Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich
Stillgelegtes Atomkraftwerk in Rheinland-Pfalz Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
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Das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich (Kürzel: KMK) am linken Rheinufer nordwestlich von Koblenz war das einzige Kernkraftwerk in Rheinland-Pfalz. Am 1. März 1986 wurde es in Betrieb genommen. Wegen eines fehlerhaften Baugenehmigungsverfahrens musste es schon 30 Monate nach der Erstkritikalität am 9. September 1988 wieder vom Netz gehen. Der Druckwasserreaktor der dritten Generation[1] hatte eine elektrische Bruttoleistung von 1.302 Megawatt. Der Kühlturm wurde 2019 abgerissen; der Komplettabriss soll in den späten 2020er-Jahren abgeschlossen sein.
Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich | ||
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Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich
(Stand 2012; Kühlturm 2019 abgerissen) | ||
Lage | ||
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Koordinaten | 50° 24′ 28″ N, 7° 29′ 23″ O | |
Land | Deutschland | |
Daten | ||
Projektbeginn | 1973 | |
Kommerzieller Betrieb | 1. Aug. 1987 | |
Stilllegung | 9. Sep. 1988 | |
Stillgelegte Reaktoren (Brutto) |
1 (1302 MW) | |
Eingespeiste Energie seit Inbetriebnahme | 10.291 GWh | |
Website | Seite bei RWE | |
Stand | 6. Okt. 2006 | |
Die Datenquelle der jeweiligen Einträge findet sich in der Dokumentation. |
Das Kernkraftwerk in der Kärlicher Gemarkung der Stadt Mülheim-Kärlich liegt 2,6 Kilometer südlich des Neuwieder Stadtzentrums und etwa zehn Kilometer nordwestlich von Koblenz auf 66 Metern über Normalhöhennull. Das 33,5 Hektar große Gelände ist Teil des Neuwieder Beckens, einer östlich der vulkanisch geprägten Eifel gelegenen Fortsetzung des leicht erdbebengefährdeten Rheingrabens.[2] Das Becken liegt topographisch deutlich tiefer als das umgebende Rheinische Schiefergebirge. Der Rhein verläuft etwa 100 Meter nördlich der Anlage, die Bundesstraße 9 südlich in etwa 700 Metern Entfernung. Im Umkreis von zehn Kilometern leben etwa 231.000 Menschen, davon über 107.000 in Koblenz (Stand: 2011). Das Gelände des Kernkraftwerks ist im Zehn-Kilometer-Radius von überwiegend land- und forstwirtschaftlich genutzten Flächen sowie mehreren Landschafts- und Naturschutzgebieten umgeben. Die durchschnittliche Niederschlagsmenge am Standort des Kernkraftwerks beträgt etwa 600 Millimeter pro Jahr; durch eine Geländeaufschüttung ist das Kernkraftwerk vor Hochwasser geschützt.
Der Kernreaktor war ein Druckwasserreaktor des Herstellerkonsortiums Babcock-Brown Boveri Reaktor GmbH (BBR), der einzige Leistungsreaktor dieses Herstellers in Deutschland. Die Anlage war technisch ähnlich den Reaktoren des Kernkraftwerk Three Mile Island, allerdings wurde die Gestaltung zum Zweck der besseren passiven Sicherheit angepasst. Der Primärkreislauf hatte zwei Geradrohr-Dampferzeuger, die von oben nach unten durchströmt wurden. Das abgekühlte Wasser wurde anschließend von vier Hauptkühlmittelpumpen zurück in den Reaktor gefördert. Das Kernkraftwerk hatte eine elektrische Bruttoleistung (Nennleistung des Generators) von 1302 Megawatt. Die Nettoleistung, also die maximale für die Einspeisung elektrischer Energie ins Stromnetz zur Verfügung stehende Leistung, lag bei 1219 Megawatt und entsprach dem Bruttowert abzüglich des Eigenverbrauchs aller Neben- und Hilfsanlagen des Kraftwerkes.
Ende der 1960er Jahre begannen die Planungen für ein Kernkraftwerk im Raum Koblenz. Neben Mülheim-Kärlich waren auch Bad Breisig und Neuwied als mögliche Standorte im Gespräch. Bad Breisig scheiterte aus Gründen des Trinkwasserschutzes, Neuwied wegen mangelnden Hochwasserschutzes. Weil mit einem steigenden Energiebedarf gerechnet wurde, wurde am Standort Mülheim-Kärlich ein weiterer Kernkraftwerksblock geplant, der aber verworfen wurde.[4][5]
Im Januar 1975 erhielt die RWE einen ersten Genehmigungsbescheid zur Errichtung des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich.[6] Am 21. Juli 1975 gründeten RWE, Deutsche Bank, Dresdner Bank und Schweizerische Kreditanstalt die Eigentümergesellschaft Société Luxembourgeoise de Centrales Nucléaires S.A. mit Sitz in Luxemburg, um die Investitionskosten von sieben Milliarden D-Mark aufzubringen.[6][7] Die RWE war nur Pächter und Betreiber des Kernkraftwerks.
Das Kernkraftwerk Mülheim-Kärlich wurde von 1975 bis 1986 gebaut. Während der Bauzeit kam es unter anderem durch Klagen von Kommunen und Privatpersonen wie Helga Vowinckel und Walter Thal zu wenigen Monaten Verzögerungen.[8] Das rheinland-pfälzische Wirtschaftsministerium wählte dabei in Rücksprache mit RWE bewusst Verfahren, die die Öffentlichkeitsarbeit reduzieren sollten.
Das Werk war auch umstritten, weil es im leicht erdbebengefährdeten Neuwieder Becken liegt.[9] Der ursprünglich geplante Standort befand sich dabei zwischen zwei Gebirgsschollen, bei denen bei einem Erdbeben Setzungsdifferenzen zu erwarten waren. Wegen dieser Gefährdung wurde das Reaktorgebäude ohne neues Baugenehmigungsverfahren bereits 1974 um 70 Meter vom ursprünglich geplanten Standort entfernt errichtet und dabei von der im bisherigen Genehmigungsverfahren aus Sicherheitsgründen favorisierten Kompaktbauweise abgewichen und das Maschinenhaus und Schaltanlagengebäude abgetrennt, wobei nicht untersucht wurde, ob der Reaktor mit der neuen Anordnung vollständig auf der Gebirgsscholle zu liegen kommen würde.
Die Konstruktionsänderungen hätten nach Urteil des Verwaltungsgericht Koblenz im Grundsatz ein neues Genehmigungsverfahren erfordert. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz eröffnete RWE jedoch in einer Revision auch eine Möglichkeit, Teile des Genehmigungsverfahrens beizubehalten. Im Prozessverlauf sorgte dies für eine hohe Komplexität durch mehrere Instanzen mit unterschiedlichen Rechtsauffassungen, auf die teilweise auch im laufenden Genehmigungsverfahren reagiert wurde. Da die Genehmigungen dadurch lange Zeit nicht bestandskräftig werden konnten, wurde mit einer sofortigen Vollziehung über weite Strecken der Weiterbau auf eigenes Risiko ermöglicht.
Das höchste Urteil war eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts am 20. Dezember 1979, die friedliche Nutzung der Kernenergie sei bei entsprechend gestalteten Genehmigungsverfahren mit dem Grundgesetz vereinbar.[10] Zu den Inhalten der zu dieser Zeit an anderen Gerichten anhängigen Prozesse äußerte sich das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht.
Nach zahlreichen verschieden ausgefallenen Urteilen entschied schließlich das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil vom 9. September 1988, dass das Vorhaben durch die Verschiebung baurechtswidrig geworden war, so dass das Kernkraftwerk im September 1988 nach knapp zwei Jahren im Probebetrieb und genau 100 Tagen im Regelbetrieb abgeschaltet werden musste.[11] Die rheinland-pfälzische Landesregierung unter Ministerpräsident Helmut Kohl hatte der RWE als Betreiberin durch zu geringe Auflagen, Verstöße gegen das Atomgesetz und unzulässige Verfahrensweisen den Bau des Kraftwerks ermöglicht.[12] Dabei war das Genehmigungsverfahren bereits zu Beginn falsch aufgebaut worden.
Die rheinland-pfälzische Landesregierung erteilte 1990 zwar eine veränderte Baugenehmigung; diese wurde jedoch 1995 vom Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz aufgehoben. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte 1998 die Entscheidung in letzter Instanz. Nach Meinung des Gerichts hätten die Erkenntnisse über die Erdbebengefährdung ein vollständig neues Genehmigungsverfahren erfordert. Seitens RWE wurde Schadensersatz gegen das Land Rheinland-Pfalz wegen des fehlerhaften Genehmigungsverfahrens eingereicht.
Am 14. Juni 2000 vereinbarten die damalige Bundesregierung (Schröder I) und die Betreiber von Kernkraftwerken in Deutschland einen Atomausstieg. Dieser enthielt unter anderem den Abbruch des laufenden dritten Genehmigungsverfahrens, ein Verzicht auf Schadensersatz und die Festlegung von Reststrommengen, die im Fall von Mülheim-Kärlich auf andere Kernkraftwerke übertragen werden konnte. (Siehe #Streit um Übertragung der Reststrommenge)
RWE reichte 2001 einen ersten Genehmigungsantrag für den Rückbau bei der zuständigen Genehmigungsbehörde ein. Das Ministerium für Umwelt und Forsten in Rheinland-Pfalz erteilte am 16. Juli 2004 die Genehmigung für die Stilllegung und den Beginn der ersten Abbauphase des Kraftwerks Mülheim-Kärlich. Es gab ein ausführliches Erörterungsverfahren. Bereits im Sommer 2002 waren die letzten Brennelemente – und damit 99 % des radioaktiven Potenzials – aus Mülheim-Kärlich abtransportiert worden.[13]
In der Zeit zwischen Bau und endgültiger Stilllegung gab es einige meldepflichtige Ereignisse, die mit der niedrigsten Stufe 0 der INES-Skala bewertet wurden.[14]
Das KKW Mülheim-Kärlich ist das bisher größte seiner Art in Deutschland, das zurückgebaut wird.[15] Im Jahr 2002 wurden die Uranbrennstäbe aus dem Reaktorblock entfernt und in die französische Wiederaufbereitungsanlage La Hague abtransportiert. Zwei Jahre später begannen die eigentlichen Abrissarbeiten, die geplant bis Mitte der 2020er Jahre abgeschlossen sein sollten. Die Turbine, der Generator und weitere Bauteile des Maschinenhauses wurden an einen ägyptischen Energieversorger verkauft.[16] Nach mehrjährigen Verzögerungen begann im Oktober 2018 der Ausbau der Dampferzeuger im Reaktordruckbehälter. Das schwach radioaktive Material sollte im stillgelegten Bergwerk „Schacht Konrad“ in Salzgitter endgelagert werden.
Auf dem Gelände des Kühlturms wollte sich ein Wiederverwertungsbetrieb ansiedeln.[17] Nach der weitgehenden Dekontaminierung kaufte zunächst ein Recyclingunternehmen das Kraftwerksgelände, trat aber am 1. Januar 2016 vom Kaufvertrag zurück.[18] Am 19. Dezember 2016 wurde bekannt, dass der RWE-Konzern eine Abrissgenehmigung für den Kühlturm gestellt habe und dieser 2017 abgerissen werde.[19] Im August 2017 sollten die Rückbauarbeiten für den Kühlturm beginnen und ungefähr ein Jahr andauern.[20] Nach mehrmaliger Verschiebung[21] begann der Abriss am 5. Juni 2018. Bis Ende 2018 sollte der Kühlturm vollständig abgetragen sein, es kam jedoch zu Verzögerungen.[22]
Ein speziell zu diesem Zweck konstruierter Bagger mit Abrissschere, der auf der Kante des Turms aufsaß, trug ihn Stück für Stück bis auf etwa 80 Meter Höhe ab. Ab dieser Höhe war es nicht mehr möglich den Bagger einzusetzen, da die Neigung der Kühlturmwand zu stark war und der Bagger abgestürzt wäre. Der Rest des Kühlturms musste daher auf konventionelle Weise vom Boden aus abgerissen werden.[23] Hierfür wurde der Turm in einem statisch vorausberechneten Muster mit Perforationsschlitzen versehen, die dafür sorgen sollten, dass der Einsturz zur Turmmitte erfolgen soll. Der Einsturz erfolgte dann am 9. August 2019, nachdem man mit ferngesteuerten Abrissbaggern mehrere Stützen des Kühlturms zerstörte; um 15:38 Uhr brach er in sich zusammen.[24]
2020 wurden die Wärmetauscher ausgebaut, im Sommer 2021 begann der Abbau des Reaktordruckbehälters, der drei Jahre dauern soll. Danach kann die Betonummantelung des nuklearen Bereich (der „biologische Schild“) sowie die beteiligten Einrichtungen (Lüftung, Leitungen, Kräne und Hebeeinrichtungen etc.) entfernt werden. Wenn dann alle Räume aller Gebäudestrukturen des Kontrollbereichs freigemessen wurden, kann die verbleibende Anlage aus dem Atomgesetz entlassen und nach herkömmlichem Baurecht abgerissen werden.[25]
Mit dem Abschluss des Rückbaus bis auf die „grüne Wiese“ wird bis etwa 2029 gerechnet.[26]
Mit der Novellierung des deutschen Atomgesetzes (AtG) 2002 wurde der 2000 verhandelte Atomkonsens gesetzlich festgeschrieben. Das Gesetz sieht in dieser Fassung für jeden der im Jahr 2000 in Betrieb befindlichen Reaktoren eine Reststrommenge vor, nach deren Produktion die Betriebsgenehmigung erlischt.
Aufgrund der kurzen Laufzeit des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich wurde für dieses Kraftwerk eine Sonderregelung getroffen: Dem Kraftwerk wurde eine Reststrommenge von 107,25 TWh zugestanden, die nur auf die Kraftwerke Emsland, Neckarwestheim 2, Isar 2, Brokdorf, Gundremmingen B und C (alle mit einer genehmigten Restlaufzeit über 2015 hinaus) sowie bis zu einer Elektrizitätsmenge von 21,45 TWh auf Biblis B übertragen werden durfte (siehe § 7 Abs. 1d bzw. Anlage 3[27]). Die beiden Energiekonzerne RWE und Vattenfall versuchten eine Übertragung auf die zum Zeitpunkt der Anträge ältesten noch aktiven Kraftwerke Biblis A und Brunsbüttel zu erreichen, für die eine Abschaltung bevorstand. Bei dieser Regelung ging es um einen Gesamtzeitraum von etwa 10 Jahren.
Im September 2006 beantragte RWE die Übertragung der Reststrommenge des Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich auf den Reaktor Biblis A, der nicht in Anlage 3 des Atomgesetzes genannt wird (siehe auch Kernkraftwerk Biblis). Der Antrag von RWE wurde im Mai 2007 vom Bundesumweltministerium (damaliger Minister: Sigmar Gabriel (SPD)) abgelehnt.[28] Eine Klage von RWE gegen den Ablehnungsbescheid wurde Ende Februar 2008 vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof (VGH) abgewiesen.[29] Die Revision wurde am 26. März 2009 durch das Bundesverwaltungsgericht zurückgewiesen.[30]
Im März 2007 beantragte der Betreiber Vattenfall, die Reststrommenge des RWE-Kernkraftwerks Mülheim-Kärlich auf das Kernkraftwerk Brunsbüttel zu übertragen, das ebenfalls nicht in der Liste der zulässigen Reaktoren in Anhang 3 AtG aufgeführt wird. Dieser Antrag wurde im August 2007 ebenfalls vom Bundesumweltministerium abgelehnt.[31] Die Klage Vattenfalls gegen den Ablehnungsbescheid im Januar 2008 wurde vom Oberverwaltungsgericht Schleswig abgewiesen.[32] Die Revision gegen das Urteil wurde vom Bundesverwaltungsgericht am 26. März 2009 zurückgewiesen.[33]
Die gerichtlichen Verfahren waren bei diesem Kernkraftwerk ungewöhnlich groß und beeinflussten bereits zur Bauzeit des Kraftwerks das Genehmigungsverfahren, welches zudem ungewöhnliche und in Teilen später als rechtswidrig festgestellte Vorgehensweisen enthielt. Die wesentlichen Urteile und die wesentlichen Schritte im Genehmigungsverfahren waren insbesondere folgende:
Für eine ausführliche Aufarbeitung sei auf den Abschnitt Literatur verwiesen.
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