joachim von Stülpnagel, der Chef der Operationsabteilung der OHL, bereits getroffen.[52]
Die letzte, von den Ereignissen bereits überholte Initiative Wilhelms war der am späten Vormittag des 9. November gefasste Entschluss, zwar als Kaiser, nicht aber als preußischer König abzudanken.[53] Die Revolution hatte mittlerweile Berlin erfasst. Während in Spa an einer Abdankungsurkunde gearbeitet wurde, traf die Nachricht ein, dass Max von Baden die Abdankung Wilhelms als Kaiser und König bekanntgegeben habe. Nach Ansicht des Historikers Lothar Machtan ging diese Eigenmächtigkeit des Prinzen Max auf eine „Hintertreppenpolitik“ Groeners zurück, der ihm am Vormittag telefonisch mitgeteilt hatte, Wilhelms Verzicht auf beide Throne stünde unmittelbar bevor, er könne sie „ruhig bekannt geben“. Die verbreitete Ansicht, Prinz Max habe durch dieses Manöver in letzter Minute versucht, den revolutionären Druck zu kanalisieren und die faktisch schon nicht mehr bestehende Monarchie als solche zu retten, sei unglaubwürdig, da die Revolution bereits Berlin erreicht hatte.[54] Am Vormittag desselben Tages bat Max von Baden den Vorsitzenden der MSPD Friedrich Ebert das Amt des Reichskanzlers zu übernehmen. Kurz darauf riefen Philipp Scheidemann (SPD) und Karl Liebknecht (Spartakusbund) die Republik aus.
Da Gerüchte umliefen, dass die Mannschaften in der Umgebung des Hauptquartiers nicht mehr zuverlässig seien, übersiedelte der Kaiser am Abend des 9. November in den Hofzug und fuhr am frühen Morgen des nächsten Tages ab, nachdem von „anmarschierenden Aufständischen“ berichtet worden war. In der Nähe des niederländischen Ortes Eijsden (südlich von Maastricht) bat er die Niederlande um politisches Asyl. Durch Vermittlung der niederländischen Regierung (Kabinett Beerenbrouck I unter Ministerpräsident Charles Ruijs de Beerenbrouck) fanden Wilhelm II. und sein Gefolge Unterkunft bei Graf Godard von Bentinck im Schloss Amerongen.[55]