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Hörgeschädigtenpädagogik
Fachrichtung der Sonderpädagogik Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
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Die Hörgeschädigtenpädagogik ist eine Fachrichtung der Sonderpädagogik, die wiederum eine Fachrichtung der Allgemeinen Pädagogik ist. Gleichzeitig ist sie ein Teilgebiet der Audiologie. Sie beschäftigt sich mit der Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen, die einen sonderpädagogischen Förderbedarf auf Grund von Gehörlosigkeit oder Schwerhörigkeit (Sinnesbehinderung) aufweisen. Dabei umfasst sie alle Bereiche pädagogischen Handelns im Umgang mit hörgeschädigten Kindern und Jugendlichen von der Früherziehung bis zu den Hilfen der beruflichen Eingliederung. Zunehmend gewinnt auch die Erwachsenenbildung an Bedeutung.
Die Hörgeschädigtenpädagogik besteht an deutschen Universitäten als eigenständiges Forschungs- und Lehrfach. In der deutschen Hochschulpolitik gehört die Hörgeschädigtenpädagogik zur Gruppe der kleinen Fächer.[1][2] Das Fach ist an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, der Universität Hamburg und der Universität zu Köln vertreten. Seit 1997 hat sich die Anzahl der Fachstandorte und der eigenen Lehrstühle von zunächst zwei Lehrstühlen in München und Köln auf aktuell (Stand Juni 2023) fünf Lehrstühle und Standorte sukzessive erhöht. An den genannten Hochschulen wird das Fach auch im Rahmen von Bachelor- und Master-Studiengängen, oder als Teil des Lehramtsstudiums gelehrt.
Es existieren verschiedene Sichtweisen, inwiefern die Hörgeschädigtenpädagogik umgesetzt werden sollte. Während die technische (moderne Hörgeräte, Cochleaimplantat) und medizinische (soft surgery) Entwicklung sowie die auditiv-verbale Erziehung die Gebärdensprache im Schulunterricht in den Hintergrund drängt, da effektives Sprech-, Hör- und allgemeines Kommunikationstraining zur Gewährleistung der sozialen Integration und der beruflichen Eingliederung in den Vordergrund gestellt werden, propagieren Gehörlosenselbsthilfeverbände wie der Schweizerische Gehörlosenbund die „bilinguale Erziehung“, bei der sowohl Gebärdensprache als auch Lautsprache eingesetzt wird. Es sei der optimale Weg zu einem selbstbestimmten Leben.[3]
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Geschichte
Zusammenfassung
Kontext
Gehörlosenpädagogik
Kinder, die von Geburt an oder seit frühester Kindheit gehörlos sind, können die in ihrer Umwelt gesprochene Lautsprache ohne Hilfsmittel nicht wahrnehmen und somit nicht sprechen. Dieses ohne Sprache sein, wurde früher als taubstumm bezeichnet. Heute wird die Bezeichnung gehörlos bzw. taub verwendet, da sich dieses Kinder bereits über Gesten oder Gebärden seit frühester Kindheit ausdrücken können.
Diesen Kindern dennoch eine Sprache zu geben, dass sie möglichst als verständlich sprechende Gehörlose in Gemeinschaft mit ihren hörenden Mitmenschen leben zu können, und sie zu bilden, ist das Ziel der Gehörlosenpädagogik. Sie gilt als älteste Disziplin der Sonderpädagogik.
Das Suchen nach immer besseren Verfahren zur Erziehung und Bildung gehörloser Kinder vor allem für den Sprachunterricht war seither das Ziel dieser Sonderpädagogik. Diese Suche hat im Laufe der Zeit zu immer wieder anderen Systemen als Wege der Hinführung zur sprachlichen Kommunikation mit der Umwelt geführt.
Es sind bisher drei Hauptverfahren, die nicht immer rein verwendet wurden, zur Anwendung gekommen:
- lautsprachlicher Unterricht (auditiv-verbale Erziehung): Gehörlose Kinder lernen die Lautsprache und vom Mund absehen. Dazu wird die Schriftsprache der Lautsprache gelehrt.
- schriftsprachlich-daktyler Unterricht: Gehörlose Kinder lernen die Schriftform der Lautsprache. Damit sich auch ohne Papier verständigt werden kann, wird eine Fingerzeichensprache vermittelt, in der es für jeden Buchstaben ein Fingerzeichen gibt. (Fingeralphabet)
- gebärdensprachlicher Unterricht (Bimodal-bilinguale Erziehung): Dort wird eine Gebärdensprache vermittelt, in der für ein oder mehrere Wörter eine Gebärde steht. Zusätzlich wird die Schriftform der Lautsprache gelehrt.
In allen drei Verfahren lernt das Kind die Schriftsprache der Lautsprache kennen. Aber nur im lautsprachlichen und schriftsprachlich-daktylen Unterricht besteht eine Übereinstimmung zwischen gesprochener bzw. daktylierter (gefingerter) Sprache. Von diesen beiden Unterrichtsverfahren bietet nur das lautsprachliche das Rüstzeug für eine unmittelbare Kommunikation mit Angehörigen der gleichen Sprachgemeinschaft. Die Vermittlung der Lautsprache an gehörlose Kinder darum als Hauptanliegen der Gehörlosenbildung.[4]
Beginn der Lautspracherziehung gehörloser Kinder
Die Gehörlosenpädagogik kann insgesamt auf eine Geschichte von über 400 Jahren zurückgreifen. Es gab auch schon frühere Bildungsversuche, aber Pedro Ponce de León gilt als der erste welcher nicht nur 1 Schüler sondern 12 gleichzeitig unterrichtet hat. Als erster hat er damals gehörlose Kinder in Lautsprache unterrichtet und ihnen das Sprechen beigebracht. Damit hat er die Lautspracherziehung gehörloser Kinder erfunden. Spontane Lautäußerungen der Schüler und nicht die Konzentration auf die Lautsprache waren dafür zuträglich. Seine Grundlage war die Schriftsprache die mit einem Fingeralphabet aus religiösen Kreisen gegliedert wurde. Das erste Unterrichtsziel war damit seine Schüler zur schriftsprachlichen und daktylen Kommunikation zu befähigen. Erst als ein elementarer Sprachschatz erworben war, kam das Sprechen hinzu. Zusammen mit den zwei weiteren Spaniern Manuel Ramírez de Carrión (Methodiker) und Juan Pablo Bonet (Theoretiker) gilt er als erster Repräsentant (Praktiker/Erfinder) der spanischen Schule der Lautspracherziehung gehörloser Kinder (spanische Methode). Der ursprüngliche Elementarlehrer Carrión war ein erfolgreicher Gehörlosenlehrer in dem seine Schüler ein hohe Sprach- und Geistesbildung erlangten. Zusätzlich zum Lesen, Schreiben und Sprechen lehrte er sie auch ohne besondere Übungen das Absehen vom Mund. Bonet schrieb das erste Lehrbuch zur wissenschaftlichen Begründung und praktisch-methodischen Durchführung über den Unterricht gehörloser Kinder, nachdem er den Unterricht von Carrión miterlebt hatte und ihm die Erfolge von Leon bekannt waren. Daraus ergab sich der Stufengang: Alphabet, Handzeichen dazu, Sprechen der Einzellaute und danach Wortverbindungen, ein- und zweisilbige Worte, Deutung der Worte, Nomina, Verben, Zahlen, Gegensätze, Begriffsbestimmungen. Dazu gehörten dann weiterführend: Lesen, freie Lektüre, schriftliche Übungen, Sprachanwendungen, andere Unterrichtsdisziplinen, Religion. Er betont die frühe pädagogische Intervention und ein ständig mit dem Kind sprechendes Umfeld. Die drei Männer werden auch oft als Einheit verstanden, da ihre Verfahren demselben Stufengang von der Schrift über das Handalphabet zur Lautsprache folgten. Da sie die Bedeutung des Absehens der Sprache vom Mund noch nicht erkannt hatten, entwickelten und gebrauchten sie als Ersatzsystem das Fingeralphabet. Die spanische Methode entfaltete sich in der Hochzeit Spaniens, weil die Unterrichtsbedingungen ideal waren mit wenigen Schülern aus zudem gebildeten und intessierten Familien und einer guten Bezahlung, die eine intensive Betreuung der Kinder über viele Jahre hinweg möglich machte. Mit dem Verlust der politischen Vormachtstellung Spaniens war dieser Höhepunkt überschritten. Erst viel später 1800 und 1809 wurden in Barcelona und Madrid (Real Colegio de Surdo-mutos de Madrid)[5] die ersten Gehörlosenschulen gegründet.
Durch den Reisebericht von 1644 Kenelm Digbys mit einer Begegnung mit einem von Carrións Schülern, rückte nun im Spaniens vormachtübernehmenden England das Interesse für die Erziehung und Bildung gehörloser Kinder in das Bewusstsein namhafter Wissenschaftler. John Bulwer legte 1648 nach dem Studium des Reiseberichts ein Unterrichtskonzept vor, dass das spanische Verfahren durch die Hinzufügung der ocular audition (Hören mit dem Auge) erweiterte. Er brachte sein theoretisches Konzept nicht selbst zur Anwendung, aber es wurde ein wichtiger Bestandteil der Lautspracherziehung. Die beiden ersten englischen Gehörlosenpädagogen waren William Holder und John Wallis. Im Unterschied zur spanischen Methode nutzte Holger ein zweihändiges Fingeralphbet und Wallis betonte stark den Lautierunterricht ohne Absehen und Fingeralphabet. Laut George Dalgarno könne das gehörlose Kind die Sprache durch die Mutter erlernen, wenn seine Mutter die Sprache in Handzeichen anbiete und daran die Schriftbilder anbiete. Das gehörlose Kind sollte also genau so lesen und schreiben lernen, wie das hörende Kind seine Muttersprache verstehen und sprechen lernt. Er gilt als erster Vertreter eines imitativen Sprachunterrichts auf rein schriftsprachlich-daktyler Grundlage.
Zwischen England und den reich gewordenen nördlichen Niederlanden bestanden enge Beziehungen und auch kurzzeitig eine Personalunion. Dort waren bereits erfolgreich Versuche unternommen worden. Bereits Rudolf Agricola berichtete von einem Gehörlosen, der alles Aufgeschriebene verstand und seine Gedanken wie Gespräche niederschreiben konnte. Die Möglichkeit gehörlose Kinder unterrichten und Lautsprache anbilden zu können, wurde von namhaften niederländischen Gelehrten wie Anton Deusing und Franciscus Mercurius van Helmont erörtert. Dem bedeutenden Arzt Johann Konrad Ammann wurden in Amsterdam wiederholt gehörlose Kinder vorgestellt, die er dann unterrichtete. In seinen Werken schrieb er u. a. über die Ursprünge der menschlichen Stimme und die Kunst des Sprechens sowie den Weg von prälingual Gehörlosen sprechen zu lernen. Das Sprachenlernen war Unterrichtsziel. Seine Schüler konnten durch Berührung des Kehlkopfes beim Lautieren, die Vibration der Stimme abfühlen. Spiegel gehörten auch zum Artikulationsunterricht. Unterlief dem Schüler dabei ein Fehler, wurde auf den zu sprechenden Buchstaben gezeigt und der Vorgang wiederholt. Ammann baute den Lautsprachenunterricht zu einem geschlossenen Verfahren aus, welches Sprechen, Absehen, Schreiben und Lesen gleichermaßen berücksichtigt und nicht mehr auf ein Handalphabet angewiesen war. Er bewies damit das gehörlose Kinder auch ohne Hilfsmittel Sprechen lernen konnten. Die deutschen Gehörlosenpädagogen Georg Raphel, Otto Benjamin Lasius († 1779),[6][7] und Johann Ludwig Ferdinand Arnoldi richteten darauf ihren Unterricht auf Sprechen und Absehen aus. Der erste schweizer Gehörlosenpädagoge Heinrich Keller unterrichtete auch danach. Anoldi unterrichtete seine Schüler zu jeder erdenklichen Zeit nicht nur im systemischen Sprachenlernen sondern auch bei Ausflügen. Er gilt damit als bedeutendster Lehrer vor Heinicke.
Samuel Heinicke gründete 1778 in Leipzig die erste Gehörlosenschule Deutschlands und sich ausdrücklich für das Lautsprachprinzip in der Gehörlosenpädagogik (Deutsche Methode) einsetzte. Dies verteidigte er auch gegenüber Charles-Michel de l’Epée. Heinicke arbeitete nach dem Humanismus Johann Gottfried Herders. Ähnlich wie Jacob Rodrigues Pereira in Frankreich und Thomas Braidwood in England hinterließ Heinicke keine Gesamtdarstellung seines Lehrverfahrens. In den 1912 von Paul Schumann und Georg Schumann veröffentlichten Sammlung Heinickes Notizen wurde auch kein Unterrichtsverfahren veröffentlicht. Nach der Entscheidung auf dem Mailänder Kongress von 1880 zugunsten der Lautsprache und gegen die Gebärdensprache, galt Heinicke als Vorreiter.
Weiterentwicklung der Lautspracherziehung
Es dauerte noch rund 100 Jahre bis die Lautspracherziehung als bestmögliche Form der Eingliederung gehörloser Kinder in die Gesellschaft angesehen wurde. Abbe l'Épée entwarf ein gänzlich anderes System und teilte dies (anders als Heinicke) gerne mit jedem Interessierten. Daraufhin entstand ein Methodenstreit zwischen l'Épée und Heinicke. L'Épée fing 1760 mit dem Unterricht gehörloser Kinder an und eröffnete vor 1785 die erste Gehörlosenschule weltweit in Paris. Sein Unterrichtssystem hatte die Grundthesen eines Zeichencharakters der Sprachen, der Idee einer Wesensgleichheit aller Menschen und der Gedanke einer naturgemäßen Erziehung. Für ihn war die Zeichensprache die Sprache der Natur und aller Menschen und zugleich Muttersprache der Gehörlosen. Daher erschien es ihm sinnvoll, sie zur Entfaltung des Geistes seiner Schüler einzusetzen. Seine Methode wurde von der Zeichensprache und Schrift getragen sowie der Verwendung des Fingeralphabets zur Erklärung der Buchstaben und Buchstabieren von Namen. Angefangen mit dem Fingeralphabet bildeten die Zeichen den Kern seiner Methode. Diese Zeichen baute er zu einem methodischen System aus, dass sich aus Wurzelzeichen und methodischen Zeichen zusammensetzte. Die Wurzelzeichen erschlossen den Schülern die Grundbegriffe und die methodischen Zeichen vermittelten die lexikalischen, grammatikalischen und syntaktischen Gesetzlichkeiten der Sprache. Bei den Wurzelzeichen wurde auch zwischen natürlich und künstlich unterschieden. Als natürlich galten Handbewegungen, die eine Sache durch Hervorheben eines ihrer eigenen optischen Merkmale bezeichnete. Die künstlichen Zeichen dienten zur Deutung von Begriffen, die sich der sinnlichen Wahrnehmung entzogen. Damit die Schüler vom Begriff zum Satz gelangen konnten, waren die methodischen Zeichen notwendig, die zur Kennzeichnung der Wortarten, Flexionen und Syntax dienten. Angesichts des Formenreichtums der Französischen Sprache erwies es sich als notwendig, die methodischen Zeichen zu reduzieren und durch ein System von verkürzten Zeichen zu ersetzen. Dieses System von Wurzelzeichen, methodischen Zeichen und verkürzten Zeichen ist eine methodische Konstruktion, die erst in jüngerer Vergangenheit in dem von Richard Paget und Pierre Gorman für die Englische Sprache entwickelte Zeichensystem (Paget Gorman Sign System) wieder ein Gegenstück fand. Das neuere System wird zur Hilfe der Erlernung der Lautsprache verwendet, war für l'Épée die Zeichensprache das alleinige Kommunikationsmittel für Gehörlose. Er vermittelte die Schriftsprache nur als Hilfe zur Übersetzung und stellte die unmittelbare Verschriftlichung der Gedanken in Abrede. Vertreter des imitativen Sprachunterrichts wie Alexander Graham Bell und George Forchhammer haben diesen Irrtum später durch ihre Praxis widerlegt. L'Épées Veröffentlichungen beeinflussten die weitere Gehörlosenpädagogik jedoch maßgeblich. Die Hauptschwäche von l'Épées Methode behob ein Schüler und Nachfolger von Roch-Ambroise Cucurron Sicard, in dem er der Schriftsprache einen hohen Stellenwert zuwies. Der von l'Épée praktizierte Gebärdensprachunterricht und das durch die Schriftsprachunterweisung erweiterte Verfahren von Sicard gelten in der Gehörlosenpädagogik als Französische Methode. Die benutzten Zeichensysteme sind von gehörlosen Kindern leicht zu lernen, stellen es jedoch vor die Aufgabe zwei grammatikalisch und syntaktisch inkompatible Systeme verbinden zu müssen.
1760 hatte Braidwood in Edinburgh mit der Lautspracherziehung gehörloser Kinder begonnen. 1780 verlegte er dann die Schule mit seinem Neffen John Braidwood (1784–1820)[8] als Lehrer nach London. Wegen der schnell steigenden Zahl benötigte Braidwood seinen Neffen Thomas Watson (1765–1829) als weiteren Lehrer. Braidwood unterrichtete auch Schüler aus den USA. 1783 veröffentlichte der Vater eines gehörlosen Schülers Francis Green (1742–1809)[9] ein zur Vorstellung von Braidwoods Arbeit. Nach dem Tod seines Onkels veröffentlichte Watson dann 1809 sein Werk zu dessen lautsprachlich ausgerichteten Methode. Erst wurde Sprechen gelehrt und später kamen Schreiben und Lesen hinzu. Solange Sprechen noch nicht möglich war, wurden natürliche Gebärden geduldet. Watson empfahl auch ein zweihändiges Fingeralphbet. In Birmingham entstand eine weitere von Thomas Braidwood jr. († 1825) geleitete Gehörlosenschule. Diese beiden Schulen waren das Ziel von Thomas Hopkins Gallaudet. Dieser hatte das gehörlose Mädchen Alice Cogswell nach den Vorgaben Abbe Sicards unterrichtet. (Dr.) Mason Fitch Cogswell, Vater des Mädchens, sammelte interessierte Bürger um sich, um eine Schulgründung zu beraten. Diese Gruppe entsandte Gallaudet um die Lautsprachmethode der Braidwoods zu erlernen. 1815 traf Gallaudet in England ein und nahm sofort Kontakt zu Braidwood in Birmingham und Watson in London auf. Er wollte die Methode in kurzer Zeit lernen und mit der Französischen Methode kombinieren. Diese Eile stieß nicht auf Gegenliebe und es kam zum Verwürfnis. Sicard war zu der Zeit gerade mit 2 Schülern (Jean Massieu und Clerc) in London und Gallaudet wurde nach Kontaktaufnahme nach Paris eingeladen. Dort erhielt er dann eine Einführung in die Französische Methode innerhalb weniger Monate und kehrte nach Amerika zurück. Laurent Clerc wurde Gehilfe Gallaudets und sorgte für die Etablierung der Französischen Methode in den USA.
Auch in Österreich-Ungarn wurde die Gebärdensprachmethode heimisch und breitete sich auch bis nach Süddeutschland aus. Kaiser Joseph II. hatte 1777 die Arbeit l'Épées kennengelernt und beschloss auch für die österreichischen Länder eine Gehörlosenschule zu errichten. Nachdem Joseph May (1755–1820)[10] und Johann Friedrich Storck (1746–1823)[11] in Paris als Gehörlosenlehrer ausgebildet wurden, wurde 1779 unter Storck in Wien eine Gehörlosenschule eröffnet. Diese Schule führte im Königreich Österreich-Ungarn zu den Schulgründungen 1786 in Prag, 1802 in Waitzen, 1805 in Mailand, 1812 in Linz, 1830 in Lemberg und Brixen, 1831 in Salzburg, 1832 in Brünn und Graz, 1833 in Preßburg, 1840 in Görz, 1842 in Triest, 1844 in Wien-Nikolsburg, 1846 in St. Pölten und 1847 in Klagenfurt. Auch die in Süddeutschland 1804 in Freising, 1817 in Gmünd, 1784 in Karlsruhe, 1786 in Staufen und 1820 in Camberg gegründeten Gehörlosenschulen, wurden methodisch stark von der Wiener Schule (Wiener Mischmethode) beeinflusst. Anfangs fühlte sich die Wiener Schule einseitig der französischen Methode sehr stark verpflichtet. Nachdem May 1792 Direktor wurde, wurde aus sozialen Erwägungen heraus, zusammen mit Wolfgang von Kempelen, die Lautsprachbildung Teil des Unterrichts. Die wichtigsten Sprachmittel blieben jedoch Schrift, Fingeralphabet und Gebärden. Die methodischen Zeichen wurden fallen gelassen und durch mit Handzeichen verquickte Gebärden ersetzt. Da die Lautsprache trotzdem ein Randdasein fristete, lernte z. B. Hugo Schütz von Holzhausen, Gründer der Gehörlosenschule in Camberg, am Wiener Institut nicht das Sprechen. Mays Nachfolger Michael Venus (1774–1852)[12] gilt durch die Zusammenfassung der methodischen Grundsätze der Wiener Schule, seine lange Amtszeit und seiner Starrheit als typischer Vertreter dieser Schule. Sein Unterricht wurde durch genaue Anweisungen geregelt, die den Sprachaufbau gemäß dem System der Grammatik und der Gebärde als Träger des Lehrverfahrens. Venus und Franz Hermann Czech (1788–1847)[13] wurden von Franz Joseph I. beauftragt ihre Lehrart bei öffentlichen Vorträgen zu verbreiten. Czechs Werk von 1836 zu seiner Arbeit als Katechet am Wiener Institut fand eine nie dagewesene Verbreitung. Auch sah Czech, anders als Venus, die Lautspracherziehung durch das Vorhandensein der Sprechwerkzeuge und ihrer Funktionsbereitschaft in teils unwillkürlichen teils willkürlichen Lautäußerungen der gehörlosen Kinder als gerechtfertigt und vorteilhaft zur Gliederung der Schriftsprache und wegen ihrer Absehbarkeit als das sozial wichtigste Verkehrsmittel an.
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Schwerhörigen- und Gehörlosenpädagogik: Teilbereiche der Hörgeschädigtenpädagogik
Zusammenfassung
Kontext
In der Gehörlosenpädagogik wird vorrangig in Gebärdensprache unterrichtet und deutsche Schriftsprache gelehrt.
Die Schwerhörigenpädagogik (auch Audiopädagogik) ist eng mit der Gehörlosenpädagogik verbunden. Früher zum Beginn der Gehörlosenbildung wurden Schwerhörige auch teilweise mit Gehörlosen unterrichtet, da es noch nicht so viele gute Hilfsmittel gab. Heute kann die Hörgeschädigtenpädagogik auch als Oberbegriff zwischen Gehörlosenpädagogik und Schwerhörigenpädagogik begriffen werden, um einerseits Grenzen und andererseits das Spektrum zu benennen.
In der Schwerhörigenpädagogik wird häufig eher versucht, Gebärden als Hilfsmittel zur Unterstützung der Lautsprache in Form von Gebärden-unterstützter Kommunikation wie Lautsprachunterstützenden Gebärden bzw. Lautsprachbegleitenden Gebärden zu verwenden.[14] Es wird auch mit Hörtrainings z. B. in Form vieler Sprechübungen versucht, dass vorhandene Hören zu erhalten oder zu verbessern.
An der LMU München kann man beispielsweise getrennte Schwerpunkte auf Gehörlosenpädagogik oder Schwerhörigenpädagogik im Master setzen.[15] Im Bachelor erfolgt im 4. Semester eine Schwerpunktsetzung auf „Gehörlosenpädagogik“[16] oder „Schwerhörigenpädagogik“.[17][18][19][20]
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Literatur
- Peter A. Jann: Die Erziehung und Bildung des gehörlosen Kindes. Zur Grundlegung der Gehörlosenpädagogik als Wissenschaft (= Heidelberger Sonderpädagogische Schriften. Band 18). Schindele, Heidelberg 1991, ISBN 3-89149-170-0.
- Anouk Gallati Kauer, Kristina Scheffrahn: Zajra – anders als wir? Zajra, Zürich 2001, ISBN 978-3-9522279-0-9.
- Harlan Lane: Mit der Seele hören. Die Lebensgeschichte des taubstummen Laurent Clerc und sein Kampf um die Anerkennung der Gebärdensprache. dtv, München 1990, ISBN 978-3-423-11314-4 (amerikanisches Englisch: When the Mind Hears. A History of the Deaf Random House. New York 1984. Übersetzt von Martin Pfeiffer, Ungekürzte Ausgabe).
- Annette Leonhardt: Grundwissen Hörgeschädigtenpädagogik. Mit 100 Übungsaufgaben und zahlreichen Abbildungen und Tabellen. 4., vollständig überarbeitete Auflage. Ernst Reinhardt, München 2019, ISBN 978-3-8252-5062-1.
- Annette Leonhardt, Thomas Kaul (Hrsg.): Grundbegriffe der Hörgeschädigtenpädagogik. Ein Handbuch. Kohlhammer, Stuttgart 2022, ISBN 978-3-17-037234-4.
- Oliver Sacks: Stumme Stimmen. Reise in die Welt der Gehörlosen. Rowohlt E-Book, Reinbek 2019, ISBN 978-3-644-00089-6 (amerikanisches Englisch: Seeing Voices. A Journey Into the World of the Deaf House. Berkeley 1989. Übersetzt von Dirk van Gunsteren).
- Klaus Schulte: Standortbestimmungen. Für Forschung, Lehre und Praxis der Gehörlosenpädagogik und der Schwerhörigenpädagogik. Neckar, Villingen-Schwenningen 1995, ISBN 3-7883-0282-8.
- Maria Wallisfurth: Lautlose Welt – Das Leben meiner gehörlosen Eltern. Droemer Knaur Taschenbuchverlag, München 2005, ISBN 3-426-77781-9.
- Annette Leonhardt & Kirsten Ludwig: 200 Jahre Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogen(aus)bildung in Bayern – Vom Jahreskurs zum interdisziplinären Studium an der Universität. median-verlag, München 2017, 224 Seiten, ISBN 978-3-941146-72-3.
Weblinks
Siehe auch
Einzelnachweise
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