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Pierre Overney
französischer Arbeiter und Maoist, der vom Renault-Werkschutz erschossen wurde Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
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Pierre Maxime Elie Overney (* 27. April 1948 in Montcornet, Département Aisne; † 25. Februar 1972 in Boulogne-Billancourt, Département Hauts-de-Seine)[1] war ein französischer Arbeiter und Maoist, der von einem Angehörigen des Werkschutzes von Renault in Billancourt erschossen wurde.

Leben
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Pierre Overney wurde am 27. April 1948 als Sohn des Landarbeiters Gustave Overney und dessen Ehefrau Simone Delabrosse geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte Overney mit seinen Eltern und vier Geschwistern in verschiedenen Orten in der Picardie, wo die Familie in bescheidenen Verhältnissen lebte. Die Schule verließ Overney mit 14 Jahren. Sehr früh bereits half er seinem Vater bei der Landarbeit. Er begann eine Ausbildung an einer Berufsschule in Château-Thierry, die er aber nach zwei Jahren ohne Abschluss beendete. Anschließend war er einige Zeit als angelernter Arbeiter (Ouvrier spécialisé) bei dem Unternehmen Erka in Charly-sur-Marne tätig, das Autoanhänger herstellte, danach in Château-Thierry bei der Keksfabrik Belin.[2]
1966 zog er nach Paris, wo er im 15. Arrondissement wohnte. Er trat eine Stelle im Citroën-Werk in demselben Stadtteil an, wo er Zahnräder für Getriebe fräste. Im Januar 1968 wurde er zum Militärdienst eingezogen, den er als Hundeführer an der Grenze zu Belgien bei Valenciennes absolvierte. Wegen Befehlsverweigerung musste er zwei Monate zusätzlich abdienen. Während des Pariser Mais 1968 nutzte er einen Heimaturlaub, um in Zivil gemeinsam mit Streikenden zu demonstrieren. 1969 wurde er aus der Armee entlassen und kehrte an seinen Arbeitsplatz bei Citroën zurück. Dort trat er der linksradikalen Gruppe Gauche prolétarienne (GP) bei, die sowohl maoistische als auch antiautoritäre Ansätze verfolgte, und war fortan für diese sehr aktiv. 1969 wurde er von Citroën entlassen, nachdem er die Autos von Vorgesetzten vandalisiert hatte. Er fand eine Anstellung als Lieferfahrer für eine Werbeagentur, wurde jedoch bereits nach einem Monat entlassen, nachdem seine Aktivitäten bei Citroën dem neuen Arbeitgeber bekannt geworden waren.[2]
Am 7. November 1969 wurde er bei Renault eingestellt, wo er im Werk auf der Île Seguin in der Abnahmekontrolle von Motoren arbeitete. Im Juni 1970 wurde sein Vorgesetzter Drouin von Aktivisten der GP-Zeitung La Cause du Peuple, die allerdings keine Werksangehörigen waren, mit Farbe übergossen. Overney beteiligte sich an diversen Handgreiflichkeiten, unter anderem im Februar 1970 zur Durchsetzung von Gratis-Fahrten mit der Métro und in Auseinandersetzungen mit der seinerzeit eng mit der Kommunistischen Partei verbundenen Gewerkschaft CGT, die bei Renault dominierte. Auch außerhalb des Citroën-Werks war er aktiv bei Demonstrationen, insbesondere nach dem Verbot von La Cause du Peuple im Frühjahr 1970 und der Inhaftierung von GP-Angehörigen wie Alain Geismar. Im Mai 1970 verteilte er Waren, die GP-Mitglieder bei einem Angriff auf eine Luxus-Feinkosthandlung erbeutet hatten, an die Bewohner eines Elendsviertels von Nanterre. Einige Monate war er als Arbeiter-Korrespondent im Redaktionskomitee von La Cause du Peuple tätig.[2]
Am 23. Juni 1970 wurde er von Renault entlassen, nachdem er von zwei Renault-Mitarbeitern denunziert worden war, denen er ein Exemplar von La Cause du Peuple verkauft hatte. Danach arbeitete er zunächst als Fahrer für die Werbeagentur TBWA, danach bis September 1971 als Zeitarbeiter für das Werk des Reifenherstellers Kléber in Bois-Colombes. Er war allerdings weiterhin im Umfeld des Renault-Werks Billancourt tätig, organisierte für die GP kleinere Sabotageakte und demonstrierte vor dem Werk. Er verteilte Flugblätter des „Renault-Palästina-Komitees“ und war an einer Aktion beteiligt, bei der am 14. Februar 1972 Jean-Paul Sartre in das Werk Billancourt eingeschleust wurde, um in Begleitung von Journalisten gegen die Situation der Arbeiter zu protestieren. Zum Zeitpunkt seines Todes arbeitete er als Lieferfahrer für das Wäschereiunternehmen Blanchisseries de Grenelle.[2]
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Todesumstände
Am 25. Februar 1972 versuchten mehrere Angehörige der GP, darunter Overney, am Ende der Morgenschicht auf der Avenue Émile-Zola gewaltsam in das Renault-Werk Billancourt einzudringen, um Flugblätter für eine Demonstration zum Andenken an das Massaker der Metrostation Charonne von 1962 zu verteilen.[2] Als die Maoisten, teilweise mit Stangen oder Knüppeln bewaffnet, ein paar Meter durch das Werktor traten, wurden sie von mehreren Angehörigen des Werkschutzes angehalten.
Gegen 14:30 Uhr bedrohte Overney aus einem Abstand von zwei bis drei Metern einen Angehörigen des Werkschutzes, Jean-Antoine Tramoni, mit dem hocherhobenen Stiel einer Hacke. Tramoni tötete daraufhin Overney mit einem Pistolenschuss in die Brust. Das Geschehen wurde von dem anwesenden Journalisten Claude-François Jullien des Nouvel Observateur dokumentiert und von Christophe Schimmel von der Agence de presse Libération (APL) fotografiert.
Overneys Grab befindet sich auf dem Friedhof Père-Lachaise (59. Division).
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Nachwirkungen
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Massendemonstration beim Trauerzug

Overneys gewaltsamer Tod führte zu einer Demonstration vieler tausend Menschen am 4. März 1972 durch Paris, als der Sarg von der Place de Clichy auf den Friedhof Père-Lachaise gebracht wurde. Polizeiangaben zufolge bestand der Trauerzug aus etwa 18.000 Personen; die Veranstalter nannten eine Zahl von 400.000 Teilnehmern,[3] das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel schrieb 2008 von 200.000 Teilnehmern.[4] Mehrere sonst eher verfeindete Organisationen demonstrierten gemeinsam, darunter neben der GP bzw. La Cause du Peuple die trotzkistischen Gruppen Ligue Communiste, Lutte Ouvrière und Alliance marxiste révolutionnaire sowie die linkssozialistische PSU.[3] Im Trauerzug marschierten zahlreiche Prominente, darunter die Schriftstellerin Marguerite Duras, die Schauspielerin Simone Signoret, der Filmregisseur Jean-Luc Godard und der Philosoph und Publizist André Glucksmann.[4]
Zu weitergehenden Massenprotesten kam es nicht, da die im Renault-Werk vorherrschende Gewerkschaft CGT, die damals der auf einen parlamentarischen Erfolg hinarbeitenden Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF) nahe stand, sich den Protesten nicht anschloss.[5] Diese Entwicklung wurde teilweise als ein sichtbarer Schlusspunkt der 68er-Bewegung rezipiert.
Nogrette-Entführung
Am 8. März 1972 entführte der bewaffnete Arm der GP, die Nouvelle Résistance populaire, den stellvertretenden Direktor für Öffentlichkeitsarbeit von Renault, Robert Nogrette, ließ ihn jedoch 48 Stunden später wieder frei. Diese unter den Entführern und ihren Sympathisanten umstrittene Entscheidung wird als maßgeblich dafür angesehen, dass die französische radikale Linke nicht in eine breite Welle des Linksterrorismus abglitt, wie dies zu etwa derselben Zeit in Italien (Anni di piombo, „bleierne Jahre“) oder der Bundesrepublik Deutschland geschah.[3]
Prozess, Verurteilung und Ermordung Tramonis
Der Prozess gegen Jean-Antoine Tramoni, der Overney erschossen hatte, fand im Januar 1973 statt. Tramoni war 38 Jahre alt, ehemaliger Unteroffizier, hatte am Algerienkrieg teilgenommen und bezeichnete sich selbst als „begeisterten Schützen“. In der Verhandlung stellte sich heraus, dass Tramoni offiziell bei Renault gar keinem werksinternen Sicherheitsdienst angehörte. Seine offizielle Aufgabe war vielmehr die Verwaltung des Unterhalts der Umkleideräume und der Wachlokale. Gewerkschafter sagten allerdings aus, sie hätten gesehen, wie Tramoni aus dem Innern eines Renault-Dienstwagens Demonstranten fotografiert habe; die Zeugen konnten auch das Kennzeichen des Fahrzeugs benennen. Im Verlauf des Prozesses beteuerte der Président-directeur général von Renault, Pierre Dreyfus, es gebe in dem Unternehmen „keine Arbeitgebermiliz“ („Il n’y a pas de milice patronale“; das Wort milice wird in Frankreich mit der Milice française des Vichy-Regimes assoziiert).
Tramoni trug eine Pistole, obwohl er weder innerhalb noch außerhalb des Werks zum Führen einer Schusswaffe befugt war. Die Waffe war nicht registriert. Der tödliche Schuss, so sagte er vor Gericht aus, habe sich „von selbst gelöst“. Die Waffe sei, so der Angeklagte, entsichert gewesen, weil man „im Krieg“ die Waffe nicht sichere. Die Gerichtsreporterin des Nachrichtenmagazins Le Nouvel Observateur hob hervor, dass die Polizei erst über eine Stunde nach dem Tod Overneys am Tatort eingetroffen sei, Tramoni erst weitere zweieinhalb Stunden später in Polizeigewahrsam genommen habe und zahlreiche Augenzeugen nicht vernommen habe.[6]
Tramoni wurde schließlich zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt, von der er bereits acht Monate in Untersuchungshaft verbracht hatte.[6] Ende Oktober 1974 wurde er vorzeitig entlassen. Anschließend arbeitete er als Fahrlehrer in Limeil-Brévannes im Großraum Paris. Dort wurde er am frühen Abend des 23. März 1977 ermordet, als er die Fahrschule verließ, um nach Hause zu fahren. Die Täter gaben von einem Motorrad aus mehrere Schüsse aus einer großkalibrigen Pistole auf den dreifachen Familienvater ab. Zu der Tat bekannte sich noch an demselben Abend die bis dahin unbekannte Terrororganisation Noyaux armés pour l’autonomie populaire (NAPAP). In dem bei der Nachrichtenagentur AFP eingegangenen Bekenneranruf wurde Tramoni als „Symbol des ungeahndeten Arbeitgeber-Terrors“ (« symbole de la terreur patronale impunie ») bezeichnet. Angesichts des Umstands, dass Limeil-Brévannes einen kommunistischen Bürgermeister hatte, der wenige Tage vor der Ermordung Tramonis an der Spitze eines Wahlbündnisses mehrerer Linksparteien wiedergewählt worden war, wurde die Ermordung auch als Provokation der maoistischen Täter gegenüber der KPF und ihren Bündnispartnern gewertet.[7] Die Täter wurden nie identifiziert.[6]
Selbstauflösung der Gauche prolétarienne
Die Gauche prolétarienne löste sich am 1. November 1973 auf, was als Folge des gewaltsamen Todes von Overney gewertet wird, insbesondere in Anbetracht der Spannungen zwischen der Führung der Organisation, die tödliche Gewalt ablehnte, und jenen, die solche Gewalt als Reaktion auf Overneys Tod befürworteten. Allerdings trugen auch andere, äußere Ereignisse zu der Entscheidung bei, so das Münchner Olympia-Attentat, dessen Täter zuvor von den französischen Maoisten ideologisch unterstützt worden waren, von dem sie sich aber drastisch distanzierten.[8]
Am 17. November 1986 erschoss ein „Kommando Pierre Overney“ der Terrororganisation Action Directe den Direktor der Renault-Werke Georges Besse vor dessen Haustür.[3][9]
Buch M. Sportès 2008
Der 1947 geborene Schriftsteller Morgan Sportès veröffentlichte 2008 ein dokumentarisches, ironisch als „Roman“ bezeichnetes Buch mit dem Titel Ils ont tué Pierre Overney („Sie haben Pierre Overney umgebracht“). In dem Werk beschuldigt Sportès die intellektuellen Vordenker und Gründer linksradikaler Organisationen wie der GP, die selbst dem Bildungsbürgertum stammten und sich nicht selbst in Gefahr brachten, Angehörige des Proletariats bzw. der Arbeiterklasse wie Pierre Overney für ihre ideologischen Zwecke missbraucht zu haben, indem sie sie zu gewalttätigen Aktionen anstifteten und in Straßenschlachten schickten, und damit beispielsweise am Tod Overneys wesentliche Mitschuld zu tragen.[4]
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Literatur
- Morgan Sportès: Ils ont tué Pierre Overney. Grasset, Paris 2008, ISBN 978-2-246-71201-5.
- Groupe pour la fondation de l’Union des communistes de France marxistes-léninistes: A propos du meurtre de Pierre Overney : Renault-Billancourt, quelques problèmes fondamentaux du prolétariat révolutionnaire. F. Maspero, Paris 1972.
Weblinks
Commons: Pierre Overney – Sammlung von Bildern
Einzelnachweise
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