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Der Codex Sinaiticus (im Alten Testament von Rahlfs-Hanhart bezeichnet als S, im Neuen Testament von Gregory-Aland bezeichnet als א oder 01) ist eine fragmentarisch erhaltene Vollbibel (ein Pandekt) aus dem 4. Jahrhundert. Der Codex enthält etwa die Hälfte des griechischen Alten Testaments (Septuaginta) und das ganze griechische Neues Testament, dessen älteste vollständig erhaltene Abschrift er darstellt. Am Ende des Codex finden sich außerdem zwei frühchristliche Schriften, die zur Gruppe der Apostolischen Väter gerechnet werden: der Barnabasbrief und Der Hirte des Hermas. Unverwechselbar ist der Codex Sinaiticus durch sein großes Format mit vier Kolumnen pro Seite, durch die hohe Qualität des Beschreibmaterials Pergament und durch die zahlreichen Korrekturen, die über einen langen Zeitraum in diesem Codex angebracht wurden.
Unzial 01 | |
---|---|
Matthäusevangelium (Mt 8,28-9,23) | |
Name | Sinaiticus |
Zeichen | א |
Text | Altes Testament, Neues Testament, Barnabasbrief, Hirte des Hermas |
Sprache | Griechisch |
Datum | 4. Jahrhundert |
Gefunden | Sinai 1844 |
Lagerort | British Library, Universitätsbibliothek Leipzig, Katharinenkloster, Russische Nationalbibliothek |
Quelle | Scot McKendrick u. a. (Hrsg.): Codex Sinaiticus – New Perspectives on the Ancient Biblical Manuscript, London/Peabody 2015 |
Größe | 38 × 34,5 cm |
Typ | alexandrinischer Texttyp |
Kategorie | I |
Eine „romantische Fundgeschichte“ (Kurt und Barbara Aland), die im Einzelnen nicht nachprüfbar ist, erzählte Tischendorf selbst; demnach entdeckte er 1844 in einem Abfallkorb der Bibliothek des Katharinenklosters auf dem Sinai 129 Blätter des Codex und durfte 43 davon nach Leipzig mitnehmen und dort publizieren. Der Hauptteil des Codex mit dem gesamten Neuen Testament, insgesamt 347 Blätter, wurde ihm 1859 ausgehändigt: einerseits nur leihweise, um davon eine Abschrift anzufertigen und diese zu publizieren, andererseits de facto dauerhaft im Vorgriff auf eine Schenkung des Codex durch die Sinaitische Bruderschaft an den Zaren Alexander II. Nachdem diese Schenkung 1869 erfolgt war, verblieb der 1859 bekannt gewordene Hauptteil des Codex in Sankt Petersburg und wurde von der Sowjetregierung 1933 für 100.000 £ nach Großbritannien verkauft. Seitdem befindet sich dieser Teil des Codex in der British Library. Im Jahr 1975 kamen Neufunde im Katharinenkloster hinzu. Seit 2009 sind alle bekannten Teile des Codex, die im Sinaikloster, in Leipzig, Sankt Petersburg und London aufbewahrt werden, im Internet wiedervereinigt und vollständig einsehbar.
Der Codex Sinaiticus repräsentiert zusammen mit dem Codex Vaticanus und dem Papyrus 75 den alexandrinischen Texttyp. Er steht aber nach dem Urteil von Kurt und Barbara Aland aufgrund seiner Singulärlesarten und Flüchtigkeitsfehler deutlich hinter dem Vaticanus zurück.[1]
Hat der Leser den aufgeschlagenen Codex Sinaiticus vor sich, so sieht er auf einer Doppelseite acht schmale Kolumnen Text, umgeben von breiten Margen. Das erinnert optisch an eine geöffnete Buchrolle. Schmale Kolumnen waren ein Qualitätsmerkmal bei Schriftrollen. Sie erleichterten das Lesen, da das Auge problemlos vom Ende einer Zeile zum Beginn der nächsten springen konnte. Das Pergament ist sehr fein und dünn, hell und von ausgezeichneter Qualität. Zum edlen Eindruck tragen die breiten Margen bei: am Beschreibmaterial wurde nicht gespart. Die Majuskelschrift hat einen hohen ästhetischen Reiz. Praktisch für den gottesdienstlichen Vortrag war das übergroße und gewichtige Buch allerdings nicht. Strukturierende Elemente wie Initialen oder Paragraphen fehlen weitgehend; die vielen Korrekturen sind für den Leser störend.[2]
Der Codex Sinaiticus wie auch die anderen großen Bibelcodices des Spätantike „spiegeln die seit der Zeit Konstantins … verfügbaren finanziellen Ressourcen und zugleich einen Bedarf an repräsentativen Textausgaben.“[3] Umstritten ist, ob die Herstellung dieses Codex direkt mit einer Maßnahme Kaiser Konstantins († 337) in Verbindung gebracht werden kann, über die Eusebius von Caesarea berichtete. Eusebius zitierte aus einem Brief des Kaisers an ihn:
„[Ich wünsche,] dass du fünfzig Pergamentcodices herstellen und sie von Kalligraphen, die ihr Handwerk verstehen, schreiben lässt, so dass sie leicht zu lesen und bequem für den Gebrauch zu transportieren sind, natürlich von den heiligen Schriften, deren Anfertigung und Gebrauch für die Verkündigung der Kirche notwendig ist.“
In Caesarea Maritima befand sich eine berühmte Bibliothek. Hier hatte der bedeutendste christliche Gelehrte des 3. Jahrhunderts, Origenes, gearbeitet. Es gibt daher die Hypothese, dass Sinaiticus und Vaticanus zu den von Eusebius erwähnten fünfzig Prachtcodices gehörten und in Caesarea mit den Ressourcen der dortigen Bibliothek angefertigt wurden. James Rendel Harris fand dafür Indizien im Text des Codex Sinaiticus.[5] Diese Hypothese wurde von Timothy C. Skeat bekräftigt und seit 1938 in mehreren Publikationen ausgebaut, der den Codex nach dem Erwerb durch das British Museum (1933) zusammen mit Herbert Milne eingehend untersuchte. Skeat zufolge war es für Eusebius ehrenvoll, aber undurchführbar, dem kaiserlichen Wunsch gemäß 50 Pandekten anfertigen zu lassen; die Masse des benötigten Pergaments und die Zahl der qualifizierten Schreiber waren in Caesarea nicht verfügbar. Eusebius habe, seinen eigenen Angaben nach, zunächst drei oder vier Codices nach Konstantinopel geschickt. Der Codex Sinaiticus sei für diesen Zweck angefertigt worden, aber das große Format habe sich als Fehlgriff erwiesen. Wenn man diesen Standard setzte, mussten alle Codices so aussehen. Um ressourcensparender zu arbeiten, habe das Skriptorium des Eusebius den großen Sinaiticus halbfertig in Caesarea zurückbehalten und kleinere Codices, darunter den Vaticanus, für Konstantinopel produziert.[6] Christfried Böttrich dagegen meint, dass der Codex Sinaiticus nicht für den liturgischen Gebrauch, sondern als Mustercodex des Skriptoriums von Caesarea geschaffen und genutzt wurde – deshalb auch die vielen Korrekturen.[7]
Eine Herstellung in Caesarea ist kein Konsens. In der Einleitung seiner Faksimile-Edition des Codex Sinaiticus und deshalb breit rezipiert urteilte Kirsopp Lake 1911, „dass alle historischen, textkritischen, paläographischen und orthographischen Argumente zusammengenommen das Bild ergeben, dass der Codex ein ägyptisches Manuskript des 4. Jahrhunderts ist.“[8] Ägypten, genauer: Alexandria, ist neben Caesarea immer noch im Gespräch.[9] Doch gibt es auch skeptische Stimmen, welche die Indizien für unzureichend bzw. überbewertet halten. Barbara Aland beispielsweise erklärte es 1995 für unmöglich, den Herstellungsort von Vaticanus und Sinaiticus zu bestimmen.[10] Skeats Hypothese der Zusammengehörigkeit von Sinaiticus und Vaticanus und ihre Herstellung in Caesarea wird dagegen 2022 von Siegfried Kreuzer bekräftigt.[11]
Der Codex Sinaiticus besteht in seinen erhaltenen Teilen aus 407 Pergament-Folia, die etwa 38 cm hoch und 34,5 cm breit sind.[12] Sie wurden beschnitten und waren ursprünglich etwas größer. Der ursprüngliche Umfang des Codex wird auf 730 Blätter (Folia), bzw. 365 in der Mitte gefaltete Bögen (Bifolia) geschätzt.[13] Eine Analyse von 28 Folia mit gut erhaltener Follikelstruktur ergab, dass über 50 % sicher aus Kalbshaut hergestellt wurden, zwei aus der Haut von Wollschafen, und die übrigen waren wahrscheinlich Kalbshaut oder unidentifizierbar. Verletzungen der Tierhaut oder beim Prozess der Pergamentherstellung entstandene Mängel (etwa Verfärbungen durch Blutreste) sind seltene Ausnahme. Offensichtlich wurde auf erstklassiges Material Wert gelegt und sehr kompetent gearbeitet.[14]
Im Regelfall wurden vier Bögen (Bifolia) zu einer Lage geheftet. Die einzelnen Lagen (meist Quaternionen), aus denen sich der Codex zusammensetzt, wurden jeweils links oben auf dem ersten Blatt jeder Lage mit griechischen Zahlzeichen (= Buchstaben) nummeriert; auffälligerweise fehlt zwischen der letzten Lage des Alten Testaments (Nr. 72) und der ersten Lage des Neuen Testaments (Nr. 74) eine Quaternione. Wohl im 8. Jahrhundert wurden die Lagen noch einmal rechts oben durchnummeriert und dieser Fehler beseitigt.[15]
Nicht als Loseblattsammlung, sondern provisorisch zu Quaternionen geheftet oder geklebt, kamen die Pergamentbögen ins Skriptorium. Bevor die Schreiber ihre Arbeit begannen, wurden die Kolumnen und Zeilen durch eingestochene Löcher und eingeritzte Linien markiert, wobei unterschiedliche Werkzeuge und Markierungsweisen zur Anwendung kamen. Möglicherweise war das die Aufgabe von Assistenten, die mit dem arbeiteten, was gerade zur Hand war.[16] Der Text ist in den Prosaschriften der Bibel auf jeder Seite in vier schmalen Kolumnen zu je 48 Zeilen, in den poetischen Büchern (Buch der Psalmen bis Buch Ijob im Schlussteil des Alten Testaments) in zwei breiten Kolumnen angeordnet. Jeder Schreiber hatte also seine Quaternione vor sich, die er mit Text füllte, und es konnten nicht mehrere Personen gleichzeitig am Text einer Quaternione tätig sein.[17]
Die Schreiber benutzten rote, braune und schwarze Tinte. Während der Haupttext mit der in der Antike üblichen sepia-braunen Tinte geschrieben wurde und schwarze Tinte hauptsächlich zum Nachziehen verblasster Schriftzüge eingesetzt wurde, diente rote Tinte dazu, Psalmüberschriften und Psalmnummern, den Eusebianischen Apparat und die Nummerierung der Quaternionen im Neuen Testament hervorzuheben. Diese rote Tinte enthält Quecksilbersulfid (HgS).[18] Jeder Schreiber hatte sein eigenes Rezept für die braune Tinte, die folglich eine für ihn typische Konsistenz hat. Alle schrieben die gleiche Unziale ohne Wortzwischenräume (scriptio continua). Aber die Individualität der Schreiber zeigte sich in kleinen Unterschieden bei der Konstruktion der Buchstaben.
Am Codex Sinaiticus waren drei professionelle Schreiber A, B und D beteiligt.[19] Timothy C. Skeat merkte dazu an: „Diese Schreiber, und da können wir uns sicher sein, waren keine frommen Christen, die ein Werk der Liebe vollbrachten, sie waren nur erfahrene und fleißige Handwerker, die nach unseren Maßstäben elend schlecht bezahlt wurden.“[20] Dirk Jongkind weist aber darauf hin, dass alle drei Schreiber mit dem biblischen Text vertraut waren. Ihre Bibelkenntnis ermöglichte es ihnen, bei synoptischen Parallelen den Text zu harmonisieren. Sie hatten demnach einen christlichen Hintergrund.[21]
Skeat zufolge wurde den Schreibern ihr Text diktiert. Die Rechtschreibkenntnisse der drei waren unterschiedlich. Schreiber D blieb praktisch fehlerfrei, Schreiber A irrte häufig bei der Wiedergabe der Vokale (vgl. Itazismus), und Schreiber B agierte derart hilflos, dass Skeat sich fragt, warum er überhaupt für diese Aufgabe in Betracht kam.[22] Dass der Sinaiticus diktiert worden war, überzeugte nicht allgemein, aber Skeat hatte ein starkes Argument: B schrieb so fehlerhaft, dass schwer vorstellbar schien, seine Vorlage wäre auch so schlecht gewesen. Alphonse Dain (Les Manuscrits, Paris 1949) analysierte die Arbeit des antiken Schreibers genauer: Weil die Vorlage ohne Worttrennung geschrieben war (in Scriptio continua), musste sich der Schreiber den Text selbst vorlesen, um ihn zu verstehen und damit arbeiten zu können. Auch wenn ihm keine andere Person diktierte (wie Skeat angenommen hatte), hatte er die Vorlage vor sich und diktierte sich leise selbst – mit allen Diktatfehlern, die dabei auftreten können. Dains Modell wurde in der neutestamentlichen Textkritik breit rezipiert, unter anderem von Bruce M. Metzger.[23]
Mehrfach kam es vor, dass am Ende einer Quaternione Seiten frei blieben, beispielsweise am Ende der Kleinen Propheten, am Ende des Lukasevangeliums und am Ende des Johannesevangeliums. Diese nicht genutzten Blätter wurden herausgeschnitten.[24] Um die biblischen Bücher auf die einzelnen Quaternionen zu verteilen, konnte der Text außerdem mal gestaucht, mal gestreckt werden. Dirk Jongkind arbeitete heraus, dass die Schreiber A und D enger miteinander kooperierten als mit Schreiber B, der die Prophetenbücher im Alten Testament und den Hirten des Hermas am Ende des Codex zu schreiben hatte. Aber die Aufteilung der Arbeit untereinander verlief verglichen mit mittelalterlichen Skriptorien relativ holprig. Ein besonders deutlicher Fall ist die Auslassung des 2. und 3. Makkabäerbuchs. Hier hatte sich das Skriptorium beim Platzbedarf der einzelnen Makkabäerbücher grob verschätzt. Vielleicht war die Aufgabe, eine Vollbibel herzustellen, für das beauftragte Skriptorium so neuartig, dass in Fragen der Arbeitsaufteilung noch experimentiert wurde. Oder der Codex Sinaiticus wurde abseits der urbanen Zentren hergestellt, wo die Erfahrung mit der Erstellung eines so großen Codex fehlte.[25] Das Stauchen und Strecken von Text über mehrere Seiten hinweg, um ihn möglichst in eine Quaternione einzupassen, ist aus Jongkinds Sicht nicht mit Schreiben nach Diktat vereinbar. Denn nur wer eine schriftliche Vorlage kopiert, kann abschätzen, welche Textmenge noch kommt.[26]
Unmittelbar nach dem Schreiben des Textes wurde die älteste Schicht von Korrekturen angebracht. Das erkannte bereits Tischendorf, ohne Kriterien zur ihrer Unterschiedung zu besitzen. Nachdem Lake 1911 eine Vielzahl von Korrektoren identifiziert hatte, kamen Milne und Skeat 1938 zu dem Ergebnis, dass es die drei Schreiber selbst waren, die im Skriptorium Korrektur lasen. Dies wurde zum Ausgangspunkt der weiteren Forschung. Das Sinaiticus Project verzichtete 2009 allerdings in minimalistischer Weise darauf, die Bearbeitungen im Skriptorium verschiedenen Korrektoren zuzuweisen.[27]
Jeder Schreiber korrigierte zunächst seine eigene Arbeit. Beispielsweise zog Schreiber A nach Joh 21,24 EU zwei Zierlinien (eine Coronis) und setzte den Titel des Buchs, „Evangelium nach Johannes“, hinzu (der, wie bei allen frühen Bibelmanuskripten, nicht am Anfang, sondern am Ende des Textes genannt wurde). Dann wusch er das Pergament ab, fügte Joh 21,25 EU hinzu und wiederholte Coronis und „Evangelium nach Johannes“ weiter unten.[28]
Der beste Schreiber war D, der vor allem im Alten Testament arbeitete, aber auch korrigierend bei seinem Kollegen A eingriff, der für fast das ganze Neue Testament und einen Teil des Alten Testaments zuständig war. Beispielsweise hatte A in 1 Kor 13,1–3 EU Text ausgelassen; D korrigierte das und trug den fehlenden Text am Seitenrand nach. Am Beginn des Lukasevangeliums fand D in A’s Arbeit so viele Mängel, dass er vier von ihm selbst geschriebene Seiten anstelle von A’s Text einfügte.[29]
Interessant wird die Korrektur im Skriptorium dort, wo es nicht um Rechtschreibung und Flüchtigkeitsfehler geht, sondern eine inhaltliche Komponente hinzukommt. Bei einem klassischen Problem der neutestamentlichen Textkritik steht die Skriptoriums-Korrektur des Codex Sinaiticus im Mittelpunkt, Mk 1,1 EU: „Anfang des Evangeliums von Jesus Christus, Gottes Sohn.“ Schreiber A schrieb den kürzeren Text, bei der Korrektur wurde der hier kursive Gottessohn-Titel ergänzt – wahrscheinlich von Schreiber D, der zur Korrektur ein Exemplar des Markusevangeliums benutzte, das bei diesem Eröffnungssatz einen längeren Text bot.[30] Dass A’s Text des Markusevangeliums von D aufgrund einer abweichenden Vorlage korrigiert wurde, lässt sich auch bei Mk 12,20b EU, Mk 13,3 EU, Mk 14,22 EU und Mk 14,33 EU wahrscheinlich machen.[31]
Skeat zufolge wurde die Herstellung des Codex im 4. Jahrhundert abgebrochen.[32] Halbfertig, eine Sammlung nur provisorisch gehefteter Lagen, deshalb auch nicht transportfähig, ruhte das Manuskript etwa 200 Jahre in Caesarea Maritima. Erst im 6./7. Jahrhundert wurde es gebunden und kam wahrscheinlich bald darauf in das Sinaikloster. So das Szenario Skeats, das heute von Kreuzer vertreten wird.[33] Nach Lake überarbeiteten mehrere Korrektoren, die dem Skriptorium von Caesarea angehörten, den Codex Sinaiticus so, dass er einer Textform entsprach, die im 6./7. Jahrhundert als angemessener galt.[34] Diese Korrektorengruppe, die mittlere nach der Erstkorrektur durch die Schreiber des 4. Jahrhunderts selbst, ist für die Textkritik von besonderem Wert. Dass sie so deutlich später arbeitete als die Schreiber des Codex, ist Konsens: die Korrektoren dieser Gruppe schrieben zwar ebenso wie sie eine Unziale, aber mit späteren Buchstabenformen.
Im Textapparat des Novum Testamentum Graece wird der Codex Sinaiticus seit Konstantin von Tischendorf mit dem Sigel א (Aleph) bezeichnet, nach Gregory-Aland zusätzlich mit der Nummer 01. Die 28. revidierte Auflage (2012) bezeichnet Korrektorengruppen mit Exponenten in folgender Weise:[35]
Das Codex Sinaiticus Project verwendet andere Bezeichnungen für die Korrektoren. Textänderungen, die im Skriptorium von den Schreibern selbst angebracht wurden, werden als S1 bezeichnet, ohne hier weiter zu differenzieren. Korrektoren, die zwischen dem 5. und dem 7. Jahrhundert arbeiteten (‘c’ group), erhalten Bezeichnungen, die auf Tischendorf zurückgehen und von Lake aufgegriffen und erläutert wurden.[36] Um Schreiber und Korrektoren klarer zu unterscheiden, bezeichnet man erstere mit Großbuchstaben (A, B, D), letztere heute mit kleinen Buchstaben:
Dass der Codex sich im 7. Jahrhundert in Caesarea befand, wird mit größerer Sicherheit angenommen als seine Niederschrift dort im 4. Jahrhundert; der Grund dafür ist folgender Kolophon am Ende des Buchs Ester im Alten Testament:
„Wurde verglichen nach einem sehr alten Exemplar, verbessert von der Hand des heiligen Märtyrers Pamphilus. Am Ende dieses sehr alten Exemplars, das mit dem 1. Buch der Könige begann und mit dem Buch Esther schloss, fand sich eine eigenhändige ausführliche Anmerkung desselben Märtyrers beigeschrieben, dieses Inhalts: Verändert und verbessert nach den Hexapla des Origenes, von ihm selbst verbessert. Antoninus der Bekenner übernahm die Vergleichung; ich Pamphilus übernahm die Verbesserung der Handschrift im Gefängniss, nach Gottes reicher Gnadenfülle. Und man darf wol sagen, ein Exemplar wie dieses aufzufinden, möchte nicht leicht sein.“
Ein inhaltlich damit übereinstimmender Kolophon von der gleichen Hand findet sich am Ende von 2 Esdras. Pamphilus († 304), Hexapla und Origenes († 253/254): alles weist auf die Bibliothek von Caesarea. Der Korrektor, der einige historische alttestamentliche Bücher im Codex Sinaiticus im 7. Jahrhundert nach dem von Pamphilus verbesserten Exemplar durchkorrigierte, wird im Codex Sinaiticus Project als cpamph bezeichnet (in älterer Literatur: Cpamph). Pete Myers untersuchte die Art dieser Korrekturen im 2. Esdrasbuch, das dem hebräischen Esra-Nehemia-Buch entspricht. Er machte sich zunutze, dass die griechische Transkription hebräischer Namen in der Septuaginta Moden folgt und daher ein Indikator für unterschiedliche Vorlagen sein kann. Myers zufolge ist die Wiedergabe hebräischer Namen durch cpamph so nah bei der Vokalisierung des hebräischen Konsonantentextes durch die Masoreten wie sonst keine Septuaginta-Version; das passt zur Angabe des Kolophons, dass cpamph ein Exemplar der Hexapla als Vorlage benutzte. Das macht cpamph zu einem interessanten Zeugen für die Vokalisierung des Hebräischen in Origenes’ Hexapla.[37]
Während der Haupttext des Codex Sinaiticus in den meisten Septuaginta-Büchern dem Codex Vaticanus nahesteht, spiegeln die Korrekturen von ca im Alten Testament eine ältere Texttradition: „Manche Korrekturen scheinen einen hexaplarischen Text vorauszusetzen, andere sind nahe beim lukianisch/antiochenischen Text.“[38]
Korrektor ca versuchte, den ganzen Text des Codex Sinaiticus „auf eine Version hin auszurichten, die ihm bekannter war.“[39] Ein Beispiel hierfür sind die Worte des gekreuzigten Jesus Lk 23,34 EU: „Jesus aber sagte: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Schreiber A, der im Lukasevangelium tätig war, schrieb diesen Satz; ca strich ihn; cb2 stellte A’s Text wieder her.[40]
Amy Myshrall vertritt die These, dass hinter cpamph und ca die gleiche Person steht.
Der Codex Sinaiticus enthält Spuren davon, dass er bis ins 12. Jahrhundert genutzt wurde. Für die Textkritik sind diese jüngeren Einträge von untergeordneter Bedeutung. Sie sind aber aufschlussreich für die Geschichte des Codex nach seiner Korrektur und Bindung im 6./7. Jahrhundert. Einige Glossen in arabischer Sprache belegen, dass der Codex im nunmehr islamisch regierten östlichen Mittelmeerraum verblieb. Marginalglossen mit den Namen der Mönche Hilarion, Dionysios und Theophylakt dokumentieren, dass er in einem griechischsprachigen christlichen Kloster aufbewahrt wurde.[41] Beides passt sehr gut auf das Katharinenkloster.[42] Da Kaiser Justinian im 6. Jahrhundert die Theotokos-Kirche des Sinaiklosters stiftete, könnte man meinen, dass er den Mönchen bei dieser Gelegenheit auch einen Prachtcodex als Buch für die liturgischen Lesungen schenkte. Das ist allerdings unwahrscheinlich, denn dazu hätte Justinian den Codex Sinaiticus in seinem Besitz haben müssen, und außerdem sollte ein Buch für den liturgischen Gebrauch weniger klobig und klarer strukturiert sein. Christfried Böttrich vermutet deshalb: „Der Codex kam nicht im 6. Jahrhundert als kaiserliches Geschenk auf den Sinai, sondern im 7. Jahrhundert als ein Asylsuchender aus Palästina.“[43] Caesarea wurde 638/640 von Arabern erobert. Das war das Ende der berühmten Bibliothek, und wahrscheinlich versuchten Christen, so viele Bücherschätze wie möglich in Sicherheit zu bringen. Der Mustercodex aus Caesarea wurde von den Mönchen des Sinaiklosters aufbewahrt. Die Majuskelschrift war bereits altertümlich und wurde wenig später durch die Minuskelschrift ersetzt, so dass der Codex für sie schwer zu lesen war. Trotzdem zeigen die Marginalglossen, dass das Buch noch lange benutzt wurde. Durch Buchgeschenke und eigenes Skriptorium wuchs die Klosterbibliothek rasch. Ob der Codex Sinaiticus dem Bibelstudium der Mönche diente oder in Büchern des Sinai-Skriptoriums daraus zitiert wurde, ist unbekannt.[44]
Die erste Erwähnung des Codex Sinaiticus findet sich wahrscheinlich im Bericht des italienischen Naturforschers und Reisenden Vitaliano Donati. Er sah 1761 im Katharinenkloster „eine Bibel mit schönen großen, dünnen und quadratischen Pergamentseiten, geschrieben in einer fließenden und schönen Schrift.“[45]
Hier eine Übersicht der ehemals vorhandenen Bücher und der erhaltenen Teile des Codex Sinaiticus mit dem jeweiligen Aufbewahrungsort:[46]
Lage | Buch | Erhaltener Text | Heutiger Aufbewahrungsort |
---|---|---|---|
3 | Genesis | Gen 23,19–24,19;
Gen 24,25–46 (fragmentarisch) |
Russische Nationalbibliothek, Sankt Petersburg |
Exodus | – | ||
10 | Levitikus | Lev 20,27–22,30 | Bibliothek des Katharinenklosters (Sinai) |
11 | Numeri | Num 5,26–6,18;
Num 6,22–7,20 (fragmentarisch) |
Russische Nationalbibliothek, Sankt Petersburg |
12 | Num 16,7–20,28;
Num 23,22–26,2 |
Bibliothek des Katharinenklosters (Sinai) | |
13; 15 | Deuteronomium | Dtn 3–4 (fragmentarisch)
Dtn 28,68–30,16 | |
17 | Josua | Jos 12,2–14,2 (fragmentarisch) | |
18 | Richter | Ri 4,7–11,2 | |
Rut | – | ||
1–4 Königtümer (= 1./2. Samuel, 1./2. Könige) | – | ||
34–35[47] | 1 Chronik | 1 Chr 9,27–11,22 | British Library, London |
29 | 1 Chr 11,22–19,17 | Universitätsbibliothek, Leipzig | |
2 Chronik | – | ||
1 Esdras | – | ||
35–36 | 2 Esdras (= Esra-Nehemia) | 2 Esdras 9,9–23,30 | Universitätsbibliothek, Leipzig |
36
37 |
Ester | komplett | |
37 | Tobit | Tob 1,1–2,2 | |
37–38 | Tob 2,2–14,15 | British Library, London | |
38 | Judit | Jdt 1,1–11,13 | |
38 | Jdt 11,23–12,3
Jdt 12,5–9.11–13.14–16 |
Russische Nationalbibliothek, Sankt Petersburg | |
39 | Jdt 13,9–16,25 | British Library, London | |
39–41 | 1 Makkabäer[48] | komplett | |
42 | 4 Makkabäer | komplett | |
43–46 | Jesaja | komplett | |
46 | Jeremia | Jer 1,1–10,25 | |
47–49 | Jer 10,25–52,34 | Universitätsbibliothek, Leipzig | |
49 | Klagelieder | Klgl 1,1–2,20 | |
Baruch und Brief Jeremias | – | ||
Ezechiel | – | ||
Daniel | – | ||
Hosea, Amos, Micha | – | ||
57–58 | Joel, Obadja, Jona, Nahum, Habakuk, Zefanja, Haggai, Sacharja, Maleachi | komplett | British Library, London |
59–64 | Buch der Psalmen[49] | komplett | |
64–65 | Sprichwörter | komplett | |
65–66 | Kohelet | komplett | |
66 | Hoheslied | komplett | |
66–67 | Weisheit Salomos | komplett | |
68–71 | Sirach | komplett | |
71–72 | Ijob | komplett | |
74–81 | Matthäus, Markus, Lukas, Johannes | komplett | |
82–85 | Paulusbriefe: Römer, 1./2. Korinther, Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, 1./2. Thessalonicher | komplett | |
85–86 | Hebräerbrief | komplett | |
86 | Paulusbriefe: 1./2. Timotheus, Titus, Philemon | komplett | |
86–88 | Apostelgeschichte | komplett | |
89 | Katholische Briefe: Jakobus, 1./2. Petrus, 1./2./3. Johannes, Judas | komplett | |
90–91 | Johannesoffenbarung | komplett | |
91–92 | Brief des Barnabas | komplett | |
93 | Hirte des Hermas | vis. 1–5
mand. 1–4 (fragmentarisch) | |
93 | mand. 2–4 (fragmentarisch) | Russische Nationalbibliothek, Sankt Petersburg | |
95 | sim. 6
sim. 7,1–2 sim. 8,14–16.18 |
Bibliothek des Katharinenklosters (Sinai) |
Ebenso wie der Codex Alexandrinus und im Gegensatz zum Codex Vaticanus und vielen späteren christlichen Bibelausgaben ordnet der Codex Sinaiticus die poetischen Schriften (Buch der Psalmen bis Ijob) nach den Prophetenbüchern ein. Ebenso wie die jüdische Tradition folgen die Kleinen Propheten nach den Großen Propheten. Ganz ungewöhnlich ist die Positionierung von Ijob am Ende des Alten Testaments.
Generell gilt der Codex Vaticanus als wichtigster Zeuge des Septuagintatextes, wie er vor der Rezension des Origenes (Hexapla) bestand. In den prophetischen und poetischen Büchern steht der Sinaiticus dem Vaticanus sehr nahe. Bei 2 Esdras (= Esra-Nehemia-Buch) hat der Sinaiticus „einen weitgehend unrezensierten Text, während andere Bücher auch hexaplarisch beeinflusst sind.“[50] Im Buch Tobit ist der Sinaiticus Hauptzeuge für die Langfassung (GII)[51]
Da die Makkabäerbücher im Codex Vaticanus fehlen, rückt der Codex Sinaiticus neben dem Codex Alexandrinus und dem Codex Venetus (8. Jahrhundert) zum Hauptzeugen für den Text des 1. Makkabäerbuchs auf. Diese drei Codices stehen sich sehr nahe; eine gemeinsame griechische Vorlage wird vermutet.[52] Für das in der Antike sehr beliebte 4. Makkabäerbuch sind Sinaiticus und Alexandrinus die Hauptzeugen, die aber keine gemeinsame Gruppe bilden. Während die Standardausgabe des Septuaginta-Textes von Rahlfs/Hanhart einen eklektischen Text auf Grundlage dieser beiden Majuskeln bietet, kommentierte David de Silva das 4. Makkabäerbuch in der Fassung des Sinaiticus, welche ein „etwas lebendigeres und dynamischeres“ Leseerlebnis ermögliche als die Edition von Rahlfs/Hanhart.[53]
Der Sinaiticus-Text des Neuen Testaments wird von Bruce Metzger im Wesentlichen zum alexandrinischen Texttyp gezählt, mit einem deutlichen Einschlag des westlichen Texttyps, so zu Beginn des Johannesevangeliums (Joh 1,1 bis 8,38). Der Codex Sinaiticus enthält zahlreiche Singulärlesarten und Flüchtigkeiten. Der Codex lässt ebenso wie der Vaticanus die Doxologie nach dem Vaterunser in Mt 6,13 EU aus, in beiden fehlt Mt 16,2–3 EU; Mt 17,21 EU; Mk 9,44–46 EU; Mk 16,8–20 EU; Joh 5,3–4 EU; Joh 7,53 EU bis Joh 8,11 EU.[54] Im Text des Neuen Testaments fehlen Verse, die in anderen Handschriften vorkommen:[55]
Schwerwiegende textkritische Probleme bereitet die Johannesoffenbarung. Der Codex Vaticanus fällt hier aus, da er für dieses biblische Buch einen im Spätmittelalter ergänzten Text bietet. Die Papyri können nur bei einzelnen Versen klärend herangezogen werden. So wurden die Codices Sinaiticus und Alexandrinus zu Hauptzeugen für den gesamten Text der Offenbarung. Der Sinaiticus bietet allerdings „oftmals einen korrigierten Text, der über weite Strecken keinen guten Eindruck hinterlässt.“[58] Es gibt im Sinaiticus eine bunte Vielfalt inhaltlicher Korrekturen, die wohl nicht von den Schreibern A und D spontan erfunden wurden, sondern bereits in einer Vorlage standen. Sie passen den Text der Johannesoffenbarung der Frömmigkeit, Liturgie, Christologie und Engellehre der Spätantike an. Beispielsweise wird der Thron Gottes in Offb 4,3 EU nicht von einem Regenbogen, sondern von Priestern umgeben.[59]
Zwei der vier Pandekten des 4./5. Jahrhunderts enthalten zusätzlich zum Neuen Testament Schriften, die heute zur Gruppe der Apostolischen Väter gerechnet werden: Barnabasbrief und Hirte des Hermas im Codex Sinaiticus, 1. und 2. Clemensbrief im Codex Alexandrinus. Oft wird angenommen, dass diese Schriften von den Kreisen, die hinter der Herstellung dieser Codices standen, auch als kanonisch betrachtet wurden.[60] Bereits Tischendorf sah das so. Die Gegenposition vertritt beispielsweise Bruce M. Metzger. Demnach sind Barnabasbrief und Hirte des Hermas im Sinaiticus ein Anhang zum Neuen Testament.[61] Kodikologisch und paläographisch gibt es keine Signale dafür, dass Barnabasbrief (geschrieben von A) und Hirte des Hermas (geschrieben von B) als Anhang betrachtet werden sollten; die Schreiber benutzten das gleiche Layout wie bei anderen von ihnen kopierten Büchern. Eine geringere Bedeutung lässt sich indirekt aus zeitgenössischen Kanonlisten einerseits, ihrer Endstellung im Codex Sinaiticus andererseits (entsprechend auch 1./2. Clemensbrief im Codex Alexandrinus) ableiten.[62]
Für den griechischen Text des Barnabasbrief bildet der Codex Sinaiticus einen von vier Hauptzeugen; die anderen sind der Codex Hierosolymitanus (11. Jahrhundert), der Codex Vaticanus graecus 859 (11. Jahrhundert) und die lateinische Übersetzung. Da diese vier Zeugen oft voneinander abweichen und ihr Verhältnis zueinander unklar ist, unterscheiden sich die kritischen Ausgaben dieser frühchristlichen Schrift; teilweise wird eine diplomatische Edition eines der Textzeugen bevorzugt.[63]
Die umfangreiche, im Original griechische frühchristliche Schrift Hirte des Hermas war nur in einem Katenen-Fragment und in lateinischer Übersetzung bekannt, bis der Fälscher Konstantinos Simonides 1855 einige Blätter im Athos-Kloster Moni Grigoriou fand, die er zusammen mit Abschriften weiterer Textabschnitte, die er auf dem Athos kopiert haben wollte, der Universitätsbibliothek Leipzig verkaufte. In den 1880er Jahren wurden die Originale auf dem Athos verglichen; es handelt sich um eine Handschrift des 15. Jahrhunderts oder später. Die Publikation des allerdings fragmentarischen Hirten des Hermas (etwa ein Drittel des gesamten Textes) im Codex Sinaiticus durch Tischendorf gab erstmals die Möglichkeit, den Athos-Text zu überprüfen. Molly Whittaker urteilt: „Die Überlegenheit des Sinaiticus über den Athos-Kodex ist offensichtlich und allgemein anerkannt. Er gibt an so vielen Stellen das Richtige, wo A geglättet oder geändert hat, daß seine Vorzüge durch diese Folie nur noch glänzender hervortreten.“[64]
Die vier Institutionen, die Teile des Codex Sinaiticus besitzen, vertreten unterschiedliche Interpretationen der Entdeckungsgeschichte und deshalb auch der Eigentumsrechte. Im Folgenden wird ein englischer Text referiert, dem allen vier Partner des Codex-Sinaiticus-Projekts als derzeitigem Rahmen historischer Referenz zugestimmt haben.[65]
Der Leipziger Neutestamentler Konstantin (von) Tischendorf befand sich Frühjahr 1844 auf einer Bibliotheksreise im Orient und besuchte des Katharinenkloster. Zwischen dem 24. Mai und dem 1. Juni 1844 zeigten die Mönche ihm 129 Blätter aus dem alttestamentlichen Teil des Codex Sinaiticus. Die Art der Übersetzung und die Buchstabenformen ermöglichten Tischendorf die Datierung auf die Mitte des 4. Jahrhunderts. Nach Tischendorfs eigener Darstellung, die die einzige Quelle hierzu ist, wurden ihm 43 der Blätter vom Kloster überlassen. Im Januar 1845 traf Tischendorf mit den bei seiner Bibliotheksreise zusammengetragenen Manuskripten wieder in Leipzig ein. Die 43 Blätter des Codex Sinaiticus veröffentlichte er 1846 zu Ehren des Unterstützers seiner Reise, des Königs Friedrich August II. von Sachsen, unter dem Titel Codex Frederico-Augustanus. Den Fundort dieser alten Handschrift gab Tischendorf aber nicht preis, sondern beschrieb ihn vage als „von einem Kloster im Morgenlande.“ Die 43 Pergamentblätter des Codex werden bis heute in der Leipziger Universitätsbibliothek aufbewahrt.
Nach 1844 wurden mehrere Besichtigungen des Codex durch Besucher des Katharinenklosters dokumentiert. Porfiri Uspenski, Archimandrit des Mariä-Heimgangs-Klosters in Odessa und Leiter des Geistlichen Seminars in Cherson, unternahm zwischen 1843 und 1853 Orientreisen, einerseits um eine russische Mission in Jerusalem aufzubauen und andererseits, um Manuskripte und Ikonen in den Klöstern des Orients zu erwerben. In den Jahren 1845 und 1850 besuchte er das Katharinenkloster. Bei der ersten Reise wurde ihm ein griechischer Bibelcodex mit 347 Blättern vorgelegt.[66] Darin enthalten waren die 86 von Tischendorf gesichteten, aber im Kloster verbliebenen Blätter. Die Zusammengehörigkeit dieser Blätter mit dem Rest-Codex war nach Tischendorfs Besuch offensichtlich erkannt wurden, und man hatte den Codex neu gebunden.[67]
Uspenski erhielt während seines Besuchs drei Fragmente von zwei Codex-Blättern, die vorher zu Buchbindungszwecken im Kloster verwendet worden waren: ein größeres mit Text aus dem Buch Genesis und zwei kleinere, die Verse aus dem Buch Numeri enthalten. Ihre Zugehörigkeit zum Codex Sinaiticus hatte Uspenski erst nachträglich erkannt, und bei einer Begegnung mit Tischendorf gestattete Uspenski diesem die Publikation der drei Fragmente.[68] Sie wurden 1883 durch die Kaiserliche Bibliothek in Sankt Petersburg erworben, desgleichen später ein weiteres Fragment, das Tischendorf bei seinem zweiten Besuch 1853 als Lesezeichen ein einem Band mit Heiligenviten in der Klosterbibliothek entdeckt hatte.[69] Im Jahr 1911 wurde in den Beständen der Sankt Petersburger Gesellschaft für Antike Literatur ein weiteres Fragment des Codex Sinaiticus erkannt, das zur Pergamentmakulatur verwendet worden war.
Tischendorfs dritte Orientreise 1859 stand unter der Schirmherrschaft des russischen Zaren Alexander II. Gemäß seinem eigenen Bericht sah er am 4. Februar erstmals die 347 Blätter des Codex. Tischendorf war sich der erheblichen Bedeutung einer Transkription ihres vollständigen Textes für die Bibelforschung bewusst, aber auch der Schwierigkeit, diese Tätigkeit im Kloster durchzuführen. Aufgrund seiner Anfrage wurde der Codex am 24. Februar 1859 in die Kairoer Niederlassung (Metochion) des Sinaiklosters verbracht, und Tischendorf erhielt dort die Erlaubnis, während dreier Monate, von März bis Mai, die Blätter einzeln zu begutachten. Dabei bestätigte sich seine Überzeugung, die 347 Blätter seien „der kostbarste biblische Schatz, den es gab“.
Nach einigen Monaten weiterer Reisen im Mittleren Osten kehrte Tischendorf im September 1859 nach Kairo zurück und unterzeichnete dort am 16./28. September eine Empfangsbestätigung für die Ausleihe der 347 Blätter des Codex. In dem Quittungsdokument bezeichnete er den Zweck der Leihgabe damit, ihm die Mitnahme des Manuskripts nach St. Petersburg zu ermöglichen, um dort seine früheren Transkriptionen mit dem Original zu vergleichen als Vorbereitung für dessen Veröffentlichung. Er versprach darin zugleich die Rückgabe des unversehrten Codex an das Kloster, sobald dies gefordert würde, aber zugleich bezog er sich auf einen früheren Brief des damaligen russischen Botschafters bei der Hohen Pforte, Fürst Aleksej Borisowitsch Lobanow-Rostowski, an das Kloster. Dieser Brief, der im Original erhalten ist, ist auf den 10./22. September 1859 datiert. Lobanow-Rostowski erwähnte, dass die Sinaitische Bruderschaft nach Angaben Tischendorfs den Wunsch hege, den Codex als Schenkung an den Zaren zu überreichen. Da nicht vorausgesetzt werden konnte, dass die Schenkung realisiert würde, bekräftigte der Botschafter, dass bis zur Bestätigung der Schenkung das Eigentum an dem Manuskript beim Kloster bleibe, an welches das Manuskript nach dessen erster Anforderung zurückzugeben sei. Das Antwortschreiben der Sinaitischen Bruderschaft an Lobanow-Rostowski ist auf den 17./29. September datiert. Die Mönche brachten darin ihre Unterstützung für Tischendorfs Bemühungen und Ergebenheit gegenüber dem Zaren zum Ausdruck, aber sie bezogen sich nicht explizit auf die Schenkungsangelegenheit.
Erstmals veröffentlicht wurde der Text des Codex Sinaiticus im Jahr 1862 durch Tischendorf zum 1000. Jubiläum der russischen Monarchie in einer vom Zar Alexander II. finanzierten prachtvollen vierbändigen Faksimileausgabe. Tischendorf ließ eigens dazu Drucktypen anfertigen, die der Handschrift nachempfunden waren. Diese Ausgabe wurde ihrem Widmungs-Adressaten und Förderer des Transkriptionswerks, dem Zaren Alexander II., in einer formellen Audienz in Zarskoje Selo am 10. November 1862 überreicht. Bei dieser Audienz überreichte Tischendorf auch das Original des Codex, da sein wissenschaftliches Werk beendet war. Während der folgenden sieben Jahre wurde der Codex im Außenministerium in St. Petersburg aufbewahrt. Im Jahr 1869 wurde eine Schenkungsurkunde des Codex an den Zaren unterzeichnet, zuerst am 13./25. November durch den damaligen Erzbischof des Sinai, Kallistratos, und die Synaxis (Versammlung) des Kairoer Metochions, wohin der Codex 1859 gebracht worden war, und danach am 18./30. November durch Erzbischof Kallistratos und die Synaxes sowohl des Kairoer Metochions als auch des Katharinenklosters selbst. Nach dieser Schenkung kam der Codex in den Bestand der Kaiserlichen Bibliothek in Sankt Petersburg.
Diese Schlüsselereignisse können im Licht neu bekanntgewordener Dokumente unterschiedlich interpretiert werden. Bezüglich der Ausleihe ist fraglich, ob eine Schenkung an den Zaren ein Teil der ursprünglichen Absicht aller Beteiligten an der Übereinkunft von 1859 gewesen war. Mit Blick auf die zehn Jahre zwischen Manuskriptempfang und dem Akt der Schenkung wird heute offensichtlich, dass diese Periode von großer Komplexität und voller Schwierigkeiten für das Katharinenkloster war. Dem Tod des Erzbischofs Konstantios im Jahre 1859 folgte eine längere Vakanz des erzbischöflichen Stuhls. Die Sinaitische Bruderschaft wählte Kyrillos Vyzantios zum Nachfolger, aber der Patriarch von Jerusalem weigerte sich, ihn zum Erzbischof zu weihen. Diese Weihe empfing Kyrillos schließlich kirchenrechtswidrig vom Patriarchen von Konstantinopel. Er hatte damit auch die Anerkennung durch die Regierung des Osmanischen Reiches. Jedoch kurz danach führte Kyrillos’ Amtsführung zu einem Bruch mit der Bruderschaft und zu seiner Absetzung. Die Bruderschaft wählte einen neuen Erzbischof, den Konsenskandidaten Kallistratos. Dieser empfing zwar die Weihe durch den Patriarchen von Jerusalem. Aber ihm fehlte zunächst die Anerkennung durch andere Patriarchen und die osmanische Regierung. Der abgesetzte Kyrillos residierte in Konstantinopel und erhob den Anspruch, der rechtmäßige Erzbischof vom Sinai zu sein. Erst 1869 erlangte Kallistratos die Anerkennung als Erzbischof durch alle kanonischen und staatlichen Autoritäten.
Wie die russische Diplomatie auf die zeitlich parallelen Vorgänge der Nachfolgelösung für den erzbischöflichen Stuhl und der Schenkung des Codex Sinaiticus an den Zaren Einfluss nahm, wird unterschiedlich interpretiert. Es gibt Grund zu der Annahme, dass russische Diplomaten ihre Unterstützung für den neuen Erzbischof Kallistratos direkt mit der offiziellen Schenkung des Codex durch das Kloster an den Zaren verbanden. Die Sinaitische Bruderschaft betrieb in der Frage der Schenkung eine unentschlossene, hinhaltende Verhinderungspolitik, die letztlich scheiterte. Die auf den 18./30. November datierte Schenkung war die Folge.
Die definitive Publikation des Codex erfolgte durch Kirsopp Lake 1911 und 1922 bei Oxford University Press aufgrund von Fotos als Faksimile.
Im Sommer 1933 wurde in Großbritannien bekannt, dass die sowjetische Regierung unter Stalin durch den Verkauf des Codex Devisen erhalten wollte, um ihren zweiten Fünfjahresplan zu finanzieren. Mit starker Unterstützung durch den britischen Premier Ramsay MacDonald bewegten die Kuratoren des Britischen Museums das Schatzamt, 100.000 £ für die Lieferung des Codex nach London bereitzustellen. Damit verkaufte der sowjetische Staat am 27. Dezember 1933 das Manuskript über die Londoner Buchhändler Maggs Brothers an das British Museum, und es wurde dort öffentlich ausgestellt (Add. Ms. 43 725). Von der Kaufsumme waren 7.000 £ vom British Museum aufgebracht und 93.000 £ zunächst aus einem zivilen Rücklagefonds bereitgestellt worden unter der Auflage einer Spendensammlung durch das Museum, wodurch dann innerhalb von zwei Jahren in einer „gemeinschaftlichen nationalen Anstrengung“ eine Summe von 53.563 £ an den Fonds zurückgezahlt wurde.[70]
Kurz nach der Ankunft des Codex in London traf dort auch ein auf den 29. Januar 1934 datiertes Telegramm des amtierenden Erzbischofs Porphyrios vom Sinai ein. Porphyrios erklärte, das Katharinenkloster sei der alleinige rechtmäßige Besitzer des Codex. Die britische Regierung antwortete umgehend, das Kloster solle seine Ansprüche gegenüber der Sowjetregierung geltend machen. Der Museumsdirektor Sir George Hill veranlasste eine juristische Überprüfung der Vorgänge zwischen 1859 und 1869. Diese war dadurch eingeschränkt, dass es keinen Zugang zu den sowjetischen Archiven gab. Britische Gutachter bestätigten die Rechtmäßigkeit des Ankaufs. Die Öffentlichkeit nahm diese Kontroverse kaum wahr und diskutierte die sicherlich unbeabsichtigte russische Zurückbehaltung eines kleinen Fragments von einem der 347 Blätter, die 1869 in die Kaiserliche Bibliothek gelangt waren.
Nachdem der Codex 1933 ins British Museum gekommen war, wurde er von dortigen Paläographen gründlich untersucht, unter anderem mit Ultraviolett-Lampen. H. J. M. Milne und Th. Skeat gaben mit Scribes and Correctors of Codex Sinaiticus die Ergebnisse 1938 heraus, die zusätzliche Informationen über den Codex erbrachten.[71]
Am 26. Mai 1975 entdeckte der Skevophylax des Klosters, Vater Sophronios, in einem mit Schutt und Abfällen gefüllten Raum unterhalb der St.-Georgs-Kapelle an der Nordostmauer des Katharinenklosters Fragmente von rund 1200 Manuskripten und Drucken, die jüngsten vom Beginn des 18. Jahrhunderts. Dabei scheint es sich um ein altes Lager für schadhafte und unbrauchbare Bücher in Nachbarschaft zur alten Sakristei gehandelt zu haben. Als 1734 unter Erzbischof Nikephoros die Klosterbibliothek eingerichtet wurde und die bis dahin an verschiedenen Orten im Kloster aufbewahrten Bücher dort zusammengeführt wurden, wurde dieses Depot alter Bücher nicht ausgeräumt. Nachdem griechische Wissenschaftler, darunter Panayotis Nikolopoulos als Kurator der Handschriftenabteilung der Nationalbibliothek von Athen, die Funde untersuchten und einzelne Informationen in der internationalen Presse erschienen, stellte Erzbischof Damianos die Neufunde auf dem Byzantinistenkongress im Oktober 1981 in Wien offiziell vor. Kurt und Barbara Aland hatten mit weiteren Mitarbeitern aus dem Institut für Neutestamentliche Textforschung im Mai und Juni 1982 exklusiv die Gelegenheit, die neuen Fragmente zu begutachten, sie zu analysieren und zu fotografieren.[72] Über die Anzahl der Blätter, die sich unter diesen Neufunden dem Codex Sinaiticus zuordnen lassen, kursierten jahrelang verschiedene Angaben. Heute geht man von 18 vollständigen oder fragmentarischen Blättern dieses Codex aus und ordnet einige kleine schwer identifizierbare Fragmente diesen 18 Blättern zu.
So sind heutzutage im Kloster des Sinai – zumindest – achtzehn Blätter in Gänze oder in Fragmenten vorhanden, die entweder aus dem neuen Fund 1975 stammen oder aus Buchbindungen von Manuskripten, in denen sie von Zeit zu Zeit verwendet worden waren.[73]
Ein Fragment wurde 2009 von einem britischen Doktoranden[74] und Mitglied des St. Catherine’s Library Project–Teams auf einem Foto von früheren Buchbindungen im Kloster entdeckt, die im 18. Jahrhundert durchgeführt worden waren. Auf der Innenseite des rechten Buchdeckels des Bandes Sinaiticus graecus 2289 aus dem späten 17. bis frühen 18. Jahrhundert waren Pergament-Fragmente eines Manuskripts in griechischer Unzial-Schrift, angeordnet in schmalen Spalten von 13 bis 15 Buchstaben pro Zeile, zu sehen. Der Bibliothekar des Klosters, Vater Justin, untersuchte den Band und bestätigte, dass die Fragmente zum Codex Sinaiticus gehörten: Buch Josua Kap. 1 Vers 10. Die Schrift war durch den Buchbindungsprozess teilweise zerstört. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Pergamentblätter als Material zum Buchbinden wiederverwendet wurden (Pergamentmakulatur).
Im Dezember 2006 wurde ein Gemeinschaftsprojekt der British Library, der Universitätsbibliothek Leipzig, der Russischen Nationalbibliothek und des Katharinenklosters vorgestellt, den gesamten Codex zu digitalisieren, im Internet zur Verfügung zu stellen und als Faksimile zu publizieren. Im Mai 2008 wurden 43 digitalisierte Seiten veröffentlicht, seit dem Juli 2009 ist der gesamte Codex online.[75] Das Projekt ist finanziert durch verschiedene Institutionen, unter anderen von The Arts and Humanities Research Council, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Stavros S. Niarchos Foundation. Neben den genannten Partnern arbeiteten das Institute for Textual Scholarship and Electronic Editing (ISEE), University of Birmingham, das Institut für neutestamentliche Textforschung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, das Göttinger Digitalisierungszentrum Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, die Society of Biblical Literature, Atlanta und viele Einzelpersonen mit.[76] Es umfasste die Konservierung, die Digitalisierung, Transkription[77] und Dokumentation im Internet.
Die Konservierung beschränkte sich auf das für das Fotografieren Erforderliche. Die Blätter wurden einzeln physisch analysiert und die Ergebnisse in einer mehr als 300 Kategorien umfassenden Datenbank dokumentiert. Für die Ergebnisbeschreibung wurde eine international verständliche Terminologie entwickelt. Mit nicht-destruktiven Techniken wurden die Tintenarten, die Präparierung der noch unbeschriebenen Blätter sowie die Tierarten analysiert, deren Haut als Pergament verwendet worden war.[78]
Die Entdeckung des Codex Sinaiticus fiel in eine Zeit, in der sich ein breiter Konsens in der neutestamentliche Wissenschaft etabliert hatte, den Textus receptus durch etwas Besseres zu ersetzen.[79] Der Textus receptus war jener altüberlieferte Text des griechischen Neuen Testaments, der durch die Mehrheit der späten Manuskripte bezeugt wurde. Als seit Beginn des 16. Jahrhunderts die ersten Drucke des Neuen Testaments erschienen, griffen die humanistischen Gelehrten auf diese späten Manuskripte als Vorlage zurück, denn Alternativen waren nicht bekannt. Der Textus receptus wird daher auch durch das Novum instrumentum omne des Erasmus von Rotterdam repräsentiert. So wurde er zur Textgrundlage der Bibelübersetzungen der Reformationszeit.
Wenn an dessen Stelle nun eine wissenschaftliche Edition auf Grundlage der frühen Majuskelhandschriften treten sollte, so warf das die Frage auf, wie man diese spätantiken Codices gewichten sollte. Anfangs stand der Codex Alexandrinus in höchstem Ansehen, und es bot sich an, ihn zur Grundlage des Obertextes zu machen und die abweichenden Lesarten des Codex Bezae Cantabrigensis im Apparat zu verzeichnen. Dass die Bedeutung des Codex Vaticanus lange nicht erkannt wurde, hängt damit zusammen, dass er in der Vatikanischen Bibliothek für die Forschung weit schlechter zugänglich war als die Codices Alexandrinus (in London) und Bezae Cantabrigensis (in Cambridge). Die Textkritik stützte sich auf (Teil-)Kollationen der Handschriften und nicht immer zuverlässige Drucke von Transkriptionen. Je mehr der Vaticanus erforscht wurde, desto mehr zeichnete sich ab, dass er dem Alexandrinus überlegen war.[80] Johann Leonhard Hug untersuchte den Codex Vaticanus 1809, als dieser nebst anderen Schätzen des Vatikans in Paris ausgestellt wurde, und erklärte als erster öffentlich, dieses spätantike Manuskript verdiene den höchsten Rang.[81] Aber dann kehrte der Codex in die Bibliothek des Vatikan zurück. Die Forschungsmöglichkeiten waren dort stark eingeschränkt. Noch immer stand eine zuverlässige Edition des Vaticanus nicht zur Verfügung – und in dieser Situation tauchte unter spektakulären Umständen der bisher unbekannte Codex Sinaiticus auf und wurde durch Tischendorfs Edition eher als der Vaticanus für die Forschung zugänglich.[82] Dass sich der Text des Sinaiticus und des Vaticanus nahestehen, war schnell klar. Das Verhältnis beider ist komplex und wurde beispielsweise von Brooke Foss Westcott und Fenton John Anthony Hort (The New Testament in the Original Greek, Introduction, 1881) diskutiert. Edward Ardron Hutton legte 1911 eine Übersicht wichtiger Textvarianten vor (Atlas of Textual Criticism), die zeigte, dass Sinaiticus und Vaticanus in 70 % der Fälle übereinstimmten. Herman Charles Hoskier arbeitete 1914 die zahlreichen Unterschiede beider Codices in den Evangelien heraus (Codex B and Its Allies: A Study and an Indictment) und urteilte, die Unterschiede seien dadurch entstanden, dass beide Codices redigiert worden seien. Diese frühen Studien machten das Problem der Forschung deutlich: Wo immer Sinaiticus und Vaticanus zusammengehen, spricht das stark für eine frühe Lesart – wo sie differieren, muss abgewogen werden. Tischendorf selbst, begeistert von seiner Entdeckung, setzte in der letzten Edition seines Novum Testamentum Graece ganz auf den Sinaiticus. Dass er ihn stark überbewertete, ist Konsens. Westcott-Hort dagegen favorisierten den Vaticanus. Damit hatte sich die Textkritik für rund 80 Jahre in eine Sackgasse manövriert. Der Stillstand wurde durch die Publikation wichtiger neutestamentlicher Papyri überwunden: der Chester-Beatty-Papyri 1933–1937 und der Bodmer-Papyri 1955–1956.[83] Mit 75 wurde ein Papyrus des frühen 4. Jahrhunderts bekannt, dessen Text mit dem über 100 Jahre jüngeren Codex Vaticanus sehr stark übereinstimmt. „So wurde 75 zum Schiedsrichter, der darauf hinwies, dass der Vaticanus nach unserem Kenntnisstand insgesamt einen früheren Text bietet als der Codex Sinaiticus.“[84] Eine Untersuchung von Textpassagen im Johannesevangelium durch Gordon Fee zeigte 1968, dass die Übereinstimmung von Sinaiticus und Vaticanus blockweise wechselt. Das deutet darauf hin, dass der im Neuen Testament tätige Schreiber des Codex Sinaiticus mit verschiedenen Textvorlagen arbeitete. In den ersten acht Kapiteln des Johannesevangeliums repräsentiert der Sinaiticus den westlichen Texttyp. Der Vaticanus ist demnach textlich homogener als der Sinaiticus.[85]
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