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deutsch-dänischer Soziologe Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Theodor Julius Geiger (* 9. November 1891 in München; † 16. Juni 1952 auf See zwischen Kanada und Dänemark) war ein dänischer Soziologe deutscher Herkunft. Er lehrte nach seiner Emigration an der Universität Aarhus und war der erste Professor für Soziologie in Dänemark. Geiger wird zu den „Klassikern der Soziologie“ gezählt[1] und gilt als Begründer der Schichtungssoziologie.
Theodor Geiger wurde 1891 in München als Sohn des Gymnasialdirektors Karl Geiger und dessen Ehefrau Philippine, geb. Unrein, geboren. Er wuchs in Landshut auf, wo er auch sein Abitur ablegte. Ab 1910 studierte er Rechts- und Staatswissenschaften in München, später in Würzburg.
Am Ersten Weltkrieg nahm er als Freiwilliger teil und war von August 1914 bis Dezember 1918 Soldat. Geiger wurde überwiegend an der Ostfront eingesetzt, wo er eine Kriegsverletzung erlitt. Während des Krieges arbeitete er an einer juristischen Dissertation zum Thema Strafvollzug (Die Schutzaufsicht). Noch als Soldat wurde er 1918 von der Universität Würzburg zum Doktor der Rechtswissenschaft promoviert.
Anschließend arbeitete er bis 1920 als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Statistischen Landesamt in München, danach verlegte er seinen Wohnsitz nach Berlin, wo er Mitglied der SPD wurde. Anfangs arbeitete er in Berlin beim Zeitungsauswertungsdienst Die fremde Presse. Ebenfalls betreute er die Informationsschriften der damals neuen Volkshochschule von Groß-Berlin, wo er später als Dozent und ab 1924 als Geschäftsführer wirkte. Er baute diese Arbeiterhochschule zu einer der vorbildlichsten Volkshochschulen des Landes aus.
Geiger lehrte ab 1924 an der Technischen Hochschule Braunschweig, 1929 wurde er dort ordentlicher Professor der Soziologie, zu jener Zeit die erste sozialwissenschaftliche Professur dieser Hochschule. Sein Nachfolger an der Volkshochschule Groß-Berlin war 1929 der Schulreformer Erwin Marquardt.
Als Dekan beteiligte sich Geiger am erfolgreichen Widerstand der TU Braunschweig gegen den Versuch von Dietrich Klagges, seit 1931 Staatsminister für Inneres und Volksbildung des Freistaates Braunschweig und NSDAP-Mitglied, Adolf Hitler 1932 eine Professur für „Organische Gesellschaftslehre und Politik“ an der TU Braunschweig und damit Hitler die Einbürgerung zu verschaffen.[2]
Bahnbrechend wurden Geigers Studien zur sozialen Schichtung der späten Weimarer Republik. In seinem 1932 veröffentlichten Buch Die soziale Schichtung des deutschen Volkes befasste er sich neben umfangreichen Studien zur sozialen Schichtung auch mit wahlsoziologischen Forschungen zum Nationalsozialismus und prangerte dabei den „furchtbaren und primitiven Naturalismus der Blutromantik“, der „den Geist schlechthin“ bedroht, an.[3] Nach der Machtübergabe an Hitler emigrierte Geiger und kam so der staatlich angeordneten Entlassung zuvor. Im Jahr seiner Emigration erschien seine Schrift Erbpflege, in der er rassenhygienische Positionen vertrat und Fortpflanzungssperren für Ballastexistenzen sowie die Einführung eines Rassenamtes forderte.[4]
Bis 1943 lebte er in Dänemark und nahm die dänische Staatsbürgerschaft an.[5] Geiger sprach Dänisch, Englisch, Französisch, Norwegisch und Schwedisch, sein Interesse für Skandinavien setzte bereits in seiner Jugend ein. Schon in Deutschland hatte er Fachliteratur aus skandinavischen Sprachen übersetzt, vor allem ethnologische Studien, u. a. von Sven Hedin und Fridtjof Nansen.
Geigers akademische Karriere in Dänemark wurde von der Rockefeller Foundation gefördert. Er arbeitete zunächst am „Instituttet for Historie og Samfundsøkonomi“ der Universität Kopenhagen und gab auch Gastvorlesungen an der dortigen Universität. Von 1938 bis 1940 lehrte er als Professor an der Universität Aarhus Soziologie, womit er zum ersten Soziologen an einer dänischen Hochschule wurde. 1938 hatte er Eline Marie Nicolaysen geheiratet. Nach der deutschen Besatzung Dänemarks befand sich Geiger wieder auf der Flucht, ab 1943 lebte er im neutralen Schweden. Er hielt Gastvorlesungen an den Universitäten von Stockholm, Uppsala und Lund. Nach Kriegsende kehrte Theodor Geiger umgehend nach Aarhus zurück und führte seine Lehrtätigkeit weiter; 1945 gründete er das Universitätsinstitut für Gesellschaftsforschung, auch dies ein Novum im damaligen Skandinavien.
Von 1948 bis 1952 gab der Sozialwissenschaftler gemeinsam mit Torgny Torgnysson Segerstedt, Veli Verkko und Johan Vogt die Nordiske Studier i Sociologie (Nordische Soziologische Studien) heraus. 1949 war er Mitbegründer der International Sociological Association (ISA). Seit 1949 war er korrespondierendes Mitglied der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft.
Theodor Geiger hielt in den Jahren 1951 und 1952 Gastvorlesungen in Toronto, um dort das Fach Soziologie einzurichten.[6] Auf dem Rückweg nach Dänemark verstarb er auf See an Bord des niederländischen Dampfschiffs Waterman.
Geigers Schriften befinden sich heute im „Theodor Geiger Archiv“ der TU Braunschweig.
Theodor Geiger gilt als einer der Begründer des Konzeptes der sozialen Schichtung/Stratifikation, welches bei der Analyse gesellschaftlicher Strukturen eine entscheidende Rolle spielt. Sein Werk zur „sozialen Schichtung des deutschen Volkes“ von 1932 wird in diesem Zusammenhang bis heute immer wieder zitiert.
Theodor Geigers Ansatz zufolge kann die Gesellschaft in zahlreiche soziale Schichten und Gruppen eingeteilt werden; dabei spielen Eigenschaften wie die Art des Berufs, der Bildung, des Elternhauses, des Lebensstandards, des Äußeren/ der Kleidung sowie Macht, Konfession, ethnische Abstammung, politische Einstellung und Mitgliedschaft in Vereinen/ Organisationen eine Rolle. Die soziale Lage ist Resultante vieler Komponenten. Der Soziologe muss daher in den von ihm verwendeten Schichtungsmodellen auch stets eine Reduktion der tatsächlichen Vielfalt vornehmen, sein Modell kann nie völlig der sozialen Realität entsprechen. Gerade deshalb sollte es aber möglichst mehr- bzw. vieldimensional messen und die jeweils adäquate Gewichtung der einzelnen Faktoren berücksichtigen. Das Schichtungskonzept ist eng mit Untersuchungen zur sozialen Mobilität verbunden, dient ferner als wichtiges Analyseinstrument von Industriegesellschaften. Das Schichtkonzept umgreift allerdings auch die traditionelleren Stände- oder Kastengesellschaften. Geiger sah zwischen diesen Kategorien auch nicht so strenge typologische Trennungen wie etwa Max Weber. Vom Grad der sozialen Durchlässigkeit her muss sich beispielsweise eine in Auflösung begriffene Kasten- oder Ständegesellschaft nicht grundsätzlich von einer gut etablierten, geschichteten Industriegesellschaft unterscheiden.
Theodor Geiger unterschied die Schicht als objektiven sozialen Typus vom subjektiven Schichtbewusstsein (bzw. die „Haltung“) der jeweiligen Gruppenangehörigen. Beides steht in keinem festen deterministischen Verhältnis zueinander. Der Soziologe warnte vor einer Schichtdefinition, die von vornherein beide Aspekte vermischt. Sehr wohl könne man aber konstatierte soziale Lagen auf Korrelationen mit bestimmten Formen des Schichtbewusstseins hin untersuchen.
Dem Marxismus stand Geiger zeitweise durchaus nahe, in seinen späteren Jahren lehnte er Karl Marx’ Konzept des Klassenkampfes allerdings als erfahrungswissenschaftlich irrelevante Gesellschaftsmetaphysik und Geschichtsphilosophie ab. Dass sich geänderte „Daseinbedingungen“ (auch wirtschaftliche) auf sozialen Status und subjektive Haltungen auswirken können, bestritt er nicht.
Ebenso widersprach Theodor Geiger der Auffassung der gegenwärtigen Sozialstruktur als einer „atomisierten Gesellschaft“, für deren Mitglieder Schichtunterschiede keine Rolle mehr spielten. Auch „Gesellschaftsorganikern“ und „romantischen Sozialphilosophen“ die von der Volksgemeinschaft träumen, erteilte Geiger eine Abfuhr.
Außerdem veröffentlichte Geiger Arbeiten zur Erwachsenenbildung, Rechtssoziologie, Stadtsoziologie sowie zur Methodologie empirischer Sozialforschung. Sein positivistisch orientierter Ansatz der Ideologiekritik und zur Wissenssoziologie wurde vom Kritischen Rationalismus aufgegriffen und kritisch erweitert.[7]
Charakteristisches Merkmal für Geigers Rechtssoziologie ist der sogenannte Wertnihilismus. Theodor Geiger entwickelte den Wertnihilismus, der in der sogenannten Uppsala-Schule um Axel Hägerström begründet wurde, fort.[8] Im Gegensatz zur Vilhelm Lundsted (1882–1955) oder Alf Ross (1899–1979), die einen theoretischen Wertnihilismus vertraten, sprach sich Geiger für einen praktischen Wertnihilismus aus. Für Geiger ist ein praktischer Wertnihilist jemand, der kein Werturteil abgibt. Er geht von der erkenntnistheoretischen Illegitimität aus und fordert daher, auf Werturteile prinzipiell zu verzichten.
Ende der 1920er Jahre übersetzte Theodor Geiger zwei politikgeschichtlich wichtige Bücher von Fridtjof Nansen (1921–1927 Kommissar für Flüchtlingsfragen beim Völkerbund, 1922 Friedensnobelpreis) aus dem Norwegischen ins Deutsche: Betrogenes Volk. Eine Studienreise durch Georgien und Armenien als Oberkommissar des Völkerbundes (F. A. Brockhaus, 1928) und Durch den Kaukasus zur Wolga (F. A. Brockhaus, 1930).
Theodor Geiger bemühte sich zudem um eine Erweiterung der Humansoziologie um eine Tiersoziologie. Dies möchte er, wie er in seinem bereits 1927 verfassten und 1931 veröffentlichten Aufsatz Das Tier als geselliges Subjekt darlegt, über einen transdisziplinären Ansatz erreichen, der Methoden und Erkenntnisse aus Biologie und Soziologie bei einer Betrachtung und Analyse von Gesellschaft gleichermaßen berücksichtigt.[9] Sein Plädoyer hat zum Ziel, dem verengten Blickwinkel beider Disziplinen entgegenzuwirken, der seiner Ansicht nach durch die strikte Aufteilung der Forschungsgegenstände der Disziplinen entstehe:
Diese klare Aufteilung der Forschungsgegenstände von Biologie und Soziologie sei wiederum mit der Annahme einer starren Mensch-Tier-Grenze verbunden, während für Geiger „Mensch und Tier zusammen[gehören]“[11].
Nach wie vor richtungsweisend könnte dieser Forschungshinweis Theodor Geigers sein:
Eine auf 31 Bände angelegte Theodor Geiger Gesamtausgabe (TGG) wird von Klaus Rodax herausgegeben. Bislang (Stand März 2012) sind fünf Bände erschienen.[14]
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