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deutscher Naturforscher und Schriftsteller Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Georg Christoph Lichtenberg (* 1. Juli 1742 in Ober-Ramstadt; † 24. Februar 1799 in Göttingen) war ein Physiker, Naturforscher, Mathematiker, Schriftsteller und der erste deutsche Professor für Experimentalphysik im Zeitalter der Aufklärung. Lichtenberg gilt als Begründer des deutschsprachigen Aphorismus.
Georg Christoph Lichtenberg war (bei acht Totgeburten) das neunte lebendgeborene und gleichzeitig jüngste Kind aus der Ehe des protestantischen Pfarrers Johann Conrad Lichtenberg (1689–1751) und dessen Frau Catharina Henriette, geb. Eckard (1696–1764).[1] 1745 zog die Familie nach Darmstadt, nachdem der Vater am 29. März 1745 zum dortigen Stadtprediger ernannt worden war. Zunächst in der Stadtschule unterrichtet, besuchte er (wie zuvor schon ab 1704 sein Vater) seit 1752 das Darmstädter Pädagog. Während der Schulzeit, die er 1761 abschloss, wurde er mehrfach als hervorragender Schüler öffentlich ausgezeichnet.
Dank eines landgräflichen Stipendiums, das allerdings mit der von Lichtenberg später nie eingelösten Auflage verbunden war, nach dem Studium Professor an der heimatlichen Universität Gießen zu werden, und das in seiner Höhe von insgesamt 400 Gulden nicht länger als zwei Jahre ausreichte, konnte er sich am 21. Mai 1763 an der Universität Göttingen immatrikulieren.[2] Dort studierte er bis 1767 – unter anderem bei Abraham Gotthelf Kästner, Johann Christoph Gatterer, Gottfried Achenwall und Christian Wilhelm Büttner – Mathematik, Physik, zivile und militärische Baukunst, Ästhetik, englische Sprache und Literatur, Staatengeschichte Europas, Diplomatik und Philosophie.[3] Seinen Lebensunterhalt sicherte er sich schon in den letzten Jahren seines Studiums und auch danach noch durch Korrekturlesen, vor allem aber als Informator oder Hofmeister wohlhabender englischer Studenten der durch die Personalunion eng mit Großbritannien verbundenen Universität Göttingen.
Im April 1770 reiste Lichtenberg in Begleitung von zwei seiner englischen Studenten zum ersten Mal nach London. Dort traf er mit Georg III., König von Großbritannien und Kurfürst von Braunschweig-Lüneburg in Hannover, in der königlichen Sternwarte in Richmond upon Thames zusammen, worauf dieser die Ernennung Lichtenbergs zum außerordentlichen Professor für Philosophie empfahl. Der erste Kurator (und eigentliche Gründungsrektor) der Göttinger Universität, Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen, vollzog die Ernennung Ende Mai.[4]
Die sogleich zum Wintersemester 1770/71 aufgenommene Lehrtätigkeit (Antrittsvorlesung Betrachtungen über einige Methoden, eine gewisse Schwierigkeit in der Berechnung der Wahrscheinlichkeit beim Spiel zu heben.)[5], wurde in den Jahren 1772/73 durch den amtlichen Auftrag zu astronomischen Ortsbestimmungen im Kurfürstentum Hannover unterbrochen. 1772 reiste Lichtenberg dafür zunächst über Hannover (Treffen mit dem Arzt Johann Georg Zimmermann und dem jüdischen Gelehrten und Leibniz-Schüler Rafael Levi[6]), das Steinhuder Meer (wahrscheinlich mit Überfahrt zur schaumburg-lippischen Landesfestung Wilhelmstein), Stadthagen (Besichtigung des fürstlichen Mausoleums mit dem Grab- und Auferstehungsmonument von Adriaen de Vries), Bückeburg (Bekanntschaft mit Johann Gottfried Herder) nach Osnabrück (Bekanntschaft mit Justus Möser). Im April 1773 führte eine zweite Reise über Hannover, Celle (dort anwesend bei einem öffentlichen Essen der wegen ihrer Affäre mit Johann Friedrich Struensee auf das Celler Schloss verbannten ehemaligen Königin von Dänemark und Norwegen, Caroline Mathilde), Hamburg (Begegnung mit Friedrich Gottlieb Klopstock) nach Stade. Während dieser letzten Reise unternahm Lichtenberg auch eine Seereise nach Helgoland.[7]
Eine zweite Englandreise, während der er zum ordentlichen Professor an der Göttinger Universität ernannt wurde, unternahm Lichtenberg vom August 1774 bis Ende Dezember 1775. Wiederum hatte er Umgang mit König Georg III. und der königlichen Familie, lernte Teilnehmer der zweiten Weltreise James Cooks kennen (so etwa Georg und Johann Reinhold Forster) und begegnete bekannten Wissenschaftlern wie James Watt, Joseph Banks oder Joseph Priestley sowie bedeutenden Instrumentenmachern wie Jeremiah Sisson oder James Short. Am 27. September 1775 traf er in London auch mit Rudolf Erich Raspe zusammen.[8] Bei zahlreichen Theaterbesuchen u. a. im Drury Lane Theatre traf er den Schauspieler David Garrick und besichtigte außerdem die psychiatrische Klinik Bedlam. Dieser zweite Englandaufenthalt wurde so zu einem nachhaltigen Bildungserlebnis.[9] Während dieser Reise besuchte er auch die Seebäder Margate und Deal. Er war von seinem Besuch so beeindruckt, dass er später in seinem Aufsatz Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad? (s. u.) anregte, auch in Deutschland Seebäder einzurichten.[10]
Bei seiner Rückkehr nach Göttingen bezog Lichtenberg eine Wohnung im Haus des Buchhändlers und Verlegers Johann Christian Dieterich in der Gotmarstraße 1 (Gedenktafel) und nahm – in einem Hörsaal im gleichen Haus – im Sommersemester 1776 seine Vorlesungen wieder auf. Im Sommersemester 1778 begann er seine Hauptvorlesung zur „Experimentalphysik“ auf der Grundlage der Anfangsgründe der Naturlehre von Johann Christian Polycarp Erxleben. Der neue Demonstrationscharakter der Vorlesung, die er bis zu seinem Tod hielt, machte Lichtenberg über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Ab 1784 übernahm er die Herausgabe des Kompendiums von Erxleben, der 1777 früh verstorben war. Bis 1794 folgten drei weitere Überarbeitungen. Die Anfangsgründe waren über Jahre hinweg das Standardwerk unter den Physiklehrbüchern im gesamten deutschsprachigen Raum.[11]
Ebenfalls als Nachfolger von Erxleben wurde Lichtenberg schon 1777 Herausgeber des seit Herbst 1775 im Verlag seines Vermieters Dieterich erscheinenden Göttinger Taschen-Calenders. Dieses populärwissenschaftliche Periodikum betreute er bis zu seinem Tode 1799.[12] Von 1780 bis 1785 gab er ebenfalls im Verlag von Dieterich zusammen mit Georg Forster das Göttingische Magazin für Wissenschaften und Litteratur heraus.[13]
Bereits 1774 zum außerordentlichen Mitglied ernannt, wurde Lichtenberg Ende 1776 ordentliches Mitglied der Königlichen Societät der Wissenschaften zu Göttingen. 1782 wurde er zum Mitglied der Naturforschenden Gesellschaft in Danzig ernannt, 1793 zum Mitglied der Royal Society in London. Schließlich wurde er 1795 Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg.[14]
Lichtenberg führte eine umfangreiche Korrespondenz mit Freunden, wie etwa seinem Göttinger Wohnungsgeber Johann Christian Dieterich, und bedeutenden Zeitgenossen, darunter u. a. Johann Friedrich Blumenbach, Johann Georg Forster, Christian Gottlob Heyne, Johann Wolfgang von Goethe, Abraham Gotthelf Kästner, Immanuel Kant, Christoph Friedrich Nicolai, Johann Daniel Ramberg, Samuel Thomas Sömmering. Sein Briefwechsel stellt nicht nur eine wichtige wissenschaftshistorische Quelle dar, sondern ist darüber hinaus ein herausragendes Beispiel für die Epistolographie im 18. Jahrhundert.[15]
Lichtenberg litt sein ganzes Leben an einer zunehmenden Kyphoskoliose (Wirbelsäulenverkrümmung), die nicht nur zu einem ausgeprägten Buckel und geringer Körpergröße führte, sondern auch das Atmen immer mehr erschwerte. Seine körperliche Behinderung und seine ständige Anfälligkeit für Krankheiten machten ihn in außergewöhnlichem Maße empfindsam. Seine Sensibilität und Beobachtungsgabe richteten sich nicht nur auf naturwissenschaftliche Erscheinungen, sondern auch auf Umwelt und Mitmenschen.
1777 machte Lichtenberg die Bekanntschaft von Maria Dorothea Stechard (1765–1782). Von 1780 bis zu ihrem frühen Tod war sie Lichtenbergs Lebensgefährtin („ohne priesterliche Einsegnung meine Frau“).[16] Der Brief über den Tod der „kleinen Stechardin“, den Lichtenberg wohl im Herbst 1782 an seinen Darmstädter Schulfreund Gottfried Hieronymus Amelung (1741–1800) schrieb,[17] wurde von Walter Benjamin in die Briefsammlung Deutsche Menschen aufgenommen.
1782 trat Margarete Elisabeth Kellner (1768[18]–1848) als Haushälterin in seinen Dienst, mit der er 1783 ein eheähnliches Verhältnis begann. Als im Oktober 1789 (als Folge der Wirbelsäulenverkrümmung) krampfartige Asthmaanfälle einsetzten, die Lichtenberg monatelang ans Bett fesselten, wurde die Beziehung legalisiert, um ihr und den gemeinsamen Kindern das Erbe zu sichern. Der Verbindung entstammten insgesamt vier voreheliche und vier eheliche Kinder, von denen zwei bereits vor der Eheschließung gestorben waren.[19]
Bei seinem Tod 1799 hinterließ er seine Ehefrau und sechs zu diesem Zeitpunkt noch lebende Kinder.[20] Sein Grab befindet sich auf dem Bartholomäusfriedhof in Göttingen.
Georg Christoph Lichtenberg ist der Großvater des hannoverschen Kultusministers und späteren Präsidenten des Landeskonsistoriums Carl Lichtenberg und Urgroßvater des Politikers Georg Lichtenberg.[21]
Der unter anderem von Immanuel Kant und Baruch Spinoza beeinflusste Lichtenberg gilt als klassischer Vertreter der Spätaufklärung. Er befasste sich mit naturwissenschaftlichen Themen auf breiter Ebene, unter anderem mit der Geodäsie, Meteorologie, Astronomie und Chemie. Als Lehrender war er wegweisend, da er, entgegen dem Standard seiner Zeit, in seiner Vorlesung auch Experimente vorstellte. Mit fliegenden Drachen führte er seinen Studenten die Gewitterelektrizität vor, mit gasgefüllten Schweinsblasen nahm er die Ballonfahrt vorweg. Nachdem Benjamin Franklin in den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts bereits die Begriffe ‚plus‘ und ‚minus‘ für die verschiedene Polung der elektrischen Spannung in die Elektrizitätslehre eingeführt hatte, verwendete Lichtenberg dafür zum ersten Mal die Zeichen ‚+E‘ und ‚–E‘. Sein Geschick als Experimentalphysiker stellte er mit der Entwicklung eines 2,5 Quadratmeter großen Elektrophors unter Beweis. Mit dieser Influenzmaschine konnte er sehr hohe Spannungen erzeugen und Funken von bis zu 40 cm Länge hervorrufen. 1777 entdeckte er auf dem Staub einer Isolatorplatte des Elektrophors sternförmige Muster, die als Lichtenberg-Figuren bezeichnet werden. Er führte als erster den von Benjamin Franklin erfundenen Blitzableiter in Göttingen und als einer der ersten in Deutschland ein, indem er 1780 und 1794 seine Gartenhäuser mit einem solchen Furchtableiter – wie er ihn nannte – versah.[22]
Über seine naturwissenschaftlichen Entdeckungen hinaus ist der Aufklärer Georg Christoph Lichtenberg durch seine von Autoritäten unabhängige, kritisch-analytische Denkweise und die Betonung des Experiments in der Physik einer der wichtigsten Begründer der modernen naturwissenschaftlichen Methodik.
„Je mehr sich bei Erforschung der Natur die Erfahrungen und Versuche häufen, desto schwankender werden die Theorien. Es ist aber immer gut sie nicht gleich deswegen aufzugeben. Denn jede Hypothese die gut war, dient wenigstens die Erscheinungen bis auf ihre Zeit gehörig zusammen zu denken und zu behalten. Man sollte die widersprechenden Erfahrungen besonders niederlegen, bis sie sich hinlänglich angehäuft haben um es der Mühe wert zu machen ein neues Gebäude aufzuführen.“
Die Ergebnisse von Lichtenbergs geodätischen Vermessungen von Hannover, Osnabrück und Stade (vgl. dazu auch im Abschnitt „Leben“) – seiner einzigen größeren, auf astronomischen Beobachtungen beruhenden Arbeit – erschienen 1777. Der Vergleich der Werte Lichtenbergs mit den Messungen von Gauß (einem Hörer Lichtenbergs) und Schumacher aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ergibt Abweichungen zwischen 7 und 15 Bogensekunden für die Breitenbestimmung sowie deutlich größere Differenzen in der Längenbestimmung von 6 bis 60 Bogensekunden.
Lichtenberg war in Fachkreisen in ganz Deutschland und Europa bekannt und geschätzt und stand mit vielen Gelehrten im Briefwechsel. Er regte 1793 Ernst Chladni zu dessen bahnbrechender Theorie der Sternschnuppen, Feuerkugeln und Meteoriten an und förderte seine Schüler Benzenberg und Brandes bei ihrem Meteor-Beobachtungsprogramm.[24] Bei seiner ärztlichen Kritik des Mesmerismus berief sich sein Schüler Hufeland auf „meine gesunde Lichtenberg’sche Physik“.[25] Auch Goethe bat Lichtenberg seit 1792 um dessen Meinung zu seiner Farbenlehre und hoffte – vergeblich – auf Anerkennung.[26]
Über mehr als drei Jahrzehnte hinweg hat Lichtenberg ab 1764 in Schreibheften, von ihm selbstironisch „Sudelbücher“ genannt, in aphoristischer Form unzählige Gedanken, spontane Einfälle, Lesefrüchte, Reflexionen zu fast allen Wissensgebieten sowie naturwissenschaftliche Einsichten und Feststellungen notiert. Sie belegen Lichtenbergs Aufgeschlossenheit für alles Neue, die enzyklopädische Weite seines Geistes und in besonderer Weise seine Fähigkeit zur skeptischen Beobachtung und ironischen Formulierung. Insgesamt ergeben diese von Lichtenberg zeit seines Lebens geheimgehaltenen Notizen eine „fortlaufende intellektuelle Autobiographie“[27] und – in Lichtenbergs eigenen Worten – eine „Geschichte meines Geistes“:
Erste Auswahlen dieser Sudelbucheinträge sind nach Lichtenbergs Tod in die Ausgaben der Vermischten Schriften aufgenommen worden, die zunächst 1800 sein Bruder Ludwig Christian zusammen mit Friedrich Christian Kries, dann in erweiterter Form 1844 Lichtenbergs Söhne veranstaltet haben. 1902 bis 1908 erschien mit Georg Christoph Lichtenbergs Aphorismen. Nach den Handschriften herausgegeben von Albert Leitzmann die erste philologisch gesicherte Edition. Nachdem schon im 19. Jahrhundert etwa Heinrich Laube und Friedrich Hebbel Lichtenbergs Notizen in einen Zusammenhang mit dem ›Aphoristischen‹ und dem ›Aphorismus‹ selbst gebracht hatten, verfestigte Leitzmanns Edition durch ihren Titel den Bezug zu dieser Textsorte, obwohl Lichtenberg selbst und seine Zeitgenossen ein durchaus anderes Verständnis von ihr hatten und mit dem Aphorismus knapp gefasste Definitionen und vor allem medizinische Lehrsätze verbanden.
Auf eigensinnige Weise ist so ein Korpus von Texten für Lichtenbergs Nachruhm verantwortlich geworden, von dessen Existenz seine Mitwelt keine Kenntnis besaß.
Bei seinen Zeitgenossen weithin bekannt und teilweise auch gefürchtet war Lichtenberg aufgrund seiner satirischen Streitschriften und seiner literarischen und populärwissenschaftlichen Aufsätze.
1773 bezog Lichtenberg mit seiner Streitschrift Timorus, das ist, Vertheidigung zweyer Israeliten, die durch die Kräftigkeit der Lavaterischen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürste bewogen den wahren Glauben angenommen haben Position in der öffentlich geführten Auseinandersetzung zwischen Moses Mendelssohn und Johann Caspar Lavater, der den jüdischen Gelehrten seit 1769 mehrmals aufgefordert hatte, sich zum Christentum zu bekehren. In dieser Streitschrift unternimmt Lichtenberg unter dem Pseudonym Conrad Photorin – der gräzisierten Form des Namens ‚Lichtenberg‘ – eine absurde Verteidigung der Bekehrungsversuche und zieht sie damit ins Lächerliche.[29]
Eine sehr reale Wirkung erzielte Lichtenbergs Avertissement gegen den Zauberkünstler Jacob Philadelphia, der Anfang Januar 1777 in Göttingen aufgetreten war. Lichtenbergs Plakat warb in satirischer Absicht und daher auf vollkommen übertriebene Weise für weitere Vorstellungen des Illusionisten in Göttingen, der sich dadurch zu Recht bloßgestellt fühlte und aus der Stadt floh. Das Avertissement wurde zu einer der erfolgreichsten Satiren Lichtenbergs, musste schon 1777 mehrfach nachgedruckt werden und wurde noch 1796 in der Berlinischen Monatsschrift publiziert.[30]
Im Goettinger Taschen CALENDER vom Jahr 1778 erschien unter dem Titel Ueber Physionomik [!][31] wiederum eine Streitschrift gegen Lavater, die sich gegen dessen Lehren von der Physiognomik richtete, die er 1775–1778 in den vier Bänden der Physiognomischen Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe vertreten hatte. Lichtenbergs Schrift wurde im gleichen Jahr auch als Einzeldruck veröffentlicht, jetzt unter dem Titel Ueber Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntniß.[32] Gegen Lavaters pathetisch und mit religiöser Inbrunst vorgetragene Theorie, von den feststehenden Formen des Schädels eindeutig auf den Charakter des Menschen schließen zu können, setzte Lichtenberg – wohl auch aus der Erfahrung seines eigenen Körpers heraus – die Überzeugung seiner Pathognomik,[33] nur von veränderlichen körperlichen Anzeichen für Affekte und seelische Erfahrungen Rückschlüsse auf individuelle Charaktereigenschaften ziehen zu können.
Zeitgleich mit dieser öffentlichen Auseinandersetzung mit Lavater entstand Lichtenbergs treffsichere satirische Parodie Fragment von Schwänzen. Ein Beytrag zu den Physiognomischen Fragmenten. Zunächst handschriftlich als Briefbeilage kursierend, wurde sie 1783 ohne Wissen Lichtenbergs in dem von Ernst Gottfried Baldinger herausgegebenen Neuem Magazin für Ärzte 1783 gedruckt[34] und im gleichen Jahr dann auch mit Lichtenbergs Einverständnis als Einzeldruck im Verlag von Johann Christian Dieterich veröffentlicht.[35]
1781 griff Lichtenberg im von ihm selbst und Georg Forster herausgegebenen Göttingischen Magazin der Wissenschaften und Literatur in den von Johann Heinrich Voß ausgelösten Streit ein, der im Zusammenhang seiner Odyssee-Übersetzung die Aussprache des griechischen Lauts ‚η‘ in der deutschen Transkription mit ‚ä‘ markiert wissen wollte. Lichtenbergs Streitschrift Ueber die Pronunciation der Schöpse des alten Griechenlands verglichen mit der Pronunciation ihrer neuern Brüder an der Elbe: oder über Beh, Beh und Bäh, Bäh ist der satirische Höhepunkt eines erbittert geführten Konflikts.[36]
Vor und neben diesen satirisch-polemischen Streitschriften publizierte Lichtenberg in aufklärerischen Zeitschriften, vor allem dann im eigenen Göttinger Taschen Calender und dem Göttingischen Magazin für Wissenschaften und Litteratur, zahlreiche populärwissenschaftliche und literarische Aufsätze. Die thematische Bandbreite reicht von seiner ersten 1766 gedruckten Veröffentlichung Von dem Nutzen, den die Mathematik einem Bel Esprit bringen kan[37] über die Frage Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad?,[38] die physikalisch-technische Aufklärung Ueber Gewitterfurcht und Blitzableitung[39] bis zur im Todesjahr 1799 publizierten Traumphantasie Daß du auf dem Blocksberge wärst. Ein Traum wie viele Träume.[40]
Von großer kulturgeschichtlicher Bedeutung sind Lichtenbergs Briefe aus England, die er 1776 und 1778 in der von Heinrich Christian Boie herausgegebenen Zeitschrift Deutsches Museum veröffentlichte. Die lebendigen Berichte von Theateraufführungen und die detaillierten Beschreibungen der Schauspielkunst, insbesondere des Shakespeare-Schauspielers David Garrick, sind ein zentrales Dokument für die Theatergeschichte der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und die hier einsetzende Herausbildung psychologischer Rollenverkörperung auf dem Theater.[41]
Lichtenbergs Ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche ist nicht nur seine zu Lebzeiten umfänglichste Veröffentlichung, sie blieb auch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein sein größter literarischer Erfolg und bildete die Grundlage für seinen Nachruhm bis zur postumen Veröffentlichung seiner Sudelbuchnotizen. Ab dem Jahrgang 1784 hatte Lichtenberg in seinem Göttinger Taschen Calender Jahr für Jahr bis 1796 knappe Erläuterungen zu Bildausschnitten von Hogarths Stichen erscheinen lassen. Ab 1794 erschienen im Verlag von Johann Christian Dieterich bis 1799 fünf Lieferungen der Ausführlichen Erklärung, postum fortgesetzt und redigiert in acht weiteren Lieferungen von Lichtenbergs Sohn bis 1816. Für diese Ausgabe wurden die Kupferstiche von William Hogarth von dem Göttinger Zeichner und Kupferstecher Ernst Ludwig Riepenhausen nachgestochen.[42] In Hogarths sich der Karikatur nähernden, sozial- und gesellschaftskritischen Bilderfolgen fand Lichtenberg das adäquate Widerlager für seine Beobachtungsgabe und satirisch-humorvolle Beschreibungskunst.
Anlässlich des 275. Geburtstages von Lichtenberg fand vom 1. Juli bis zum 3. Oktober 2017 in der Paulinerkirche des Historischen Gebäudes der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen unter dem Titel DingeDenkenLichtenberg eine Ausstellung statt. Sie ist als virtuelle Ausstellung weiterhin abrufbar.[75]
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