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deutscher Rhetor, Hochschullehrer, Schriftsteller, Übersetzer, Kritiker und Literaturhistoriker Aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Walter Jens (* 8. März 1923 in Hamburg; † 9. Juni 2013 in Tübingen) war ein deutscher Altphilologe, Literaturhistoriker, Schriftsteller, Kritiker und Übersetzer. Er war Ordinarius für Rhetorik an der Eberhard Karls Universität Tübingen (1963–1988), Präsident des PEN-Zentrums Deutschland (1976–1982 und 1988–1989) und Präsident der Akademie der Künste zu Berlin (1989–1997).
Walter Jens war der Sohn eines Bankdirektors und einer Lehrerin. Ab 1929 besuchte er die koedukative Grundschule Breitenfelder Straße 35 in Hamburg-Eppendorf, die Hälfte seiner Mitschüler war jüdischen Glaubens.[1] Von 1933 bis zum Abitur 1941 war er Schüler der Hamburger Gelehrtenschule des Johanneums, dort freundete er sich mit Ralph Giordano an. Von 1941 bis 1945 studierte Jens Germanistik und Klassische Philologie – zunächst in seiner Heimatstadt Hamburg, ab April 1943 in Freiburg im Breisgau. Zu seinen akademischen Lehrern zählten Bruno Snell und Martin Heidegger. Wegen seines schweren Asthmaleidens wurde er nicht zum Kriegsdienst in der Wehrmacht eingezogen. In der Zeit des Nationalsozialismus war Jens Mitglied der Hitlerjugend und von Kameradschaften des NS-Studentenbundes. In Hamburg war er Teil der Kameradschaft Hermann von Wissmann, in Freiburg der Kameradschaft Friedrich Ludwig Jahn.[2] Am 20. November 1942 beantragte er die Aufnahme in die NSDAP und wurde rückwirkend zum 1. September desselben Jahres aufgenommen (Mitgliedsnummer 9.265.911).[3][4][5]
Er war seit seiner Jugend vom Fußball begeistert. Er besuchte Spiele des Eimsbütteler TV, eines Hamburger Stadtteilklubs. Später war er Torwart in einer Freiburger Studentenmannschaft.[6]
„Was sollte denn schon aus einem Asthmatiker werden, der ein volles Viertel seiner Schulzeit in Sanatorien zubringen mußte (und es mit Freuden tat: Kindersanatorium Schwester-Frieda-Klimsch-Stiftung, Königsfeld im badischen Schwarzwald – ein Refugium, wo ich geborgen war)? Wie hätte einer bestehen können, der verloren war für die heroische Zeit, weil er Bronchovydrin und Alludrin in hohen Dosen brauchte, um überhaupt existieren zu können – und der zugleich doch seiner Krankheit dankbar war, weil sie ihn vorm Marschieren bewahrte und er zeitlebens nie eine Waffe in die Hand nehmen mußte?“
Am 8. Dezember 1944 wurde Jens an der Universität Freiburg bei Karl Büchner mit einer Arbeit über die sophokleische Tragödie „in abgekürztem Verfahren“ promoviert.[8] Das Rigorosum fand in einem Luftschutzkeller statt.[9] Von 1945 bis 1949 arbeitete er als Wissenschaftlicher Assistent in Hamburg und Tübingen. Sein erster literarischer Text Das weiße Taschentuch erschien 1947 unter dem Pseudonym Walter Freiburger. Jens habilitierte sich 1949 im Alter von 26 Jahren mit der nicht gedruckten Schrift Tacitus und die Freiheit an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Ab 1950 gehörte er zur „Gruppe 47“; in diesem Jahr gelang ihm der Durchbruch mit dem Roman Nein. Die Welt der Angeklagten. Der Verleger Ernst Rowohlt hatte ihn bereits 1948 dazu engagiert, einen Roman zu schreiben.
„Die Bedingungen waren erfreulich. 300 Reichsmark im Monat, außerdem, das war das Wichtigste, 1000 Blatt holzhaltig-graues Papier. Ich ging an die Arbeit, machte Notizen, skizzierte das Schema der Komposition und schrieb das Buch, im Mai 1949, in ganzen drei Wochen: 16 Seiten pro Nacht, mit Bleistift auf Rowohlts Holzblattpapier; mehr Zeit stand dem Habilitanden Jens nicht zur Verfügung.“
Jens protestierte mit diesem Roman gegen ein utopisches Modell totalitärer Macht. Hauptfigur ist Walter Sturm, ein ehemaliger Dozent und Literat, der das Werk Franz Kafkas mehr als alles andere liebt. Diesem erklärt der oberste Richter und Machthaber des Staates, dass es „auf der ganzen Welt nur Angeklagte und Zeugen und Richter gibt.“[11] Der Roman entstand unter dem Eindruck des Nationalsozialismus und Stalinismus. Die Kritik zeigte sich begeistert, das Buch wurde in Frankreich von Émile Favre dramatisiert und erhielt in dieser Fassung den Preis der Amis de la liberté.[12] 1951 heirateten Walter Jens und die Literaturwissenschaftlerin Inge Puttfarcken (1927–2021). Das Ehepaar bekam zwei Söhne, den Journalisten Tilman Jens (1954–2020) und den Fernsehredakteur Christoph Jens (* 1965).[13]
Als Altphilologe suchte Jens die Bedeutung der antiken Göttermythen und der neutestamentlichen Gottesgeschichte für aktuelle Fragen nach Wahrheit und Frieden durch Übersetzungen griechischer Literatur und der Bibel zu erweisen.[14] 1956 wurde Walter Jens als außerplanmäßiger Professor für Klassische Philologie an die Universität Tübingen berufen. In seiner Erzählung Das Testament des Odysseus (1957) deutete er die antike Gestalt um. Odysseus wird zu einem Antihelden, der seinem Enkel Prasidas einen Lebensbericht überliefert. Er ist nicht der tapfere Abenteurer, sondern ein Pazifist, der das Gemetzel verabscheut und den Trojanischen Krieg mit allen Mitteln verhindern will. Doch er scheitert.
„Es war ein Bild des Schreckens, Prasidas. Die Stadt brannte noch immer. Plündernde Trupps durchkämmten die Häuser – drei Tage lang durften sie tun, was sie wollten; auf der Straße lagen Kinder mit offenem Mund, die Bälle, Klötze und Puppen noch im Arm; aus halb zertrümmerten Häusern drangen die Schreie der Verwundeten […]“
Mit der Rede Plädoyer für das Positive in der modernen Literatur eröffnete Jens 1961 die Frankfurter Buchmesse. 1962 wurde er ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. In dem fiktiven Briefwechsel Herr Meister. Dialog über einen Roman untersuchte Jens die Möglichkeit dichterischer Produktion: Die Protagonisten, ein Literaturwissenschaftler und ein Dichter, erörtern ein scheiterndes Romanprojekt.[16] Von 1963 bis 1988 hatte Jens den bundesweit ersten Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik an der Eberhard Karls Universität Tübingen inne, der eigens für ihn eingerichtet worden war – den ersten dieser Art in Deutschland überhaupt seit 1829. Er war zugleich Direktor des Seminars für Allgemeine Rhetorik. Zu seinen Schülern gehörten Wilfried Barner, Volker Jehle, Karl-Josef Kuschel sowie Gert Ueding, welcher die Nachfolge auf Jens' Lehrstuhl antrat.
Unter dem Pseudonym Momos verfasste Jens von 1963 bis 1985[17] fast wöchentlich Fernsehkritiken für die Wochenzeitung Die Zeit. Seit 1965 war er Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg. In der Gruppe 47 avancierte er zum gefürchteten Kritiker bei den Vorlesungen. Martin Walser beschrieb 1966 in seinem Brief an einen ganz jungen Autor satirisch seinen Umgang mit den Texten:
„[…] vor allem aber wird er Dein Vorgelesenes immer wieder in die Luft werfen und wird das Vorgelesene in der Luft verfolgen lassen von einem Geschwader heftig dröhnender Substantive, die im Verbandsflug geschult sind […] Erstaunt also und ergriffen wirst Du zusehen, das weiß ich jetzt schon, wenn er in stürmischer Genauigkeit mit Dir umgeht; an Kinski oder Demosthenes wirst Du denken […]“
1971 wurde Jens in den Gründungssenat der Universität Bremen berufen. Er verstand sich als „Literat und Protestant“.[19] Präsident des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland war er von 1976 bis 1982 und nochmals nach dem Tod Martin Gregor-Dellins von 1988 bis 1989. Von 1989 bis 1997 war er Präsident der Akademie der Künste zu Berlin; ihm gelang die problematische Vereinigung mit der Ostakademie.[20] Danach war er deren Ehrenpräsident. Von 1990 bis 1995 war er außerdem Vorsitzender der Martin-Niemöller-Stiftung.
In seinem letzten Roman Der Fall Judas behandelte Jens 1975 einen fiktiven Seligsprechungsprozess für Judas Ischariot in der Form einer forensischen Fallstudie: „Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfüllung des Heilsplans. Keine Kirche ohne diesen Mann; keine Überlieferung ohne den Überlieferer.“[21] Er übersetzte Teile des Neuen Testaments: die vier Evangelien, den Brief des Paulus an die Römer und die Offenbarung des Johannes.[22] Mit Hans Küng verband ihn eine langjährige Freundschaft, ebenso mit Ralph Giordano, den er bereits aus seiner Schulzeit in Hamburg kannte, sowie – mit Unterbrechungen – mit Marcel Reich-Ranicki. Jens war Mitglied der evangelischen Kirche.
Er engagierte sich ab Anfang der 1980er Jahre im Widerstand der Friedensbewegung gegen den NATO-Doppelbeschluss und die Stationierung von Pershing-Raketen. Mit Heinrich Böll und anderen bekannten Schriftstellern sowie Theologen beteiligte er sich Anfang September 1983 an der „Prominentenblockade“ vor dem Pershing-Depot in Mutlangen.[23] Während des Zweiten Golfkrieges versteckten seine Frau und er desertierte US-Soldaten in ihrem Haus.[24] Jens war Mitglied im Beirat der Humanistischen Union. Zwischen Januar 1989 und April 2011 war er Mitherausgeber der Monatszeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik.[25]
2003 sorgte die Angabe im Germanistenlexikon, Jens sei Mitglied der NSDAP gewesen, für einen Skandal. Denn zunächst bestritt Jens öffentlich die Mitgliedschaft. Der Spiegel berichtete am 6. Dezember 2003 von der Existenz zweier Mitgliedskarten aus der NSDAP-Kartei mit seinem Namen.[26] Daraufhin sagte Jens in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung „mit großer Gewissheit“, er sei nicht Mitglied der NSDAP gewesen, und er könne sich nicht erinnern, je einen Mitgliedsantrag gestellt zu haben. Es könne allenfalls sein, dass er unwissentlich die Unwahrheit gesagt habe.[5] In einem Gespräch mit seinem Sohn Tilman für das ZDF-Kulturmagazin aspekte am 12. Dezember 2003 räumte Jens eigene Fehler in seinem Verhältnis zum Nationalsozialismus ein. Mit Bezug auf eine Rede über „entartete Literatur“, die er als 19-jähriges Mitglied des NS-Studentenbundes 1942 in Hamburg gehalten hatte, bedauerte er, dass er nach dem Krieg die eigenen „Irrtümer nicht entschiedener, differenzierter und nachdrücklicher betont“ habe.[27][28]
In den 1980er Jahren litt Jens an einer Depression. Er wurde von Hans Heimann behandelt, dem Ordinarius für Psychiatrie in Tübingen. 15 Jahre später bekannte sich Jens in der ARD-Talkshow Boulevard Bio am 15. Mai 2001 öffentlich zu der Erkrankung.[29] Gemeinsam mit seiner Frau Inge gab er am 3. August 2001 der Fachzeitschrift Psychotherapie im Dialog ein Interview dazu.[30]
2004 wurde Jens’ Demenz-Erkrankung manifest.[31][32] Sein Sohn Tilman machte die Erkrankung im Feuilleton der FAZ publik[33] und löste damit eine Debatte in deutschsprachigen Medien aus.[34][35][36] In der Folge veröffentlichte Tilman Jens zum Thema die Bücher Demenz: Abschied von meinem Vater und Vatermord: Wider einen Generalverdacht.[37] Auch Jens’ Ehefrau Inge veröffentlichte die Erfahrungen mit ihrem demenzkranken Mann.[38] Walter Jens starb 90-jährig am 9. Juni 2013 in Tübingen.[28][39]
Jens wurde auf dem Stadtfriedhof Tübingen (Grab-Nr. O VIII 11/12)[40][41] in einem Ehrengrab bestattet. Fast daneben befindet sich das Grab von Hans Küng, der jahrzehntelang in Nachbarschaft zur Familie Jens wohnte.[42]
Am 3. Dezember 2022 wurde am Landestheater Tübingen Vom Wert des Leberkäsweckles – Eine Erkundung zu Demenz und Gesellschaft von Jörn Klare zur Uraufführung gebracht, die sich mit Jens’ Leben und seiner Demenzerkrankung beschäftigt.[43]
„Wäre es denn wirklich ein Gewinn …, ein Gewinn für den Menschen, wenn er unsterblich wäre, statt – wie bald! – zu vergehen und plötzlich dahinzumüssen? Wäre es ein Gewinn für ihn: nicht in der Zeit zu sein, sondern unvergänglich wie – vielleicht – ein Stein oder ein ferner Stern? Liegt nicht gerade in der Vergänglichkeit, und vor allem, im Wissen darum, seine ihn auszeichnende unvergleichliche Kraft?“
Walter Jens: Die alten Zeiten niemals zu verwinden. Rede aus Anlass des 50. Jahrestages der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933, gehalten am 8. Mai 1983 im Studio der Akademie der Künste Berlin zur Eröffnung des Ausstellungen „Das war ein Vorspiel nur …“ (= Akademie der Künste Berlin [Hrsg.]: Anmerkungen zur Zeit. Band 20). Akademie der Künste Berlin, Berlin 1983, ISBN 3-88331-927-9.
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