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Graphitmoderierter Kernreaktor

Art eines nuklearen Reaktors Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Graphitmoderierter Kernreaktor
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Ein Graphit-moderierter Kernreaktor[1][2][3] ist ein Kernreaktor, der Graphit als Neutronenmoderator verwendet. Die Kernreaktoren werden auch als englisch gas-cooled reactor (GCR) Gas-gekühlter Kernreaktor bezeichnet, da die thermische Wärmeabfuhr (Kühlung) durch ein Fluid (Gas oder Wasser) erfolgt.

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Der Reaktor in Oak Ridge (Clinton Works) war ein gasgekühlter, graphit-moderierter Kernreaktor, der kurz nach CP-1 gebaut wurde und zum Vorbild für weitere Reaktoren (Hanford) wurde. Die Reaktordesigner waren u. a. die Physiker A. M. Weinberg und E. P. Wigner. Auf dem Foto ist die Vorderseite mit der Beladebrücke zu sehen. Im Vergleich zu den Dummys erkennt man die Größe des Reaktors. Diese beschicken den Reaktor mit Uranbrennstäben. Der Reaktor verfügte über 1.248 Kanäle, davon waren über 700 für Uran vorgesehen, das insgesamt ca. 54 Tonnen ausmachte.
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Geschichte

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GCR-Reaktoren wurden zwischen 1942 und ca. 1970 entwickelt und zählen zur 1. und 2. Reaktorgeneration. Der erste graphit-moderierte Reaktor Chicago Pile 1 (CP-1) wurde von Enrico Fermi und Team erbaut, welcher am 2. Dezember 1942 kritisch wurde. Der CP-1 war der erste Kernreaktor der Welt. Fermi gelang es, eine sich selbst erhaltende (divergierende) Kettenreaktion mit diesem Spaltstoffstapel zu erzeugen.[4]

Bekannte Forschungsreaktoren waren der Reaktor BEPO[5] in Harwell, Großbritannien, der X-Reaktor am Standort Oak Ridge oder der Reaktor am Brookhaven National Laboratory (BNL). Mit diesen Reaktoren entwickelte sich die Kerntechnik, die Neutronenphysik, sowie die Reaktorphysik zu einem eigenständigen Fachgebiet.

GCRs wurden teilweise für eine Doppelnutzung eingesetzt, viz. zur Produktion von Spaltmaterial und zur Gewinnung von Energie (Elektrizität). Bekannte Beispiele sind die Power Station Calder Hall und das sowjetische Kernkraftwerk Obninsk, wobei Obninsk kein Produktionsreaktor war. Viele weitere Reaktoren wurden in dem Jahrzehnte kritisch und hatten Betriebszeiten von über 40 Jahren.

Deutsches Atombombenprojekt

Beim deutschen Atombombenprojekt (Uranprojekt) während des Zweiten Weltkriegs wurde aufgrund der Kontamination des damals erhältlichen Graphits mit geringen Mengen an Bor und Cadmium (welche beide starke Neutronengifte sind) die Eignung von Graphit als Moderator nicht erkannt[6], weswegen auf die (zu damaligen Zeiten) schwierigere Route eines Schwerwasserreaktors gesetzt wurde, was – unter anderem aufgrund nicht ausreichend verfügbarem schweren Wasser – bis zum Ende des Krieges verhinderte, dass die Nationalsozialisten einen Reaktor bauen konnten, der Kritikalität erreichen sollte. Der Reaktor allein ist jedoch nicht ausreichend für eine Kernwaffe.

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Design

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Grundlegender Aufbau und Elemente eines Graphit-moderierten Kernreaktors.

Graphit-moderierte Reaktoren sind typischerweise größer als Leichtwasserreaktoren, da die moderierenden Eigenschaften von Graphit weniger ausgeprägt sind als die des Wasserstoffs in dem leichten Wassermolekül H2O oder auch in dem schweren D2O. Moderne Druckwasser- (PWR) oder Siedewasserreaktoren (BWR) sind jedoch um ein Vielfaches leistungsstärker, wobei der Reaktorkessel etwas kleiner als die Anordnung von Graphit und Kanälen zur Beladung mit Uran ist.

Im Falle des GCR ist die Konfiguration des Reaktorkerns, speziell das Uran zu Graphit Verhältnis, entscheiden für seinen Betrieb.

Graphit-basierte Kernreaktoren, die ohne Kühlungssystem auskommen, werden auch als englisch graphite pile Graphitstapel bezeichnet. Derartige Kernreaktoren oder Anordnungen spaltbaren Materials wurden speziell für Versuchszwecke experimentell erprobt. Typische Anordnungen waren Uran-Graphit-Würfel mit Mindestdimensionen von 6 m3 und einer Uran-Beladung von mehreren hundert Kilogramm, um kritisch zu werden.[7][8] Häufig wurden, wie im Falle des CP-1-Reaktors, verschiedene Brennstoffe getestet, beispielsweise gewöhnliches Uran oder Urandioxid. Die Entwicklung der Kernbrennstoffe und die Technologie der Brennelemente standen damals noch am Anfang. Die Produktionsanlagen in Hanford haben Plutonium als Kernbrennstoff verfügbar gemacht.

Kernbrennstoff

Graphit-moderierte Reaktoren können so gebaut werden, dass ein Betrieb mit Natururan möglich ist. Im konkreten Fall war dies zu Beginn des Nuklearzeitalters von Vorteil, da keine großen Urananreicherungskapazitäten zur Verfügung standen. Mit anderen Worten: Die Mehrzahl der GCR-Reaktoren wird mit natürlichem oder nur schwachangereichertem Uran als Brennstoff betrieben.

Nukleargraphit

Für GCR-Reaktoren kommt nur spezieller Graphit, auch bekannt als Nukleargraphit, zum Einsatz. Dieser muss speziellen Anforderungen an die Reinheit u. a. entsprechen. Der Grund für Graphit ist, dass es von der Chemieindustrie in den gewünschten Mengen und Qualitäten (Nukleargraphit) geliefert werden kann. Für andere Moderatoren, wie z. B. schweres Wasser D2O, ist eine relativ aufwendige Isotopentrennung notwendig. Heutzutage stellt dies jedoch technisch kein Problem mehr dar.

Graphit ist brennbar und unterliegt einer Verschiebung von Atomen durch Neutronenstrahlung und der Speicherung von Energie, bekannt als Wigner-Effekt. Daher muss der Graphit in einem Niedertemperaturreaktor (z. B. BEPO-Forschungsreaktor) bei höheren Temperaturen angelassen werden. Bei Leistungsreaktoren, z. B. Calder Hall, ist dieses Problem weniger ausgeprägt, da die höheren Temperaturen zu einer Art Selbstheilung führen. Bei den Reaktoren der Windscale Works kam es jedoch 1957 zu einem Reaktorunfall, siehe auch Windscale-Brand.

Da Graphit brennbar ist und – unter anderem durch Neutronenbeschuss – im Betrieb erheblich erhitzt wird, muss Sorge getragen werden, dass das Graphit nicht in Kontakt mit Sauerstoff oder Wasser gerät (heißer Kohlenstoff und Wasser wurden im 19. und frühen 20. Jahrhundert zur Produktion so genannten Wassergases genutzt und erzeugten eine giftige und explosive Mischung aus Wasserstoffgas und Kohlenstoffmonoxid), da es sonst zu einem Graphitbrand kommen kann, welcher Radionuklide mit den Rauchgasen weit verteilen kann. Sowohl beim Windscale-Brand als auch beim Reaktorunglück von Tschernobyl kam es zu Graphitbränden. Allerdings besteht bei Vorhandensein von Wasser (unabhängig ob „normales“ leichtes oder schweres Wasser) die Möglichkeit einer Reaktion vom Schema Metall + Wasser  Metallhydrid + Sauerstoff bzw. Metall + Wasser  Metalloxid + Wasserstoff und einer dadurch entstehenden Knallgasreaktion. Auch kann bei ausreichend hohen Temperaturen, bzw. bei Einwirkung entsprechender ionisierender Strahlung (Radiolyse) Wasser dissoziieren und ebenfalls zündfähiges Knallgas bilden. Sowohl beim Unfall von Fukushima als auch beim Unfall von Tschernobyl kam es zu Knallgasexplosionen.

Dampfblasenkoeffizienten

Manche Graphit-moderierte Reaktoren mit Wasserkühlung, speziell der sowjetischen Baureihe RBMK, besitzen einen positiven Dampfblasenkoeffizienten. Das bedeutet, dass bei Entstehung von Dampfblasen im Kühlwasser die Leistung ansteigt. Aus diesem Grund kann sich ein Leistungsanstieg selbst verstärken (positive Rückkopplung), was im Störfall zur Katastrophe führen kann. Heliumgekühlte graphit-moderierte Kernreaktoren, wie der Hochtemperaturreaktor, sind wegen des gasförmigen Kühlmittels von diesem Risiko nicht betroffen. Die Verwendung des chemisch inerten Kühlmittels Helium hat weiterhin den Vorteil, dass die Reaktion von Graphit mit Wasser oder Luftsauerstoff unwahrscheinlicher gemacht wird.

Flüssigmetall

Obwohl auch die Kühlung mittels Flüssigmetall (z. B. die Legierung „NaK“, Blei-Bismut oder gar Quecksilber) verschiedentlich vorgeschlagen wurde, wurde bei tatsächlich umgesetzten Projekten im Wesentlichen auf Wasser- oder Gaskühlung gesetzt. Flüssigmetall-Reaktoren wurden eigenständig weiterentwickelt und erprobt.

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Sowjetische RBMK-Reaktoren

Der sowjetische RBMK-Reaktor, unter der Federführung von N. A. Dolleschal entwickelt, wurde damals als – vermeintlich – schnell zu bauender und billig zu betreibender Reaktor darauf ausgelegt, ohne schweres Wasser oder Urananreicherung betreibbar zu sein. Zusätzlich waren die Anlagen fähig Plutonium (für das sowjetische Atombombenprogramm) zu produzieren und große Mengen elektrischer Energie zu produzieren. Dabei wurde auf Kosten der Sicherheit Kompromisse eingegangen. Als eines der größten Reaktorunglücke weltweit, ist hier das Unglück von Tschernobyl in dem Jahr 1986 zu erwähnen. Die meisten anderen RBMK-Reaktoren wurden jedoch umgerüstet und so sicherheitstechnisch verbessert[9], dass sie teilweise noch bis ins Jahr 2020 oder sogar darüber hinaus liefen.

GCR-Reaktoren (Beispiele)

Zum Beispiel gibt bzw. gab es folgende GCR-Kernreaktoren:

Wassergekühlt

Gasgekühlt

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Literatur

Fachbeiträge

  • Christopher Hinton: The Graphite-Moderated, Gas-Cooled Pile and Its Place in Power Production. In: Proceedings of the International Conference on the Peaceful Uses of Atomic Energy. 3 Power Reactors, 1955 (englisch, un.org [PDF]).
  • Joseph R. Dietrich, Walter H. Zinn: Solid Fuel Reactors (= Addison-Wesley Books in Nuclear Science and Metallurgy). Addison-Wesley, 1958 (englisch).
  • Robert L. Loftness: Nuclear Power Plants. D. Van Nostrand Company, New York 1964 (englisch).
  • W. Marshall (Hrsg.): Volume 1: Reactor technology (= Nuclear power technology. 1 v. 3). Clarendon Press ; Oxford University Press, Oxford 1983 (englisch).
  • Pavel V. Tsvetkov: Graphite‐Moderated Fission Reactor Technology. In: Steven B. Krivit, Jay H. Lehr, Thomas B. Kingery (Hrsg.): Nuclear Energy Encyclopedia. 1. Auflage. Wiley, 2011, ISBN 978-0-470-89439-2, S. 187–192, doi:10.1002/9781118043493.ch20 (englisch).
  • J.W. Dawson, M. Phillips: Gas-cooled nuclear reactor designs, operation and fuel cycle. In: Nuclear Fuel Cycle Science and Engineering. Elsevier, 2012, ISBN 978-0-85709-073-7, S. 300–332, doi:10.1533/9780857096388.3.300 (englisch).
  • Paul Breeze: Gas-Cooled Reactors. In: Nuclear Power. Elsevier, 2017, ISBN 978-0-08-101043-3, S. 45–51, doi:10.1016/B978-0-08-101043-3.00005-5 (englisch).

Nukleargraphit

  • W.P. Eatherly: Nuclear graphite—The first years. In: Journal of Nuclear Materials. Band 100, Nr. 1–3, September 1981, S. 55–63, doi:10.1016/0022-3115(81)90519-5 (englisch).
  • Barry J. Marsden, Graham N. Hall, Abbie N. Jones: Graphite in Gas-Cooled Reactors. In: Comprehensive Nuclear Materials. Elsevier, 2020, ISBN 978-0-08-102866-7, S. 357–421, doi:10.1016/B978-0-12-803581-8.00729-3 (englisch).
  • Steve Johns, William E. Windes, David T. Rohrbaugh, David L. Cottle: High temperature annealing of irradiated nuclear grade graphite. In: Journal of Nuclear Materials. Band 579, Juni 2023, S. 154377, doi:10.1016/j.jnucmat.2023.154377 (englisch).
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Einzelnachweise

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