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LNT-Modell
unbeweisbares Modell zur Bestimmung der Strahlenexposition Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
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Das Linear-No-Threshold-Modell oder Linear-Non-Threshold-Modell[1] (LNT-Modell, deutsch „Linear ohne Schwellenwert“) ist ein Modell, welches im Strahlenschutz zur Anwendung kommt und dazu dient, die Exposition mit radioaktiven Strahlen zu quantifizieren und regulatorische Grenzwerte festzulegen. Es handelt sich dabei um eine Arbeitshypothese auf Basis des Vorsorgeprinzips.

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Eigenschaften
Zusammenfassung
Kontext
Das 1959 von der internationalen Strahlenschutzkommission (englisch International Commission on Radiological Protection, ICRP) eingeführte und letztmals 2007 aktualisierte LNT-Modell geht von einem rein linearen Zusammenhang zwischen Strahlendosis und Krebsfällen aus. Es wird also postuliert, dass es eine Korrelation gibt zwischen der erhaltenen Dosis ionisierender Strahlung und dem Risiko, daran an Krebs zu erkranken; und diese Korrelation verlaufe linear und ohne untere Grenze. Entsprechend dem LNT-Modell wird also Strahlung bei jeder Dosis als gesundheitsschädlich bewertet, ohne dass dabei eine Schwelle der Strahlendosis angenommen wird, unter welcher keine gesundheitlichen Schäden zu erwarten sind. Allerdings sinke das Risiko linear korreliert mit abnehmender Strahlenbelastung.[2] In einem Diagramm ergibt sich damit als Abhängigkeit biologischer Schäden von der Strahlungsintensität eine Gerade durch den Nullpunkt.
Neben dem LNT-Modell werden auch das Threshold-Modell (Schwellenwert-Modell) und die Hormesis diskutiert.[3] Während das Threshold-Modell einen Schwellenwert beschreibt, unter dem keine Krebserkrankungen auftreten, definiert die Hormesis einen Bereich geringer Dosis, in dem weniger Erkrankungen auftreten. Diese Modelle sind in der Aktivierung einer teilweisen DNA-Reparatur durch ionisierende Strahlung und in der Immunantwort begründet, die teilweise Krebszellen eliminiert.[4][5][6]
Argumente, die für das LNT-Modell sprechen, sind die breite weltweite Verwendung in der Gesetzgebung, suboptimale DNA-Reparatur die Zellen trotzdem geschädigt belässt, variable Reaktionen bestrahlter Organismen, unterschiedliche Latenzzeiten für die Krebsentstehung, schwankende Schwellenwerte und Interessenkonflikte.[7] Probleme mit dem Modell umfassen eine durch die Verwendung entstehende Radiophobie (einschließlich Misdiagnosen, Einsatz alternativer Diagnose- und Heilverfahren, Hemmung der Forschung mit ionisierender Strahlung), das Nichteinbeziehen krebshemmender Mechanismen in Lebewesen wie DNA-Reparatur, Apoptose und Nekrose, Seneszenz sowie vermehrte Kosten durch Strahlenschutz schon bei niedrigen Dosen (darunter hohe Betriebskosten, inkorrekte Priorisierung, Überbewertung von Auswirkungen, Kosten-Nutzen-Analyse),[7] Auswirkungen von Vorsichtsmaßnahmen bei niedriger Strahlenbelastung auf die Bevölkerung[8] und epidemiologisch ermittelte Krebshäufigkeiten bei unterschiedlicher natürlicher Strahlenexposition.[9]
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Berechnung
Das LNT-Modell verwendet die experimentellen Krebshäufigkeiten von Nagetieren bei verschiedenen hohen Dosen ionisierender Strahlung in einem zweijährigen Tierversuch.[10] Die Wahrscheinlichkeiten werden anschließend von hoher Strahlenbelastung (> 1 Sievert) auf niedrigere Dosen extrapoliert.[11]
Verwendung
Das LNT-Modell wird am häufigsten dazu benutzt, um die Wahrscheinlichkeit eines durch Strahlung verursachten Karzinoms zu berechnen. Seit den 1950er Jahren wird es in verschiedenen Ländern sowie international im Strahlenschutz verwendet.[4] Die Grundannahme des Modells ist dabei, dass der biologische Langzeitschaden durch ionisierende Strahlen (im Wesentlichen das Karzinom-Risiko) direkt proportional zur Strahlendosis ist.[12] Es existieren verschiedene Hinweise, dass es bei niedriger Strahlenbelastung zumindest zu einer radioadaptiven Reaktion (radioadaptive response) des Organismus kommt, der teilweise vor gesundheitlichen Schäden schützt.[13] Das französische IRSN spricht sich dennoch für die Beibehaltung des LNT-Modells aus.[14] Es gibt auch einige empirische Studien, welche das LNT-Modell ausdrücklich bestätigen. Am bekanntesten wohl die sog. INWORKS-Studie von 2015, die ein minimal erhöhtes Risiko von Arbeitern in Kernkraftwerken im niedrigen LNT-Bereich der Exposition nachweist.[15]
Kritik
Zusammenfassung
Kontext
Das LNT-Modell wird kontrovers diskutiert, insbesondere die Gültigkeit des Modells bei der Berechnung gesundheitlicher Effekte von niedrigen Strahlendosen und der Anwendbarkeit.[16][17][18] Der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen atomarer Strahlung (UNSCEAR), der maßgeblich an der internationalen Etablierung von Empfehlungen im Strahlenschutz mitwirkt, sprach im Jahr 2014 Empfehlungen aus, dass zur Häufigkeitsschätzung strahlen-induzierter Gesundheitseffekte innerhalb einer Bevölkerungsgruppe die Multiplikation sehr niedriger Strahlendosen mit einer großen Anzahl von Personen nicht mehr angewendet werden soll, wenn die Summe niedriger Strahlendosen gleich hoch oder niedriger ist als die natürliche Strahlenexposition, der jeder Mensch ohnehin ausgesetzt ist. Daher wird empfohlen, das LNT-Modell nur für Entscheidungen im Strahlenschutz zu verwenden, und nicht zur Berechnung eines Krebsrisikos.[19][20][21] In Deutschland basieren die Empfehlungen der Strahlenschutzkommission auf dem LNT-Modell, wobei die LNT-Hypothese gemäß der internationalen Strahlenschutzkommission ICRP für Zwecke des Strahlenschutzes – z. B. zur Entscheidung von Maßnahmen – gedacht sei und nicht zur Quantifizierung individueller Strahlenrisiken.[22] In der ICRP Publikation 103 von 2007 schreibt die ICRP-Kommission S. 49 dazu: (Das System der Kommission werde) "weiterhin auf der Annahme beruhen, dass bei Dosen unterhalb von 100 mSv eine gegebene Dosiserhöhung zu einer direkt proportionalen Erhöhung der Wahrscheinlichkeit von Krebs oder vererbbaren Wirkungen führt", sowie auf derselben Seite: "Wegen dieser Unsicherheit nach niedrigen Dosen kommt die Kommission zur Einschätzung, dass es nicht sinnvoll ist, für Zwecke der allgemeinen Gesundheitsplanung eine hypothetische Zahl von Krebsfällen und vererbbaren Erkrankungen aufgrund sehr niedriger Dosiseinwirkungen zu berechnen."[23] Einige spezifische Studien ferner ziehen das Modell auch heran, um z. B. erhöhte Krebsfälle der allgemein strahlenempfindlicheren Kinder durch Hintergrundstrahlung zu erklären.[24]
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Geschichte
Zusammenfassung
Kontext
Der Bezug zwischen der Strahlenexposition und Krebs wurde bereits 1902, sechs Jahre nach der Entdeckung der Röntgenstrahlen durch Wilhelm Röntgen und der Radioaktivität durch Henri Becquerel, beobachtet.[25] Im Jahr 1927 zeigte Hermann Muller, dass Strahlung genetische Mutationen verursachen kann.[26] Er schlug auch vor, dass Mutationen eine Ursache für Krebs sein könnten.[27] Gilbert N. Lewis und Alex Olson schlugen auf der Grundlage von Mullers Entdeckung der Wirkung von Strahlung auf Mutationen 1928 einen Mechanismus für die biologische Evolution vor und deuteten an, dass genomische Mutationen durch kosmische und terrestrische Strahlung induziert wurden, und führten erstmals die Idee ein, dass solche Mutationen proportional zur Dosis der Strahlung auftreten könnten.[28] Verschiedene Labore, darunter auch Mullers, demonstrierten dann die offensichtliche lineare Dosis-Antwort der Mutationsfrequenz.[29] Muller, der 1946 für seine Arbeiten zu den mutagenen Wirkungen von Strahlung einen Nobelpreis erhielt,[30] behauptete in seiner Nobelvorlesung Die Produktion von Mutationen, dass die Mutationsfrequenz „direkt und einfach proportional zur angewandten Irradiationsdosis“ sei und dass „die Schlussfolgerung unausweichlich ist, dass es keinen Schwellenwert gibt“,[31] obwohl ihm widersprechende Ergebnisse von Curt Stern bekannt gewesen waren.[32]
Die frühen Studien basierten auf höheren Strahlungslevels, was es schwierig machte, die Sicherheit von niedrigen Strahlungslevels zu etablieren. Tatsächlich glaubten viele frühe Wissenschaftler, dass es möglicherweise ein Toleranzniveau gibt und dass niedrige Strahlendosen möglicherweise nicht schädlich sind.[25] Eine spätere Studie aus dem Jahr 1955 an Mäusen, die niedrigen Strahlendosen ausgesetzt waren, deutet darauf hin, dass sie die Kontrolltiere überleben könnten.[33] Das Interesse an den Auswirkungen von Strahlung verstärkte sich nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, und es wurden Studien an den Überlebenden durchgeführt. Obwohl es schwer war, überzeugende Beweise für die Wirkung von niedrigen Strahlendosen zu finden, wurde die Idee des LNT Ende der 1940er Jahre aufgrund ihrer mathematischen Einfachheit populärer. 1954 führte der National Council on Radiation Protection and Measurements (NCRP) das Konzept der maximalen zulässigen Dosis ein. 1958 bewertete das United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR) das LNT-Modell und ein Schwellenwertmodell, stellte jedoch die Schwierigkeit fest, „zuverlässige Informationen über die Korrelation zwischen kleinen Dosen und ihren Wirkungen entweder bei Individuen oder in großen Populationen“ zu erhalten. Das United States Congress Joint Committee on Atomic Energy (JCAE) konnte ebenfalls nicht feststellen, ob es einen Schwellenwert oder ein „sicheres“ Expositionsniveau gibt; dennoch führte es das Konzept von „As Low As Reasonably Achievable“ (ALARA) ein. ALARA sollte ein grundlegendes Prinzip in der Strahlenschutzpolitik werden, das implizit die Gültigkeit des LNT akzeptiert. 1959 unterstützte der United States Federal Radiation Council (FRC) in seinem ersten Bericht das Konzept der LNT-Extrapolation bis in den Bereich niedriger Dosen.[25]
Bis in die 1970er Jahre war das LNT-Modell von mehreren Institutionen als Standard in der Strahlenschutzpraxis akzeptiert worden.[25] 1972 unterstützte der erste Bericht der National Academy of Sciences (NAS) mit dem Titel Biological Effects of Ionising Radiation (BEIR), ein Expertengremium, das die verfügbare, peer-reviewed Literatur überprüfte, das LNT-Modell aus pragmatischen Gründen. Es wurde festgestellt, dass, während die „Dosis-Wirkungs-Beziehung für Röntgen- und Gamma-Strahlen möglicherweise keine lineare Funktion ist“, die „Verwendung linearer Extrapolation ... aus pragmatischen Gründen als Grundlage für Risikoabschätzungen gerechtfertigt sein könnte.“ In ihrem siebten Bericht von 2006 schreibt NAS BEIR VII: „Das Komitee kommt zu dem Schluss, dass die überwiegende Mehrheit der Informationen darauf hinweist, dass es sogar bei niedrigen Dosen ein gewisses Risiko geben wird.“[34] Die Health Physics Society (in den Vereinigten Staaten) hat eine Dokumentarserie über die Ursprünge des LNT-Modells veröffentlicht.[35]
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Einzelnachweise
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